die geschlossene gesellschaft und ihre feinde

wegen dem, was man sieht, kommt man nicht. mehr wegen dem, was es bedeutet. bericht vom besuch des klosters la valsainte.


foto: stadtwanderer

la valsainte liegt im freiburgischen. man erreicht es am einfachsten von bulle herkommend, wenn man der strasse über den jaunpass folgt. doch muss man rechtzeitig links abzweigen, und die strasse nach cerniat nicht zu verpassen. wenn man das kleine dorf passiert hat, geht es noch ein stück des weges mitten in die wildnis der natur.

in valsainte ist nicht viel los. es hält ein postauto. und es hat parkplätze für ein halbes dutzend, welche die berra besteigen wollen. der rest ist kloster. ein mächtiges gebäude, mitten in der hanglandschaft.

viel zeit braucht man für die letzten schritte nicht. denn den vorplatz mit einem brunnen und der muttergottes mit kind, nimmt man im nu, um vor dem verschlossenen kloster zu stehen.

für jedermann ist die kartause nicht zugänglich. an sonntagen sind alle türen verschlossen. an werktagen letzt auch. denn ohne zutrittsbereichtigung kommt man nicht hinein. nein, dicke mauern schützten die innen- von der aussenwelt. und sie sind so hoch, dass man von keiner stelle aus einen blick ins kloster werfen kann.

es ist, als bekomme man mitgeteilt, man wolle seine ruhe. man(n), das sind 12 patres und eine handvoll laienbrüder. sie bilden die letzte kartause auf schweizer boden, die nach strengen regeln funktioniert. arbeiten und beten ist der ganze lebensinhalt der kartäuser. die brüder sollen in ihren zellen streng für sich allein sein, selbst das essen nehmen sie nicht gemeinsam zu sich.

seit 1295 ist an besagter stelle ein kloster. zwischendurch war man savoyisch, dann greyerzerisch, schliesslich freiburgisch. 717 jahre wäre das kloster alt, wären da nicht die jahre 1778 bis 1861, als der bruderschaft valsaint mit päpstlichem segen aufgehoben war. nach den revolutionsjahren kamen streng katholischen trappisten, dann redemptoristen aus frankreich an den ort. indes, 1824 war auch damit fertig, und das kloster wurde, dem wandel der moderner gewordenen zeit folgend, ganz abgerissen. 1861 besann man sich um, und die religiöse gemeinschaft in der abgeschiedenheit entstand neu – wieder als kartause.

noch grösser als jetzt war es danach. denn zu beginn dieses jahrhunderts bewerkstelligte natur, der zweite feind der kartäuser, was kein zahn der zeit geschafft hatte. ein teil des klosters stürzte nach unwetter jäh den hang hinunter und das zerrissene gemäuer gewährte tiefe einblicke ins sonst so geschlossene klosterleben. 15 der 36 zellen mussten abgebrochen werden; sie wieder aufzubauen, wäre zu gefährlich gewesen. der bund und der kanton halfen dem orden, die baukosten zu tragen, um eine denkmal zu erhalten, das beinahe so alt ist wie die eidgenossenschaft, und nicht nur schräge in der berglandschaft steht, auch in der heutigen zeit.

was fast unberührt davon bleibt, sind die ruhe in der geschlossenen gesellschaft.

stadtwanderer

was eigentlich ist eine demokratie?

unterrichtstag für berner gemeindepolitiker. 4 stunden “politische theorie”. mit 24 teilnehmerInnen und mir als dozenten.

am morgen noch habe ich getwittert: “Was ist eine Demokratie?”. die erste antwort war die beste. sie kam von bruno hofer, einem kommunikationsberater. demokratie sei, antwortete er, wie ein floss. man risikiere dauernd nasse füsse, gehe aber nie unter …

in den schulräumen des berner bildungszentrums für wirtschaft und dienstleistungen, hart neben dem stade de suisse, ging es dann ernsthafter zur sache. die frage war die gleiche, die antworten gaben nun die 24 teilnehmerInnen, die allermeisten mitglieder ein einer gemeindeexekutive, die mit solchen kursen ein diplom als politikerInnen erwerben wollen. die antwortet sortierte ich via ehrwürdige schiefertafel. links kamen die formalen definitionen von demokratie, rechts die materiellen – wie man es in der demokratietheorie häufig macht.

unzweifelbar, formale definitionen beziehen sich auf demokratie als entscheidungsverfahren in (potenziellen) konfliktsituationen: das wählen, das abstimmen, die teilhabe der bürgerInnen. das zentrale stichwort hierzu hatten die teilnehmerInnen schnell. demokratie basiere auf mehrheitsentscheidungen. die haben den vorteil, flexibler zu sein als einstimmigkeit, die letztlich nur veto-spieler begünstige. ganz anders als beliebige entscheidungen lieferten sie ein eindeutiges kriterium zur qualifizierung von positionen, sodass keine andere als die bevorzugte position mehr zustimmung haben können. das prinzip der mehrheit als zentraler bestandteil der demokratie sei, führte ich aus, weitherum unbestritten – solange keine irrevesiblen entscheidungen gefällt würden, als so keine entscheidungen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten und damit die entscheidungsfreiheiten künftiger generationen beschneiden würden.

etwas schwieriger war es für die teilnehmenden, materielle demokratiedefinitionen zu geben. schnell kam aus der runde, dass zur demokratie der respekt vor minderheiten zählen. und zu rechten pflichten gehörten. auf mein wichtigstes stichwort musste eine weile warten: die menschenrechte, die grundrechte, die freiheit! denn, so die verbreitete these, moderne demokratien sind das produkt der frühen nationalen revolution in den usa und in frankreich, das sich schubweise immer weiter über den erdball ausbreitet. mit ihm wurden auch die menschenrechte als universeller katalog von rechten geboren, der nach dem zweiten weltkrieg von der uno weiterentwickelt wurde – und zur umfassendesten werk der faktischen voraussetzungen für demokratien geworden ist.

ein punkt war heute morgen erstaunlich: niemand sprach von sich aus die medien an. klar, als ich sie einführte, war umgehend von der “vierten gewalt” die rede. doch auf den zentralen sachverhalt, dass demokratie öffentlichkeit voraussetze, die mehr sei als nur der hof der könige mit ihren herolden auf den marktplätzen, kam spontan niemand. warum meinungspluralismus in und durch medien als demokratie-voraussetzung bei gemeindepolitikerInnen so wenig verinnerlich ist, kann man nur spekulieren. reichen, wie man so schön sagt, die begegnungsöffentlichkeiten (auf dorfplätzen, in wirtschaften, aber auch in unternehmen) in der überzahl der berner (klein)gemeinden oder werden sie, mehr als man denkt, durch die versammlungsöffentlichkeiten (der vereine, parteien, aber auch der gemeindeversammlungen) geprägt, wo man ohne anzeiger, tagespresse, radio, tv und internet auskommt? oder wagte es niemand, die dominante stellung der berner zeitung in den berner landen anzusprechen?

mein schluss war ein plädoyer für demokratie, auch für die schweizerische, mit der sich die direkte demokratie weltweit einzigartig weiterentwickelt hat. ich zitierte neuartige instrumente wie den demokratie-index, dank wie exemplarisch staaten hinsichtlich ihrer demokratie-qualität vergleichen können. die schweiz rangiere normalerweise in der spitzengruppen, wenn auch nie ganz top. da sei in der regel norwegen, sagte ich auf die frage eine teilnehmers, denn schweiz schneide bei der politischen teilhabe nicht ohne kritiken ab. nicht zu letzt, wegen der stimm- und wahlbereiligung, resp. dem fehlen einer aktiven partizipationskultur – vor allem für junge bürgerInnen – den künftigen trägerInnen der demokratie.

immerhin, wirklich untergehen sah von meinen teilnehmerInnen das floss niemand, auch wenn man selber schon mal den einen oder andern nassen schuh aus dem strom des geschehens herausgezogen hat.

stadtwanderer

rudolf braun, pionier der schweizer sozialgeschichtsschreibung, ist tot.

“schauen sie nicht nur auf die parolen auf den transparenten, nein, schauen sie auf die kleidung der arbeiter, und den stolz mit dem sie ihre taschenuhr im gilet zeigen um zu sagen: auch wir sind wer!”, war einer der typischen sätze von rudolf braun in einem kolloquium zur arbeitergeschichte der schweiz, das ich in den 70er Jahren des 20. Jahrhundert besuchte.

nun ist der renommierte schweizer historiker tot. er ruhe in frieden.

seine vorlesungen an der universität zürich waren alles andere ruhig. trotz schwierigkeiten beim sprechen zog braun wöchentlich hunderte von studierenden in seinen bann. behandelt wurde wie nie zuvor die sozialgeschichte des landes. denn braun war zweifelfrei ein grossartiger pionier des jungen fachs.

der basler volkskundler wurde an der berner uni in geschichte habilitiert, lehrte in zürich, berlin und und palo alto. selbst die universität harvard zeichnete ihn für seine forschungsarbeiten aus, bevor er zürich ordinarius für sozialgeschichte wurde.

unvergessen bleibt mir die vorlesung, in der er zum staunen vieler talcott parson, den führenden kopf des ahistorischen struktur-funktionalismus, zitierte, um die charakteristiken des übergangs von der ständischen zur industriellen gesellschaft an der schwelle des 19. jahrhunderts absolut gewinnbringend herauszuarbeiten. seither ist mir unwiderruflich klar, was der unterschied ist zwischen societäten, die auf zuschreibung basieren, und solchen, in denen man durch erwerb weiterkommt.

meine seminararbeit bei rudolf braun sollte die entstehung des 1. mai in der schweiz behandeln. verweisen hat er mich der dozent gemäss seiner vorliebe für den ländlichen raum nach davos. dort sollte ich studieren, wie es zum übergang kam.
“übergang?”, fragte ich ihn erstaunt.
“ja”, antwortete der meister, um meine neugier zu wecken.
so machte ich mich auf in die archive, um zu entdecken, dass man am 1. mai in tourismusort traditionellerweise die stelle wechselte, sich vor den hotels präsentierte, um nach arbeit zu fragen, woraus in der bündnerischen ortschaft schritt für schritt das arbeiterfest mit internationalem anstrich entstand.

letztmals gesehen habe ich rudolf braun bei der beerdigung von erich gruner in der berner nydegg-kirche. nun entnehme ich den todesanzeigen in der heutigen nzz, dass auch er von uns gegangen ist.

nicht ohne bleibenden eindruck hinterlassen zu haben.

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stadtwandern mit berner regierung

im spätherbst werde ich mit der versammelten berner kantonsregierung stadtwandern. sofern …

andreas rickenbacher, berns volkswirtschaftsdirektor, war einst mein erster fester mitarbeiter beim gfs.bern. später stieg er in die politik ein, wurde rasch sp-fraktionspräsident im grossen rat (parlament), und seit 2006 ist er teil der berner regierung.

als ich meine stadtwanderungen entwickelte, gehörte er zu meinen frühen “versuchskaninchen” und begleitete mich bei meinen ersten historischen gehversuchen durch berns kapitale.

nun wird andreas rickenbacher, wenn alles gut geht, diesen sommer zu berns regierungspräsident gewählt. da gehört es sich, dass die anschliessende regierungsklausur in der wohnregion des geehrten stattfindet. in diesem falle im seeland.

andreas hat sich an unsere gemeinsame zeit zurückerinnert, und mich eingeladen, für den fall der fälle über eine geeignete “stadtwanderung” mit seinen regierungskollegInnen nachzudenken.

mache das gerne, und sehe, falls es soweit kommen sollte, drei stichworte vor, die ich der berner regierung auf den weg mitgeben möchte:

erstens, das eigenleben des grossraumes biel/bienne, der lange nicht zu bern gehörte und bis heute ein urbanes gegengewicht zur kantonshauptstadt ist,
zweitens, der plurikulturelle raum, durch dessen mitte seit der völkerwanderung die sprachgrenzen geht, an der die stadt biel/bienne ein löblich brückenfunktion wahrnimmt,
und drittens die geopolitische lage des raumes, der seit menschengedenken verkehrspolitisch wichtig ist, spätestens seit dem hochmittelalter durch konkurrierende verkehrswege geprägt wird. bis in die heutige zeit …

so sollen, im erwartbaren falle, unsere regierungsmitglieder, meist mit dem tagesgeschäft beschäftigt, in die grösseren zusammenhänge der raumzeit-geschichte eingeführt werden.

detailplanung im sommer …

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wo george gallup seinen lebensabend verbrachte

es war, als läge die ruhe selbst über dem dorf. denn das präsentierte sich, wie wenn alles und jedes von der innerlichkeit leben würde, welche die gegend seit 5 jahrhunderten prägt. – bis die örtliche musikgruppe, die sich in der kirche versammelt hatte, zur grossen probe aufspielte. die eingangstüre war sperrangelweit offen, sodass der sound der zahlreichen bläser und geiger unüberhörbar in die gegend drang.

1. mai 2012 in sigriswil: was für ein erlebnis!

sicher, sozialistisches war in der svp-burg am rechten ufer des thunersees nicht zu finden. das überlässt man ganz den städtern, in paris oder zürich. hier ist man heimatverbunden, diszipliniert und kraftvoll.

in sigriswil gibt es dafür burgund(t)ergründe. denn vor tausend jahren war man an den gestaden des thunersees teil des königkreichs (hoch)burgund, dessen zentrum das kloster st. maurice im heutigen wallis lag. die lebensweise der mittelalterlichen burgunder war imperial – römisch geprägt, in der katholischen form der damaligen zeit. der 1. mai war der gedenktag von könig sigismus, der im 6. jahrhundert das hauskloster der burgunderkönige durch schenkungen zum führenden kleinod in den alpen gemacht hatte.

seither haben sich nicht nur die zeiten geändert. von der burgunderkirche in sigriswil ist nur der platz übrig geblieben. die herrschaft wechselte im 11. jahrhundert. das rechte aareufer, und damit auch sigriswil, kam zum herzogtum schwaben, wo sich das südschwäbische haus kyburg immer mehr ausdehnte und die alemannische mentalität aufleben liess. 1347 erhielt man die unabhängigkeit vom adel verbrieft, wie das gemeindegewölbe, ein kleines gedenkhaus mitten in sigriswil, bis heute bezeugt. der freiheitsbrief von damals ist programm geblieben: für die eigene sache einstehen und sich von niemanden einnehmen lassen, ist das motto lebensmotto der sigriswiler.

das siegel der kyburger ist erhalten geblieben, nicht aber das von thun und bern. das ist fast schon symbolisch, denn faktisch ist man mit dem auftrebenden aaretransithandel im spätmittelalter mindestens administrativ in den einflussbereich der beiden nahegelegenen zentren geraten. die reformation hat man entsprechend mitgemacht, das strenge stadtleben gegen das freie vom land eingetauscht. im 17. jahrhundert hat man dafür den stolzen landmann, den bauern, den gewerbler und später auch der touristiker als gegenfigur wieder aufleben lassen. so ist sigriswil bis heute ein zentrum der schweiz, die auf sich bezogen und abgegrenzt von allem urbanen lebt. karl howald, der legendäre pfarrer im 19. jahrhundert – ein hervorragender kenner der berner brunnen, aber auch ein propagandist der konservativen lebensweise – wirkte nicht zufällig in der kirche von sigriswil.

die wikipedia erwähnt howald als einen den berühmten männer aus dem dorf. adrian amstutz, der jetzige fraktionschef der svp unter der bundeskuppel, der vehement gegen die personenfreizügigkeit kämpft, gehört auch dazu. seine politkarriere begann, kurz nach der denkbwürdigen ewr-entscheidung, mitten in sigriswiler baugewerbe.

nicht zu den grossen sigriswilern zählt selbst die ubiquitär ausgerichtete wikipedia george gallup. obwohl der erfinder der opinion polls vor amerikanischen präsidentschaftswahlen (und damit ein weiter “vorfahre” von mir …) in sigriswil seinen lebensabend verbracht hatte. genug vom lob für seine legendäre prognose von 1936, aber auch für die kritik wegen seiner fehlentschätzung 1948 hatte er sich der demoskopie-professor nach seiner pensionierung in die schweiz zurückgezogen. seine ruhe fand er im tschingel, einem flecken, der zu sigriswil gehört. da studierte der neugierige, wie direkte demokratie funktioniert, die lokale politik stärkt, aber auch die abgrenzung fördert.

gallup verstarb am 26. juli 1984 er in seinem sigriswiller wohnhaus. die geschichte zwischen ihm und seinen mitbewohner sollte ein unglückliches ende nehmen. dem kauzigen amerikaner, der die stichprobenbildung in die bevölkerungsbefragungen einführt und sich so in den globalen olymp der sozialwissenschaften befördert hatte, verweigerte man nach seinem tod das grab auf dem friedhof vor der ehrwürdigen kirche in sigriswil.

einheimische und fremde sind hier zwei getrennte gruppen, dachte ich mir, als ich meinen morgenspaziergang im dorf machte. immerhin, das eine oder andere weicht sich auf! den gast in der tourismusgemeinde hat das hotel bären zuvorkommend bewirtet. und im gemeindegewölbe wird am samstag eine ausstellung eröffnet, die sich der auswanderung der sigriswiler annimmt – ausgerechent in die usa …

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