Serie Brennpunkte der Demokratie für Swissinfo nun komplett

In den letzten Monaten habe ich für Swissinfo eine mehrsprachige, multimediale Serie zur Demokratieentwicklung in der Schweiz geschrieben. Die Reihe ist heute mit der achten Folge zu Ende gegangen – gerade rechtzeitig auf das Global Forum on Modern Direct Democracy, der als viertägiger Kongress morgen in Luzern startet.

Im Hinterkopf hatte ich stets diese Skizze der Schweiz von einer Autokratie zur Demokratie, die den Weg aufzeigen soll. Wer den Ueberblick vorloren hat, kann die Texte und Videos hier nachschlagen. Die deutschsprachigen Texte führen auch zu den anderen Sprachen.

Teil 1: Aarau
Die Geburt der modernen Demokratie im Herzen Europas

Teil 2: Lugano
Das Tessin lehrt Europa die repräsentative Demokratie

Teil 3: Bern
Die Schweizer Verfassung – ein Kompromiss aus Demokratie und Föderalismus

Teil 4: Schaffhausen
Als die Schweizer Demokratie Weltspitze war

Teil 5: Olten
Wie ein Streik die Schweizer Demokratie umpflügte

Teil 6: Neuenburg
Wie Frau Schweizer den Bann der Schweizer Männer durchbrach

Teil 7: Genf
Wenn Ausgrenzung Demokratisierung anstösst

Teil 8: Luzern
Extra: Luzern, die heimliche Hauptstadt der Schweiz, die an sich selber scheiterte

Verfassungsvater Ueli Ochsenbein

Ochsentour nennt man einen politischen Aufstieg, der wegen vielen Widerständen von Widersacher:innen mühsam ist. Meine Ochsentour – eine Stadtwanderung – handelt von einem Quereinsteiger mit verwandtem Namen.


Bild Vordergrund: Viola Amherd, Hintergrund Barbora Neversil
Foto: Beatrice Simon

Ueli Ochsenbein stieg in nur 8 Jahren vom Gemeindepräsident im seeländischen Nidau zum ersten Berner Bundesrat in der 1848 neu geschaffenen Landesregierung auf. Davor war er Berner Regierungsrat und Regierungspräsident geworden. Er präsidierte die Tagsatzung und ihre Kommission, welche die erste Bundesverfassung ausarbeitete. Sie begründete die moderne Schweiz und schuf unter anderem das Zwei-Kammer-Parlament, die Hoheit des Bundes in der Außenpolitik und die Rechtsgleichheit in den Kantonen.
Der Bundesrat musste da,als Ende Legislaturperiode noch kollektiv zurücktreten. Wer wiedergewählt werden wollte, musste zuerst in den Nationalrat gewählt werden. Erst dann konnte er sich der Bundesversammlung stellen. Ochsenbein schaffte das bei zweiten Mal nicht mehr. Er war der erste arbeitslose Bundesrat. Hauptgrund war, dass er sich von den Radikalen, die ihn portiert hatten, losgesagt hatte, und im zerstrittenen Kanton Bern eine staatstragende Mitte-Partei ins Leben rufen wollte. Das haben dies ihrem früheren Kampfgefährten nicht verziehen. Sein Leben endete voller Tragik.
Gestern hatte ich die Freude, unter Führung der Berner alt-Regierungspräsidentin Beatrice Simon mit einer kecken Gruppe von Mitte-Frauen quer durch die Berner Altstadt wandern zu dürfen, um sie verwischten Spuren unseres Verfassungsvaters aufzuspüren.
Kurz zeigte sich auch Bundesrätin Amherd, die jetzige Departementschefin VBS. Ochsenbein war der erste Chef im Militärdepartement des Bundes.
Es war ein toller Abend!

12. September: von Ueli Ochsenbein zu Beatrice Simon.


Bild Berner Zeitung

12. September 1848: An diesem Tag wurde in der Schweizerischen Eidgenossenschaft die erste Bundesverfassung in Kraft gesetzt. 33 Jahre mit polarisierenden Verfassungskämpfen zwischen Konservativen, Radikalen und Liberalen fanden ihr vorläufiges Ende. Die Verfassung schaffte die Grundlage für eine repräsentative Demokratie mit der Volkswahl des Nationalrats und Kantonsdelegationen für den Ständerat. Gemeinsam wählten beide gleichberechtigten Parlamentskammern den Bundesrat.
Ueli Ochenbein, Anwalt aus Nidau, saß als Berner Regierungspräsident der Kommission der Tagsatzung vor, welche die Verfassung ausgearbeitet hatte. Er ist unser Verfassungsvater, und er verteidigte sie danach gegen den Widerstand aus der Berner Regierung, wo man gerne ein zentralistischeres Projekt gesehen hätte. Ein Nein aus Bern hätte die Staatsgründung zum Scheitern gebracht.
Ochsenbein wurde 1848 in den ersten Nationalrat gewählt, und er war auch der erste Berner Vertreter im neu geschaffenen Bundesrat. 6 Jahre später scheiterte er allerdings an seiner Widerwahl, denn er hatte sich von den Radikalen distanziert, und er war bestrebt, in Bern aus dem Zentrum heraus eine staatstragende Mitte-Partei zu lancieren.
Ich freue mich ausserordentlich, heute 174 Jahre nach dem historischen Moment mit alt Regierungpräsidentin Beatrice Simon und einigen ihrer Gefährtinnen aus ihrer Berner Regierungszeit auf den Spuren von Ochsenbein durch Bern wandern zu können.
Frau Simon hat in ihrer eben beendeten politischen Karriere gar zweimal die Partei gewechselt und ist heute in der Mitte-Partei Mitglied. Wie Ochsenbein kommt sie aus dem Seeland.

Stadtwanderer

Lobbying im Bundesstaat – Stadtwanderung für die Stiftung für direkte Demokratie


Das Lobbying gegenüber Entscheidungsträger:innen im Bundestaat hat in den letzten 30 Jahren stark zugenommen. Die Akteure haben sich diversifiziert. Ihr Verhandeln mit dem Staat ist dauerhafter geworden. Die Ansprache ist heute direkter. Die Oeffentlichkeit wird miteinnbezogen. Und die Pandemie hat einiges digitalisiert.
Ich konnte das alles seit 1995 als Dozent am VMI der Univ. Freiburg resp. an der Berner Fachhochschule hautnahe miterleben. Daraus ist eine meiner Berner Stadtwanderungen entstanden. Bereits teilgenommen haben die Schweizerische Public Affairs Gesellschaft, der Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Politischen Wissenschaften, verschiedene politische Parteien, einige Interessengruppen und mehrere Inlandredaktionen von Schweizer Medien.
Morgen führe die gründlich überarbeitete Wanderung 2022 erstmals durch. Zu Gast ist die Stiftung für direkte Demokratie.
Anbei die Wanderroute einmal quer durch das Berner Regierungsviertel samt den Stichworten, was wo zur Sprache kommt.
Ich freue mich auf den Anlass!

Stimmrechtsalter 16: ein Schritt zur Demokratisierung des Kantons Bern


The Making of: Mit Yannic Reber, Operateur der Video-Statements für das Stimmrechtsalter 16 im Kanton Bern, vor dem Zimmermania

Stimmrechtsalter 16: ein Schritt zur Demokratisierung des Kantons Bern
1846 führte der Kanton Bern die erste Verfassung ein, welche demokratischen Prinzipien genügte. Zwar hatte man seit 1831 ein liberales Grundgesetz. Aber es war nicht demokratisch, denn es beinhaltete keine Volkswahl des Parlaments. Das besorgten Wahlmänner.

Geburt der Demokratie im Kanton Bern

Die neue Verfassung war volksnäher. Neu wurde das Parlament vom Männervolk gewählt. Und das Wahlrechtsalter wurde gesenkt.
Die liberale Regierung hatte sich zuvor der Forderung der Radikalen widersetzt, einen Verfassungsrat einzuberufen. Sie willigte aber ein, eine Volksabstimmung dazu durchzuführen, die mit einer deutlichen Niederlage für die Regierung endete.
Der Verfassungsrat arbeitete die neue Verfassung aus. Auf deren Grundlage wurden die neuen Behörden gewählt. Die Radikalen bekamen in der Volksvertretung eine klare Mehrheit, und im Regierungsrat waren sie ganz unter sich.
Davor hiess liberal, Politik als Vorrecht zu verstehen. Radikal dagegen meinte, Viele in die Politik einzubeziehen!

Verjüngung der Politik 1846
Die Berner Regierung von 1846 wurde deutlich verjüngt. Die Mitglieder waren zwischen 54 und 26 Jahre alt.
Die radikalen Protagonisten Ueli Ochsenbein und Jakob Stämpfli wurden beide Regierungsräte. Sie waren sie auch die Benjamine im Gremium.
Beide sollten nach der Gründung des Bundesstaates Bundesräte für die Radikalen werden; heute werden sie der FDP zugerechnet.
Heftig politisiert wurde damals in Wirtshäusern. In der Stadt Bern war das Zimmermania das Zentrum der progressiven Studenten von Prof. Ludwig Snell. Er lehrte an der noch jungen Universität Bern Staatsrecht und war ein Vordenker des demokratischen Bundesstaats.
Im Zimmermania heckte man auch neue Ideen zur Demokratisierung des Kantons aus, die dann in den Verfassungsrat einflossen. Konservative argwöhnten, die neue Verfassung sei gar im Restaurant geschrieben worden und nicht mehr wert als ein paar Bierchen.
Nope, sagte das Volk. Es stimmte der Demokratisierung zu!

Das Zimmermania als Symbol
Ich habe den Ort in der Berner Brunngasse bewusst gewählt, um mein Statement für das Stimmrechtsalter 16 abzugeben, über das der Kanton Bern am 25. September abstimmt. Das Video folgt demnächst, nicht im Restaurant, aber online, um viral zu gehen.
Ich glaube nicht, dass ein Ja ein so grosser Einschnitt für den Kanton wäre, wie das 1846 der Fall war. Aber es wäre ein Schritt des Aufbruchs und der Stärkung der Demokratie.
Sicher, es werden bei Annahme nicht alle 16 und 17jährigen sofort abstimmen geben. Doch das machen auch die 30, 50 und 80jährigen nicht. Den jungen Menschen das Stimmrecht vorzuenthalten, schreckt sie ab, statt sie zu gewinnen. Ich finde, wer sich für die öffentliche Sache interessiert, sollte mitbestimmen können.
Die jungen Menschen können das genauso gut wie wir Aeltere!

Stadtwanderer

Schluss der Luzerner Stadtwanderung: das KKL

Teil 8 und Schluss der Luzerner Stadtwanderung

Das KKL

oder

Die schwierige Sache mit der Inklusion

Wir stehen vor dem KKL. Es ist Luzerns Symbol für das bisherige 21. Jahrhundert. Mit vollem Namen heisst es das „Kultur- und Kongresszentrums Luzern.“
Eröffnet wurde das KKL 1998 mit einem Konzert der Berliner Philharmoniker. Das war Programm. Man ist hier am Europaplatz 1, und man will mindestens auf europäischer Ebene ganz vorne mit dabei sein.
Architekt Jean Nouvel aus Frankreich hätte das KKL gerne direkt in den See gebaut. Doch die Stadt war dagegen. So entwickelte er das architektonisches Konzept der Inklusion: Das Dach des KKLs ragt in den See hinaus, der wiederum fließt in die Anlage vor dem Haus hinein. Ein Springbrunnen verbindet beides.

Lange genug Exklusionen
Unsere Wanderung hat gezeigt, wie oft gerade in Luzern die Exklusion vorherrschte. In der Ständegesellschaft mit dem Patriziat war das fast selbstredend. Doch auch die nachfolgende Bürgergesellschaft mit ihrer Politik ging vom einheimischen Mann aus, der lange genug Frauen, Junge, Fremde, Nicht-Christen von der Politik ausnehmen durfte.
Letztlich kann man erst seit der Gleichstellung der Geschlechter und der Nicht-Diskriminierung der Frauen von Inklusion in Gesellschaft und Politik sprechen. Das war in der Schweiz am 7. Februar 1971 der Fall, zwei Tage Tage nach dem Brand des Luzerner Bahnhofs!
66% der stimmenden Männer waren damals dafür. Die Schweiz war damit eines der letzten westeuropäischen Länder, das den Frauen die vollen Rechte als BürgerInnen gewährte.

Späte Inklusion der Frauen
1984 hatte die Schweiz erstmals eine Frau im Bundesrat. 1986 kandidierte die jüngste verstorbene Luzern Nationalrätin Judith Stamm aus Wut darüber, dass ihre Partei, die CVP, wieder keine Frau nominiert hatte, auf eigene Faust für den Bundesrat. Gewählt wurde sie nicht. Aber sie avancierte zur weit herum anerkannten „Frau für die Frauen“.
2009 waren die Frauen im Bundesrat erstmals in der Mehrheit. Nur für zwei Jahre. Doch in diese Zeit fällt der Ausstieg aus der Atomenergie. Vier Frauen sollen dafür, drei Männer dagegen gestimmt haben. Doris Leuthard, eine der vier Frauen im Bundesrat, meinte, Frauen würden mutiger entscheiden,
Luzern ging bei Frauenstimmrecht der Schweiz ein halbes Jahr voraus. Man war der 8. Kanton, der das Frauenstimmrecht einführte. Man hat den Vorsprung verloren. In der Regierung sitzen nur Männer.
Das könnte sich bald bei ändern. Drei Mitglieder treten zurück. Die Mitte, SP, Grünen und Grünliberalen sondieren vorzugsweise oder ausschliesslich bei Frauen. 2023 dürften 2 der 5 RegierungsrätInnen Frauen sein.

Der Wandel der politischen Kultur
Ein Luzerner Mann, der Exklusion selber erlebt hat, war der wohl berühmteste Künstler Luzerns. Hans Erni wurde 103jährig. Viele Jahre davon verbrachte er als Bildhauer und Maler in Luzern.
Immer wieder hat er sich mit Plakaten in die nationale und kantonale Politik eingemischt. So bei der Einführung der Altersrente. So beim Frauenstimmrecht, so beim UNO-Beitritt. Stets war er auf der progressiven Seite.
Noch im Zweiten Weltkrieg warb er für die Anerkennung der Sowjetunion. Deshalb wurde er als Kommunist verschrieben. Die durfte man ohne Scham ausgrenzen und boykottieren. Auch Erni!
Heute ist man auch in Luzern toleranter. Wenn es um sozio-ökonomische Fragen geht, vertritt der im Kanton bürgerliche Positionen, in sozio-kultureller Hinsicht ist man eingemittet. Die Stadt stimmt linker und moderner. Unter den 10 grössten Städten rangiert als bei der Progressivität gar an vierter Stelle, offen und divers wie eine Großstadt.
Bei eidgenössischen Abstimmungen ist der Kanton Luzern am häufigsten in der der Mehrheit. Die Mitte der Mitte quasi. In 93% aller 673 eidg. Abstimmungen war das so. Wohl auch am 25. September!
Aus dem autokratischen Stadtstaat, aus dem Kanton der Ultramontanen und aus dem Herz der konservativen Regierungspartei ist eine Kanton der schweizerischen Mitte geworden. Das Land ist bürgerlich, die Stadt steht links. Das gibt den Durchschnitt!

Kinderparlament für die Demokratie der Zukunft
Wie der Schweiz ist es Luzern gelungen, wichtige gesellschaftliche Gruppen zu integrieren: das städtischen Bürgertum, konservative Landbewohner, die nicht allzu zahlreiche Arbeiterschaft, aber auch neue Szenen, die sich rund um neuen Bildungsinstitutionen gebildet.
Die Stadt hat seit 1993 eines der wenigen Kinderparlamente in der Schweiz. Hillary Clinton hat es besucht, Aktuell fordert günstigere ÖV Preise für SchülerInnen. Und ausser der jungen SVP sammeln alle Jungparteien gemeinsam aktuell Unterschriften, um Stimmrecht 16 einzuführen.
Mit den sozialen Bewegungen ist auch in Luzern eine aktive Zivilgesellschaft entstanden. Dazu gehörte auch eine verwegene Gruppe von Armeeabschaffern am Ende des Kalten Krieges, die in Luzern beheimatet waren. Ihr erstes Ziel, eine Schweiz ohne Armee zu schaffen, haben sie nicht erreicht. Doch bildet ein namhafter Teil der Aktivisten von damals heute die Spitze des Global Forum on Modern Direct Democracy.
Die Vorbilder der Anti-Demokraten, die wir auf der Stadtwanderung kennen gelernt haben, werden wohl staunen, wie man in Luzern dem globale Megatrend trotzt, und wir DemokratInnen hoffentlich noch etwas lernen, wie wir es noch besser machen können!