der geschichte wiederkehrender ausweisungen ein ende setzen

bern und die juden ist kein einfaches thema. eine anschrift am bundeshaus ost macht auf die vier vertreibungen im mittelalter aufmerksam, welche erst die franzosen in der neuesten zeit rückgängig machten und so die voraussetzungen für die heutige jüdische gemeinde in bern schafften.

topelement15rote mauer: stadtmauer der savoyer von 1256, blau: jüdischer friedhof im 13. jahrhundert, rote kirche: insel-kapelle der domini-kanerinnen, im 14. jahrhundert erbaut

nach ihrer ausweisung aus jerusalem waren die juden vorwiegend im mittelmeerraum ansässig. von da aus kamen sie mit den savoyer grafen 1254 nach bern. wie sie lebten weiss man nicht, nur dass sie einen friedhof auf dem areal hatten, auf dem heute das bundeshaus ost steht, ist archäologisch nachgewiesen.

im mittelalter vier mal vertrieben

1294 – bern unterstand wieder dem deutschen könig – kam es zur ersten ausweisung der jüdischen bevölkerung aus bern. anlass war der vorwurf eines rituellen knabenmordes. mit der vertreibung verbanden die berner aber auch andere interessen. die kriegskosten, die ihnen der deutsche könig nach der eroberung auferlegt hatte, beglichen die berner mit jüdischem geld. mit deren vertreibung wurden ihre schuldscheine wertlos.

der mechanismus sollte sich im 14. und 15. jahrhundert wiederholen. emil dreifuss, der die geschichte der juden in bern nachgezeichnet hat, nennt drei wellen von wiederkehr und ausweisung der juden: 1349 war die jüdischen glaubensgemeinschaft am ausbrechen der grossen pest schuld, und wurde sie vertrieben. dennoch holte man die juden 1370 in die stadt zurück, nicht zuletzt, weil sie als ärzte wirken sollte. 1405 legte man ihr den verheerenden stadtbrand, der in einer nacht einen drittel der stadt zerstört hatte, nahe, und verjagten die bern die juden erneut. 1427 kommt es zu vorerst definitiven ausweisung der spärlich zurückgekehrten bevölkerung jüdischen glaubens. vorangegangen war der papstbesuch von martin v., der den christen uneingeschränkt erlaubte, zins für geldleihe zu nehmen, womit die notwendigkeit, jüdische geldhändler in der stadt zu haben, deutlich zurückging.

rückkehr in der helvetik, anerkennung erst unter französischem druck
die vierte ausweisung sollte am längsten dauern. das änderten die franzosen 1798, als sie das ancien régime stürzten, die ideen der französischen revolution an die aare brachten, und die religiösen trennmauern einrissen. unter ihrer herrschaft wanderten vor allem elsässische juden in bern ein, ohne jedoch ein bethaus und einen friedhof zugestanden zu erhalten.

1848 gründeten die elsässischen juden in bern die jüdische gemeinde. 8 jahre später weihten sie die synagoge an der heutigen genfergasse ein. 1871 kam ein eigener freidhof hinzu. 1866 wurden die juden in der schweiz auf druck von frankreich per verfassungsänderung schweizer bürgern fast, 8 später ganz gleichgestellt. die heutige synagoge an der kaellenstrasse wurde 1906 eingeweiht.

informationstafel an bedeutsamer stelle
heute würde niemand mehr an die ausweisung der juden aus bern denken. françois loeb, der jüdische warenhändler, hat eines der führenden kaufhäuser in bern eröffnet. doch mit der gemeinsamen geschichte vor ort tut man sich unverändert schwer. einen schritt dagegen unternahmen gestern die stadt bern und die jüdische gemeinde mit einer tafel, welche die leidvolle geschichte der berner juden im mittelalter zusammenfasst.

aufgehängt wurde sie am westflügel des bundeshauses ost. denn da, wo später die dominikanerinnen ihre kapelle für die kranken hatten und heute doris leuthard die rahmenbedingungen für volkswirtschaft der schweiz erlässt, lag der erste jüdische friedhof in bern.

stadtwanderer

abgrundtiefes misstrauen über den tod hinaus

meine erste tätigkeit in der stadt besteht häufig aus zeitungslesen in einer der quartierüblichen kaffeecken. doch heute blieb mir dabei das gipfeli fast im hals stecken.

inserattages-anzeiger vom 30. september 2009

herbert karch, der sekretär der kleinbauernvereinigung, der wie ich häufig im cafe glatz am hirschengraben seinen kaffee nimmt, wechselt den tisch und streckt mir eine zeitung hin. “was soll das?”, denk ich mir, denn es ist die seite mit den todesanzeigen.

ja, was soll das! ein jux? ein manifest? oder was auch immer …

fakt ist, dass ein pedro justitz, auslandschweizer, auf bali wohnend, als erstgeborener sohn eine todesanzeige für seinen verstorbenen vater heinz (yehuda) justitz platziert hat. fakt ist auch, dass es ein facharzt mit entsprechendem namen, wohnort und jahrgang gelebt hat, und gemäss schweizerischer ärztezeitung dieses jahr auch verstorben ist.

umso merkwürdiger mutet es an, dass fünf monate nach dem tod der person zur keiner guten erinnerung aufgerufen, sondern zum 100. geburtstag des verblichenen ein frontalangriff auf den bundesrat lanciert wird, dem, als “bundes-bern-lobby” apostrophiert, gravierende führungsschwäche vorgeworfen wird.

und so bleibt mir, als ich das cafe glatz verlassen, um mich den geschäftigen dingen des tages zuzuwenden, nur die frage, was passiert sein muss, dass man ein solch persönlich-politisches pamphlet auf der seite der todesanzeigen veröffentlicht? und auch, ob eine solche geschmacklosigkeit in einer zeitung wie dem tages-anzeiger an besagter stelle überhaupt erscheinen darf?

stadtwanderer

gipfeltreffen der stadtwanderer

eine einladung besonderer art …

stadtwandererLiebe Stadtwanderer

“Am kommenden Freitag um 14 Uhr, Christina” – bis kurz vorhin dachte ich
über Jahre, dass dies ein Teil des Textes eines Liedes von Reinhard Mey sei.
Das Internet half mir weiter. Original heisst der Textausschnitt so:
“Ankomme Freitag den 13. um 14:00 Uhr Christine”.
Was mir besser im Ohr haften geblieben ist, ist die Melodie sowie der
Refraintext La-la-la-la-la-la-la-la… !
Auf unser Treffen abgeändert könnte der Text neu lauten:
AM KOMMENDEN FREITAG UM 17:30 BEI TINA. – Ich freue mich drauf!”

der verfasser der netten einladung ist urs bosshard, in zürich als stadtwanderer unterwegs. in seinem ersten leben begegnete er keinem weiteren vertreter dieser specie – im zweiten schon. denn auf dem internet tummeln sich zwischenzeitlich verschiedene stadtwanderer.

zwei davon hat urs bosshard vor längerem zu einem gipfeltreffen der stadtwanderer eingeladen: zum einen benedikt loderer, der architekturkritiker, zum anderen claude longchamp, den geschichtenerzähler.

ich werde vom gipfeltreffen der stadtwanderer berichten!

stadtwanderer

unser schwarzenegger

in schwarzenegg ist es ruhig. die berge rings herum sind sanft. ein echo erwartet man da vergebens. und der zulgbach liegt zu weit unten im tal, sodass man sein plätschern ins aaretal nicht hört. wäre da nicht das postauto, das einmal die stunde auf dem plateau hält, würde man sich ganz im abseits wähnen.

p9261485p9261499p9261492
schwarzenegg heute, mit dem bären, wo vater ochsenbein wirt war, und dem bauernhaus, wo ulrich aufwuchs, bevor er in bern als begründer der modernen schweiz geschichte schreiben sollte (fotos: stadtwanderer)

das leben von ulrich ochsenbein

trotzdem ist man eigentlich mitten in der schweiz. denn das stattlichste bauernhaus am kirchplatz auf dem höchsten hügel von schwarzenegg trägt das schild, das mich ins berner oberland gelockt hat. es markiert das geburtshaus von ulrich ochsenbein, “dem tagsatzungspräsident, dem divisionär im sonderbundskrieg und dem ersten berner bundesrat”.

die liste der titel hätte man fast beliebig verlängern können, denn ochsenbein (1811-1890) war auch berner regierungsrat und vorsitzender verfassungskommssion, welche die erste bundesverfassung ausarbeitete. er wurde auch zum ersten nationalratspräsidenten der schweizerischen eidgenossenschaft gewählt, und er setzte durch, dass bern und nicht zürich bundesstadt wurde. in jedem anderen land ginge das glatt als staatsgründer durch.

der kleine ulrich wuchs die ersten sieben jahre seines lebens in schwarzenegg auf. sein vater war wirt im bären, wo man auch pferde wechselte, wenn man von reformierten thun ins katholische luzern wollte. das ferne ziel der reisen scheint den jungen ochsenbein geprägt zu haben. denn der spätere fürsprecher machte in der regenerationszeit militärische und politische karriere und avancierte zum radikalsten scharfmacher gegen die jesuiten an der reusstadt.

dass der kämpfer ochsenbein höchst persönlich die freischärler nach luzern führte, warf man ihm vor, als er statt henri dufour general im sonderbundeskrieg werden wollte. immerhin, als mitglied der folgenreichen ersten bundesratsequipe übernahm er das militärdepartement, führte 1849 die allgemeine wehrpflicht für junge schweizer ein und gab damit dem militärwesen in der schweiz seinen schliff.

doch im jungen staate schweiz begann, sollte bald ein jähes ende finden. 1854 geriet er in der eigenen partei zwischen die fronten, wurde als nationalrat nicht wiedergewählt, sodass er als erster bundesrat überhaupt bei der wiederfall durchfiel. enttäuscht schloss sich ochsenbein kaiser napoléon III. an. der machte ihn zunächst zum brigadegeneral über die fremdenlegion, und im deutsch-französischen krieg von 1870/71 wurde ochsenbein gar divisionär und platzhalter in bourg-en-bresse und lons-le-saunier. mit dem vermögen, das er so machte, liess er sich in der folge als gutsherr im seeland nieder. erneut versuchte er, in die politik einzusteigen, nun auf seiter der bernischen konservativen, was ihm aber misslang.

die biografie zu ulrich ochsenbein

die erste umfassende biografie über ulrich ochsenbein hat der journalist rolf holenstein vor wenigen tagen vorgelegt. 374 briefe, die im nachlass lagen und von keinem historiker beachtet wurden, dienten ihm als neue bewertungsgrundlage. denn anders als es der volksmund will, zeichnet holenstein weder ein heldenportrait, noch beteiligt er sich am bashing, das über ochsenbein noch zu lebzeiten hereingebrochen war.

denn bei seinem versuch, politisch wieder fuss zu fassen, durchlitt der vormalige volksheld eine eigentliche rufmordkampagne. zu allem übel kam hinzu, dass er seine frau emily mit dem eigenen gewehr erschoss, was ihm den rest an ehre kostete. ochsenbein – diese mischung aus tatkräftigem staatsmann und rücksichtlosem terminator – fiel danach das grosse schwarze loch des historischen vergessens.

wer einen schönen herbsttag geniessen will, dem kann ich nur empfehlen, in thun das postauto in die voralpen zu nehmen, um auf dem kirchplatz unter einem baum aus früheren zeiten angesichts des geburtshauses unseres schwarzeneggers das spannende buch von holenstein zu lesen und sich zu fragen, ob die rehabilitierung des erfinders der modernen schweiz gelingen wird oder nicht.

stadtwanderer

brenodurum – das ur-bern

wer in bern von der alt-stadt spricht, glaubt zu wissen, wovon er oder sie zu reden hat. von der mittelalterlichen stadtanlage in der aareschlaufe, welche auf die herzöge von zähringen zurückgeht. doch das ist bei weitem nicht der ursprung der stadt bern.

250px-brenodor die engehalbinsel nördlich der berner altstadt ist der ort des ur-bern, im volksmund “brenodor” genannt

in berns altstadt haben nur die strassenzüge haben mittelalterlichen ursprung. die meisten häuser entstanden zwischen dem 16. und 18. jahrhundert. ihr heutiges gepräge bekam die altstadt also nicht im mittelalter, sondern in der frühen neuzeit.

doch damit nicht genug. denn die altstadt von bern ist nicht die ur-stadt von bern. die ältesten gebäude der stadt bern befinden sich in der engehalbinsel, wo die antike stadt bern lag.

ihren namen kennt man seit dem 1984. “brenodurum” nannten die römer das erste urbane-bern, das sie im 1. bis 3. jahrhundert bevölkerten. noch älter ist übrigens eine keltische siedlung, die man im bereich der heutigen tiefenau lokalisiert hat. dort gab es ein einfaches oppidum aus holz, einem vorläufertyp der römischen stadt. diese entstand dann mit noch heute sichtbarem bad, theater und tempelresten im engefeld.

ein geschichtsbewusstsein für das antike bern, das mit dem vergleichbar wäre, das die berner von ihrer “mittelalterlichen altstadt” entwickelt haben, gibt es, obwohl die römer in unserer gegend wohl die ersten waren, die geschichten nicht nur erzählen, sondern auch aufschreiben und so zur historie formen konnten.

der mangel an siedlungskontinuität dürfte der hauptgrund hierfür sein, dass sich das heute geschichtsbewusstsein um bern wohl erst im 14. jahrhundert in der zähringerstadt entwickelt hat, deren bewohner glauben, als erste an diesem ort gewesen zu sein. denn nichts ist gesichert, dass es in bern dauerhaft eine städtischen siedlung gab, seit die römer hier waren.

es sei schade, dass man sich dem ursprung von bern als urbanes gebiet so wenig annimmt, beklagt jüngst auch werner stöckli, direktor des instituts für ur- und frühgeschichte an der universität bern bei einer führung auf der engehalbinsel. die renaissance muss hier erst noch stattfinden, füge ich dem bei …

stadtwanderer

stadtarchäologie – von den anfängen bis heute

archäologie ist keine schatzsuche mehr, sondern ein fester bestandteil der stadtgeschichte. sie gerate bisweilen mit den heutigen interessen in konflikt. das sagte stadtarchäologe armand bäriswyl gestern abend von dem mittelalterverein thun, wo er über die lokale siedlungsentwicklung sprach.

p9231465
kantonsarchäologe armand bäriswyl und franz schori, präsident des mittelaltervereins, diskutieren mit dem interessierten die frühe stadtentwicklung von thun (foto: stadtwanderer)

aus quellen, die um 660 nach christus geschrieben wurden, weiss man von einer frühen siedlung am übergang des thunersees zur aare. der name thun mutet bis heute keltisch an (“dunum”), und der aufgefundene tempel in thun-allmendingen verweist darauf, dass zu römerzeiten im gebiet von thun ein siedlungszentrum gewesen sein muss.

wo die ältesten spuren der stadt thun zu finden sind, weiss indessen auch der beste stadtarchäologe des kantons bern, armand bäriswyl, nicht. er kennt aber das nachweislich älteste gebäude bisher – ein vorläuferbau der heutigen kirche, den er ins 10. jahrhundert zurückdatiert. aufgrund seiner erfahrung, dürfte die erste siedlung vom kirchberg bis zur aare hinunter gereicht haben.

die herzöge von zähringen bauten um 1200 herum den donjon des heutigen schlosses. “eine pracht, nicht unbedingt geeignet für einen hoftag, für eine heirat aber schon”, entlockt der selten schöne und gut erhaltene bau dem stadtarchäologen spontan. den bezirk zwischen kirche und schloss sieht er in dieser frühen zeit durch adlige aus der gegend und durch beamter des herzogs bewohnt. derweil lebten die normalen menschen weiter unten, nahe an der aare.

mit der ersten stadtweiterung im 13. jahrhundert bauten die kyburger thun entlang der ausfallstrassen bis an die heute noch sichtbare stadtmauer hinaus. mit der zweiten kyburgischen stadterweiterung entstand das quartier des heutigen bälliz. dort, wo heute ein zweiter aarearm die insel begrenzt soll im 13. jahrhundert die stadtmauer gewesen sein. im innern hatte der stadtzeil zwei häuserzeilen, unterbrochen von einem langezogenen marktplatz.

doch dann war schluss mit dem ausbau. zwischen 1400 und 1800 wurde das stadtareal kaum mehr erweitert. zwischen 1350 und 1450 sind innerhalb der stadtmauern wüstungen entstanden”, sagte bäriswyl. als ursache hierfür nennt er die pest. mit dem grossen sterben ging die bevölkerungszahl zurück und niemand mehr wollte an die stätten des schwarzen todes ziehen. die leeren häuser seien abgerissen worden, um keine abgaben mehr leisten zu müssen. die stadtgärten des 19. jahrhunderts sind für den stadtarchäologen keine inseln der unberühten natur, sondern der restposten der innern wüstungen aus dem spätmittelalter.

“archäologInnen”, sagte armand bäriswyl treffend, baggere so grob wie möglich, und sei so fein wie nötig, um sich aus den botschaften des bodens ein bild der vergangenheit zu machen. und er verschwieg nicht, dass er auch gerne im schlossberg baggern würde. “aber bitte nicht so, wie man das für das vorgesehen parking machen wolle”. da traf sich der fachmann mit dem präsidenten des einladenden vereins. “schauen wir mal, was der gemeinderat mit dem schloss und schlossberg macht”, beendete franz schori den vortrag. je nach dem, sei dann ein aufstand gegen die obrigkeit nötig, fügte er bei.

da sage da noch einer, archäologie sei, mit der zahnbürste scherben aufstöbern. nein, zeitgenössische archäologie ist ein teil der stadtgeschichte, die bis in die gegenwart reicht!

stadtwanderer

das burgdorf der neuen stadtpräsidentin

elisabeth zäch ist seit diesem die erste stadtpräsidentin im kanton bern. dem stadtwanderer erzählt sie ihre ersten erfahrungen mit der neuen amt, während sie ihm “ihr burgdorf” zeigt.

p9161183fotos: stadtwanderer

grosser bahnhof in burgdorf. elisabeth zäch, seit diesem jahr stadtpräsidentin, holt, begleitet von ihrem partner, den stadtwanderer, umgeben von seiner partnerin, persönlich ab. und fakelt mit dem rundgang durch ihr burgdorf nicht lange. denn gleich neben der sbb-station steht eines ihrer lieblingsprojekte. mit arbeitslosen hat die stadt hier einen hauslieferdienst eingerichtet. gehst du in burgdorf ohne auto einkaufen, kannst du dir die ware innert zweier stunden ins haus liefern lassen, preist die stadtpräsidentin den gut funktionierenden service an – und verweist nicht ohne stolz darauf, dass viele andere orte dieses burgdorfer-prinzip besichtigen kommen.

eigentlich hat man das stadtmarketing der sozialdemokratin an der spitze der kleinmetropole am ausgang des emmental genau so etwas erwartet. doch die frühere journalistin beim radio lässt sich nicht auf sozialhilfe reduzieren. die stadtentwicklung ist ihr ebenso wichtig. und so schreitet sie schnellen schrittes in die oberen etagen der burgdorfer siedlungsanlage. dabei kommt so manches zur sprache. selbst in der unterstadt würden die geschäfte durch die umliegenden einkaufszentren konkurrenziert. und in der oberstadt müsse man die ausbildungsstätten für die kommenden generationen fördern. allen konzentrationsbestrebungen zum trotz steht die stadtpräsidentin deshalb für ihre stadt als standort der fachhochschule ein. und das gymnasium, das aus allen nähten platzt, will sie erweitern.

p9161195beim alpenzeiger erklärt elisabeth zäch, dass die stadt auch im nächsten jahr schmal durch müsse. nicht einmal ein neues schild als erklärung zum tollen ausblick auf die berner alpen könne sie mit dem nächsten budget beantragen. deshalb ist die stadtpräsidentin überzeugt: burgdorf muss wachsen. die talsohle bei der bevölkerungszahl ist bereits durchschritten. die nähe zu bern, die ruhigen wohnlagen und die kurzen entscheidungswege für leute, die aktiv werden wollen, zählt sie zu den standortvorteilen.

auf unserer wanderung durch die oberstadt merkt man, dass elisabeth zäch, dem dialekt nach alles andere als eine emmentalerin, hier zu hause ist. denn in der oberstadt hatte sie ihre legendäre buchhandlung; hier veranstaltete sie als programmschefin alle zwei jahre die berühmt-berüchtigten krimitage. und für diesen stadtteil politisiert sie mit vorliebe. einiges davon hat sich nach der kampfwahl ums stadtpräsidium gegen den bürgerlichen kandidaten geändert. “ich lese immer noch viele bücher”, sagt sie, “aber nicht mehr während der arbeitszeit. und mein amt bei den krimitagen muss ich wohl abgeben.” getroffen hat sie, als sie merkte, wie man ihr, kaum war sie im neuen amt, mit zunehmender distanz begegnete. “allen ernstes wollte man mir am bahnhof jetzt keine zweitklassabonnemente mehr verkaufen”, erinnert sie sich.

p9161209über die krise, die das alles ausgelöst hat, ist sie zwischenzeitlich hinweg. überall auf unserem rundgang wird sie freundlich gegrüsst, und überall grüsst sie genau so zurück – und führt uns voller innerer freude zu ihren burgdorfer überraschungen: beispielsweise zur neuen ausstellung im franz geertsch museum mit den “vier jahreszeiten” – dem spätwerk des einheimischen künstlers von weltrang. um uns anzuzeigen, dass ein weitere bedeutsamer berner kulturschaffender der gegenwart keine 200 meter entfernt in burgdorf ein museum hat.

wie bitte? in der tat, im alten schlachthaus, vormals ein kloster, zog bernhard luginbühl aus dem nachbarten mötschwil mit einigen seiner skulpturen ein. ein privater verein hat ihm diese möglichkeit eröffnet, von welcher der bildhauer sofort gebrauch machte. nun finden sich monströs-elegante eisenskulpturen im unveränderten kirchengemäuer, es hat alte pferdeschädel in grosser zahl an der wand aufgestellt und in den verkaufsständen der früheren metzgereien findet man fotos über das schaffen von vater und sohn luginbühl, samt ihren begegnungen mit freund jean tinguely so richtig speziell wird es aber erst im ersten stock des gebäudes, wo zahlreichen zeichnungen, pläne und modelle von luginbühl augestellt sind, genauso wie die fast endlos wirkenden notizbüchers des gegenwartchronisten aus dem emmental.

“das hat wirklich gefallen, denn dieses museum habe ich noch nie gesehen”, bedanke ich mich. “kann man hier auch sonst rein?”, frage ich nach. die präsidiale antwort lautet: “nur am sonntag, und wenn du eine führung möchtest, buche sie im voraus, direkt bei mir!” – “mache ich”, gebe ich zurück, bevor unsere wanderung im restaurant schützen bei selbst gebrauten burgerdorfer bier endet.

stadtwanderer

mischa und mascha

schöner geht es nicht: der bärenhüter der bärenstadt bekommt vom bärenpaar des bärenlandes ein paar jungbären!

“medwed” heisst auf russisch “bär”, habe ich heute gelernt. und die medwedews sind die gegenwärtigen herrscher über den kreml, der seinerseits über den russischen bären wacht. zwei junge bären aus dem hintersten winkel des russischen ostens haben nun alexander und swetlana medwedew zu ihrem staatsbesuch in der schweiz gebracht.

dsc00323
mischa und mascha, die beiden jungbären aus russland, die bärn heute vom russischen staatspräsidentenpaar geschenkt bekommen hat

überreicht wurden die findelkinder dem obersten bärenhüter in der schweiz. alexander tschäppät, stadtpräsident am ort, wo es dereinst bären gehabt hat, sodass sie heute noch das wappen zieren, durfte die beiden spiellustigen heute offiziell in empfang nehmen. ganz auf schweizerische art bedankte sich der hiesige bärenwärter mit bärengeschenken aus schokolade und gold.

mischa und mascha werden ab oktober den neuen bärenpark an berns aare beleben. und den medwedew mindestens ein bärenleben lang eine gute erinnerung in bärn sichern!

stadtwanderer

der russische anti-napoléon in der schweiz

mit dmitri medwedew besucht erstmals ein russischer präsident die schweiz. heute dienstag geht’s nach andermatt, um beim denkmal für alexander suworow dem legendären russischen general zu gedenken, der napoléon die stirn bot und die konservativen kräfte gegen die modernisierer stärkte.

hbwmda8b_pxgen_r_526x700das suworow-denkmal in der schöllenschlucht ist für alle russen den wichtigste punkt der schweiz.

der kontext
zwischen 1792 und 1815 stand europa eine generation lang im krieg. zuerst richteten sich die monarchien gegen das revolutionäre frankreich, dann wandte sich das napoléonische frankreich gegen die monarchen, und schliesslich befreiten österreicher, preussen und russen die besetzten gebiete und verbannten den gestürzten kaiser der franzosen auf st. helena.

die eidgenossenschaft geriet insbesondere im zweiten. der sechs koalitionskrieg (1799-1802) zwischen die europäischen fronten. seit 1798 herrschten die franzosen über die helvetische republik. die koalition aus grossbritannien, österreich und russland konnte vor allem in oberitalien erfolge verbuchen, als napoléon in ägypten weilte. doch dann ging er nach paris, und übernahm die politischen geschicke seines landes selber. in dieser situation überquerten die russischen truppen von süden her die alpen mit dem ziel, sich mit den österreichischen zu verbünden und zürich gegen die franzosen zu verteidigen. ihr kommando führte feldmarschall alexander suworow.

das geschehen

die alpenexpedition startete am 21. september. auf dem gotthardpass und an der schöllenenschlucht kam es zu schlachten zwischen russen und franzosen. nach weniger als einer woche setzten sich die russen durch, marschierten am 26. september in altdorf ein und liessen sich als befreier der eidgenossen feiern.

doch suworow gelang der vorstoss zu den österreichischen truppen nicht, denn die franzosen hatten alle schiffe auf dem vierwaldstättersee verschwinden lassen. zudem besiegten sie zürich, bevor der russische general auch nur hätte da sein können.

so blieb der russischen armee nur der marsch über den kinzigpass ins muotatal, über den pragelpass nach glarus und über den panixerpass chur, um durch österreich nach prag ins winterlager zurückzukehren.

in italien waren es rund 21’000 russische soldaten; als sie die schweiz wieder verliessen, lebten noch 17’000, davon zwei drittel kampffähig. die kämpfe wie das wetter taten das ihrige dazu, dass der gewaltsmarsch verlustreich endete.

würdigungen
in der europäischen geschichtsschreibung ist die alpentraverse der russischen kosaken eine kleine episode. insbesondere in der zentral- und ostschweiz gilt alexander suworow bis heute als befreier von den ungeliebten franzosen. das ist eine politische wertung, denn die reaktionären kräfte in der eidgenossenschaft nutzten seinerzeit die französische schwächung durch die russischen truppen und wegbereiter der mediation zwischen modernisten und konservativen 1803.

suworow erlebte, wie viele seiner soldaten, das alles nicht mehr. zwar wurde der grosse stratege des 18. jahrhundert nach dem alpenabenteuer zum russischen generalissmus befördert. doch fiel er nach der schlecht geplanten und wenig effektvollen alpenquarung am hof in ungnade. anfangs 1800 verstarb er in st. petersburg.

das ausserordentliche des alpenmarsches hält die erinnung an general suworow und seine kosaken in russland wach. genau deshalb besucht der russische präsident dmitir medwedew heute das spektakuläre suworow denkmal in der unwirklichen schöllenenschlucht.

stadtwanderer

das mag couchepin wirklich nicht …

das herrliche herbstwetter verleitet mich, über mittag meiner beliebtes tätigkeit nachzugehen. dem stadtwandern, in der berner altstadt. da wird es unvermittelt hoch politisch.

kanzler2

in der münstergasse treffe ich auf pascal couchepin. man grüsst sich freundlich. “l’expert”, nennt er mich mit vielsagendem lachen und beginnt gleich mit mir über wahlen und abstimmungen zu sinnieren. “une belle victoire”, fasst der abtretende bundesrat den letzten mittwoch zusammen, als seine nachfolge in der schweizer regierung bestimmt wurde. als sich das gespräch vorsichtig dem nächsten sonntag nähert, werden die worte

… (zensur fdp generalsekretär) …

zum spassen ist dem walliser, als wir schliesslich die deutschen wahlen besprechen. ich zeige ihm “den spiegel”, den ich eben gekauft habe. das titelblatt ist vielschichtig: es kommt so … (merkel) … oder so … (steinmeier) … aber bitte nicht wieder so (steinkel)! “ce n’est pas bon pour le pays”, sagt mir der magistrat gegenüber, und meint die verwechslung von politikerInnen bis zur unkenntlichkeit in der grossen koalition.

und da endet unsere kleine fachsimpelei, denn couchepin muss zum staatsempfang, für dmitri putin …

stadtwanderer

ohne unterbruch durch welten wandern und die zeit vergessen

mein zug kommt um 9 uhr 59 in lenzburg an. im einladungsmail steht, dass ich um 10 07 in der ausstellung sein werde. denn acht minuten braucht man wandernd bis zur ausstellung “nonstop” des stapferhauses.

af5c1be7c0
sibylle lichtensteiger vor der rückseite der schliessfächer für die uhren der besucherInnen ihrer ausstellung “nonstop”, bei der es um die geschwindigkeit unserer zeit geht

sibylle lichtensteiger hat mit ihrem team die expo des momentes konzipiert. schon beim empfang merkt man, dass sie tempo wegnehmen will. die gelernte historikerin begleitet mich in einen wartebereich. durch eine schleuse tritt man in den entschleunigungsraum – einer gelungenen mischung aus duschraum im zivilschutzbunker und orientalischer gartenoase. erfrischt werden soll hier das gemüt: zuerst hört man wassertropfen, mit denen man in der antike die zeit mass. dann wird heftig kommuniziert, um den takt vorzugeben, bis schliesslich unsere mobilität zum akustischen thema wird, die alles möglich erscheinen lässt.

“das sind unsere tempomacher”, erklärt meine führerin. und geleitet mich ohne verzug zum nächsten thema. man wähnt sich im regieraum einer fernsehstation, als sie ihre lieblingsclips auf sechs bildschirmen vorspielt. alle haben sind sie dem gefühl gewidmet, wie geschwindigkeit im alltag entsteht. da spricht der chefredaktor der pendlerzeitung “20 minuten” über konkurrenz im mediensystem, die es nötig mache, auf den bürger als journalisten zu setzen, der sich per zufall am ort des geschehens befinde und in noch weniger als 20 minuten seine bilder und eindrücke weltweit verbreiten könne. oder es sinniert der migros-manager für die convenience-linie über sensationelle wachstumsraten, die man damit erziele, die zeit vom einkaufen des essen bis zu seinem verzehr stets zu reduzieren.

wer meint, es gehe bei nonstop in diesem rhythmus weiter, wird überrascht. denn die besucherInnen werden beispielsweise auch in eine bar gelockt, wo es um lebensgeschichten zum thema zeit geht. statt einer nüsslischale bekommt man einen plattenteller serviert, und auf der drinkkarte kann man eine der vielen zeit-beschreibungen auswählen, die der geschichtenkeeper servieren kann. ich entscheide mich für die von kathrin nadler, der stadträtin von lenzburg, die aus der politik auszustieg, um ihre eltern in den tod zu begleiten. und da wird es persönlich, denn ich habe die beiden menschen, deren lebensende erzählt wird, gekannt, ohne je die muse zu finden, mich von ihnen zu verabschieden.

überhaupt, der mix an ideen ist es, der in der ausstellung nonstop gefällt. wer möchte, kann sein lebenstempo im psychotest bestimmen lassen. wer sich danach nicht gut fühlt, kann sich gleich an einen zeit-therapeuten wenden. wessen ding das alles nicht ist, kann im estrich die momente des glücks nachlesen, als die welt unserer zeitgenossInnen stillstand, oder im kino zusehen, wie kindergartenkinder mit viel, viel mühe scherenschnitte machen und behinderte falzprospekte fast unendlich langsam einpacken. und wer es gerne ganz neutral hat, lässt sich einfach von wissenschafterInnen in die sichtweisen der geschwindigkeit einführen, die physiker, sozologinnen und kulturschaffende betonen.

ganz am anfang des rundgangs werden allen besucherinnen gebeten, sich der gesellschaftlichen zeit zu entledigen, um zur eigenzeit zu finden. deshalb gibt man alle uhren, handies, fotoapparate und notebooks in einem schliessfach ab. selbstverständlich tat auch ich das. als mich sibylle lichtensteiger am ende der führung die berühmten acht minuten zum bahnhof begleitete, merkte ich, wie gründlich das auf mich gewirkt hatte.

denn ich habe mein eigene zeit in “nonstop” so intensiv erlebt, dass ich vergessen habe, meine fremde zeit am schluss wieder mitzunehmen. und so wandere ich seither, ohne unterbruch, ohne uhren durch die welt …

stadtwanderer

mischu – ein bote ergründet bern

mischu möchte, wie es in seiner familie tradition ist, bote des berner schultheissen werden. seit der schlacht von murten wacht adrian von bubenberg über die geschicke der aufstrebenden stadt. und genau zu ihm muss der jüngling, um einen mysteriösen brief abzugeben. hierfür eilt er so schnell, dass er seiner zeit vorausrennt, bis er in der gegenwart landet. als er innehält, merkt er, dass ihm vieles fremd ist: die metzger ums rathaus herum sieht er nicht mehr, dafür hat es fahrräder an hausmauern, von denen er nicht weiss, was man damit machen kann. und auch der stadtbach, der überall zugedeckt wurde, fehlt ihm so arg.

p9120726-kopiep9120866-kopiep9120944-kopie

vreni, eine alte frau an der brunngasse, der man nachsagt, eine hexe zu sein, weiss in dieser trostlosen situation rat. den brief, den er dem schultheissen bringen solle, möge er ohne furcht öffnen, rät sie mischu. da staunt dieser nur noch. denn er ist vom schultheissen unterschrieben und an mischu gerichtet. dem strebsamen botenkandidaten wird geraten, das tor der zeit zu suchen, um in das bern der bubenbergs zurückzukehren.

matthias zurbrügg spielt in diesem speziellen stadttheater für jugendliche nicht nur den mischu und das vreni. nein, er schlüpft in der folge auch in alle anderen rollen, wie er das schon beim “scharfrichter” und beim “totengräber” gekonnt machte. doch diesmal wendet er sich nicht an beliebige stadtwanderer und stadtwandererinnen, die sich eine oder zwei stunden von ihm durch berns altstadtgassen führen lassen, um sich der katastrophen der berner geschichte zu erinnern. denn die neueste inszenierung von mes:artrichtet sich an schulklassen. “gut ist es, wenn sie schon etwas von der geschichte berns gehört haben”, sagt christine ahlborn, die skriptverfasserin. im einmanntheater, wo sie auch regie führt, sollen sie nun einblicke in den mittelalterlichen alltag bekommen, fügt sie mir vor der aufführung bei, die letzte woche probeweise stattfand und 2010 für klassen in und um die hauptsadt angeboten werden soll.

wer sich entscheidet mitzuwandern, bekommt anschauliches geboten: der narr unter dem erker am haus von bartholomäus may wird zum leben erweckt, um ein hauch der renaissance in die münstergasse zu zaubern. die plattform neben dem münster findet zu ihren ursprünglichen verwendungszweck zurück, um als letzte ruhestätte nach der pest zu dienen. und unten an der junkerngasse wird man in das treiben des marktes verwickelt, der die junge siedlung an der aare erst zu eigentlichen stadt machte. das alles wird durch menschen erzählt gemacht, die ihr leben und sterben vor fünf- und mehrhundertjahren aufleben lassen, und den zuschauerInnen so mit einfachen worten, kleinen gesten und angedeuteten handlungen an authentischen orten einen kurzweiligen eindruck von stadt bern in der geschichte vermitteln.

p9121038-kopiep9121061-kopiep9121094-kopie
fotos: stadtwanderer

der schluss des stadttheaters ist fast schon geschichtsphilosophisch. denn die suche nach dem tor der zeit kommt nie an ihr ziel. geschichte ist immer erzählung, und diese hat immer auch eine vorgeschichte, die ihrerseits erzählt werden kann. und so weiter. doch das stück findet sein ende – und was für eines möchte man beifügen: der wer die geduld aufbringt, sich auf sein historie einzulassen, lernt seine kultur von grund auf kennen. das erfahren die staunenden zuschauer bei der nydeggkirche, dort wo heute die büste von berchtold v. von zähringen steht und wo einst seine mächtige burg über die aare wachte. mischu erzählt hier von der stadtgründung 1191, bevor der bote in spe zum noch viel grösseren erstaunen der anwesenden in den erhaltenen burgbrunnen stürzt, um bern definitiv zu ergründen …

stadtwanderer

während der bundesratswahl bloggen …

bei bundesratswahlen stehen die amtierenden bundesrätInnen nicht im zentrum. einzig während der verabschiedung des zurücktretenden mitgliedes sind sie anwesend. unmittelbar danach ziehen sie sich zurück, um in ihren büros … zu bloggen!

p9161169

mindestens bei bundesrat moritz leuenberger ist das zwischenzeitlich so. und moritz wäre nicht moritz, wenn sein beitrag nicht nur eine manifeste, sondern auch eine latente botschaft hätte.

vordergründig ist alles als replik auf einen ausländischen kommentar zu unserer art, “minister” zu ersetzen, aufgemacht. hintergründig ist es auch eine verabschiedung einer idee, die pascal couchepin in den bundesrat trug: demnach soll aus dem bundespräsidenten eine art ministerpräsidenten werden, welcher der regierung vorgaben macht und insbesondere die schweiz nach aussen vertritt.

dazu leuenberger: “Ein Bundesrat ist kein Minister, kein Diener oder Gehilfe des Premierministers oder Ministerpräsidenten, der ihm Weisungen erteilen oder ihn gar ersetzen könnte. Der schweizerische Bundesrat ist ein Präsidialkollegium, das gemeinsam die Geschicke des Landes leitet und die Regierungsverantwortung trägt. Deshalb steht jedes Mitglied des Bundesrates nicht nur seinem Departement vor, sondern ist immer auch – als Teil des Kollegiums – Regierungsoberhaupt.”

die stellungnahme ist nicht ohne. denn der bundesrat beauftragte im august dieses jahres fast unbemerkt das ejpd damit, einen bericht zur staatsleitungsreform auszuarbeiten. dieser soll einfache sachen regeln, aber auch tiefergreifende veränderungen prüfen: dreh- und angelpunkt ist eine neudefinition der rolle des bundespräsidenten.

heute ist unser bundespräsident ein primus inter pares, der für ein jahr das funktionieren der bundesregierung zu garantieren hat, an feierlichen anlässen auftritt und eine rede hält. seit den 90er jahren tritt der “präsident” (dölf ogi) immer häufiger auch im ausland auf, und übernimmt er aufgaben, für die wir einen speziell beauftragten bundesrat hätten. der ausflug von hans-rudolf merz nach tripolis war das letzte, ziemlich unrühmliche beispiel in dieser entwicklung.

die diskussionen hierzu sind lanciert. moritz leuenberger hat seine skepsis mitkommuniziert. nun sind die bloggerInnen gefordert: brauchen wir die force tranquille im innern wie bisher, brauchen wir einen ministerpräsidenten wie ihn christoph blocher und pascal couchepin gerne gewesen wären, oder brauchen wir gar einen staatsprädisenten, der über der geschäftigkeit der bundesregierung steht?

stadtwanderer

der stadtwanderer wird dozent für kommunalpolitik

ich habe mich entschieden. ich beteilige mich am neuen diplomlehrgang für gemeindenpolitikerInnen des kantons bern. als dozent, aber auch, um neue kontakte für stadtwanderungen zu knüpfen.

cal
gelegenheit für ein gespräch weit über die gemeindepolitik hinaus: was ich vom duell zwischen merkel und steinmeier halte, wurde ich am apéro des ersten dozentInnen-treffens für den neuen lehrgang kommunalpolitik gefragt (foto: bwd)

der bund” brachte gestern einen ausführlichen artikel. das bildungszentrum für wirtschaft und dienstleistungen biete 2010 einen neuartigen kurs an. in 100 lektionen soll angehenden gemeindepolitikerInnen eine eisern ration knowhow angeboten werden. die typischen ressorts einer berner kommune werden vorgestellt. doch geht es darüber auch um führungsinstrumente und kompetenzen, die man als lokalpolitikerIn mitbringen sollte.

gestern trafen sich die rund 25 dozierenden, die ab kommenden april blockweise interesse personen mit einem amt als gemeinderat und stadtparlamenatierInnen inne haben, oder aber ein solches anstreben. jörg aebischer, einer der initianten, formulierte die zielsetzungen so: man wolle solides wissen für die praxis vermitteln, dass sich direkt im können als politikerIn auswirken soll.

die anfrage, dabei mitzuwirken, hat mich gefreut. ich weiss zwar noch nicht ganz, was daraus wird. am liebsten wäre mir zum beispiel ein kick-off-morgen gemeinsam mit henri huber, dem alt-gemeindepräsidenten von köniz. da könnten wir politik in theorie und praxis, möglichkeiten und grenzen des milizwesens und der professionalisierung sowie die frage diskutieren, was an gemeindeautonomie oder -fusionen zukunftsträchtig ist. eine solche debatte wäre sicher spannen und könnte den teilnehmenden, ja der gemeindepolitik im kanton bern gut tun.

natürlich bin ich nicht nur am unterricht interessiert. fast mehr noch bin ich gespannt, welche städte und gemeinden sich mir so eröffnen. wer weiss, vielleicht entstehen so gar neue stadt- und dorfwanderungen in der näheren und weiteren umgebung …

stadtwanderer

wählen parlamentarierInnen rational oder irrational?

die politische theorie hat eine menge von vorstellungen entwickelt, wie sich politische menschen verhalten. rational, sagen die einen. irrational die andern. ich denke, alle verhalten sich rational, auch wenn nicht alle das gleiche damit meinen.

bundesratswahl_lead_127284911250597558

für heute habe ich drei hypthesen:
erstens, man stimmt vor allem, aber nicht nur nach parteiinteressen.
zweitens, sprachregionale überlegungen sind bei einer minderheit wichtig.
drittens, bei sp und grünen spielen überlegungen mit, wie sie ihre chancen bei kommenden bundesratswahlen verbessern können.

die fraktionen in der bundesversammlung haben heute ihre präferenzen für die morgige bundesratswahl bekannt gemacht. die fdp will einen der ihren; burkhalter ist inoffiziell ihr favorit. die cvp/evp/glp-fraktion will urs schwaller. die svp wiederum will in ihrer grossen mehrheit für christian lüscher stimmen. der hat bei sp und grünen keinen stich. mehrheitlich will man da schwaller wählen, minderheitlich burkhalter, und einige exotInnen könnten für nicht-offizielle kandidaten stimmen.

numerisch betrachtet ist schwaller von beginn weg vorne, ohne aber das absolute mehr zu erreichen. der einwand, kein echter romand zu sein, sticht.
rund 20 rotgrüne parlamentarierInnen wollen deshalb gegen für burkhalter, nicht aber für lüscher von der fdp stimmen. damit kommt schwaller in der konstellation gegen burkhalter auf etwa 106 stimmen. wenn er gegen lüscher antreten muss, kann er mit 126, und ist er gewählter bundesrat.

christian lüscher hat eigentliche keine chance, bundesrat zu werden. er kann maximal die svp und fdp stimmen machen, doch das gibt 113 stimmen. selbst wenn er alle aus der bdp auf seine ziehen könnte würde, er bei 119 stehen bleiben, und damit urs schwaller unterliegen.

so paradox es tönt: wenn burkhalter er in den schlussgang kommt, siegt er gegen schwaller. aber es ist gar nicht sicher, ob er es soweit bringt. solange polarisiert wird ist er nicht der favorit, wenn es auf die parteiübergreifende akzeptanz ankommt, liegt er vorne!

im dritten wahlgang fällt die vorentscheidung. denn dann dürfen keine weiteren namen ins spiel gebracht werden, und die bewerbung mit den wenigsten stimmen scheidet aus.

stimmt fdp dann geschlossen für den neuenburger didier burkhalter, verhält sie sich rational. denn sie befördert ihren favoriten in die schlussrunde und damit wohl auch in den bundesrat. irrational handelt die fdp, wenn sie ihre stimmkraft aufteilt, und so der svp erlaubt, zu bestimmen, wer von den zwei fdp-kandidaten vorne ist. denn dann lässt sie sich auf ein spiel ein, den eigenen bundesratssitz zu verlieren.

rational verhält sich die svp, wenn sie im schlussgang für burkhalter stimmt, um schwaller zu verhindern. irrational ist sie, wenn sie sich im schlussgang der stimme enthält, denn das wäre beihilfe für die cvp. wie sagte blocher in seinem tv: schreibt burkhalter auf, selbst wenn euch dabei der arm abfällt.

und jetzt die pointe: rational verhält sich rotgrün, wenn teile von sp und grünen im dritten wahlgang lüscher die stimme geben, damit er vor burkhalter liegt, im schlussgang aber gegen schwaller unterliegt.

stadtwanderer

“es ist zu viel geschirr zerschlagen worden.”

urs altermatt, herausgeber des lexikons “Die Schweizer Bundesräte” äussert sich in der heutigen “berner zeitung” umfassend zum morgigen ereignis. mit dem weitblick eines historikers, füge ich bei.

altermatt
urs altermatt, professor für zeitgeschichte in fribourg, nimmt stellung zur morgigen bundesratswahl

selbstredend würde er eine allfällige niederlage der fdp bei den bundesratswahlen als tiefpunkt in ihrer parteigeschichte bezeichnen, sagt der solothurner altermatt. doch habe die heutige fdp einen solchen weg selber vorgezeichnet. mit der breiten volksbewegung, die den bundesstaat 1848 gegründet hatte, könne die heutige partei nicht mehr verglichen werden. links und rechts von ihr seien konkurrenten entstanden, welche die politische dynamik bestimmen würden.

zwischen den polen ortet altermatt vor allem konkurrenz. die fdp habe bei der abwahl von ruth metzler mitgeholfen. seither seien die beziehungen gespannt: “Es ist zu viel Geschirr zerschlagen worden”, bilanziert der professor. so gäbe es selbst bei sachpolitischen übereinstimmungen machtpolitische rivalitäten.

trotz diesen befunden hält der vormalige rektor der freiburger universität an konkordanz für wichtig. sonst würde man nicht darüber sprechen, wirft er im interview ein. doch gäbe es keine einheitliche definition mehr, was sache ist, schiebt er nach. unter den parteien vorrangig sei die arithmetische konkordanz. bei der bezeichnung der kriterien regierten aber einzig parteitaktische nutzenüberlegungen.

das beispiel der svp nach der nichtwiederwahl von christoph blocher habe gezeigt, dass analysen aus der enttäuschung hinaus ins abseits führten. denn der spielraum für parteien ausserhalb der regierung sei im politischen system der schweiz, das auf ausgleich ausgerichtet sei eher gering.

die sprachenfrage gehört für den deutschsprachigen in einen französischsprachigen umfeld zu den wichtigen bestandteilen der konkordanz. wie die frankophonen parlamentarierInnen stimmen werden, entziehe sich seinen kenntnissen, gibt der experte freimütig zu protokoll. nach aussen stelle er fest, nach einer anfänglichen kontroverse habe sich die aufregung über schwallers kandidatur (“zweisprachiger freiburger mit wurzeln im deutschsprachigen sensebezirk”) gelegt.

eine wirkliche lösung der minderheitenvertretung sieht altermatt im 7er gremium nicht. auch deshalb plädiert er seit längerem für einen 9er bundesrat, mit sitzgarantieren für die romand(e)s und die tessinerInnen. die grössere parteien sollten auf jeden fall in diesem bundesrat vertreten sein. neue sitze würden es seiner meinung auch erlauben, flexibler auf veränderungen in der parteienlandschaft zu reagieren.

ich kenne urs altermatt seit meinem studium; er war damals einer meiner dozenten. ich weiss, dass er als intellektueller engagiert denkt, sich als historiker aber ausgiebig mit der cvp beschäftigt hat. das hat ihm sicher eine nähe zur partei, aber auch zum befürworter der konkordanz gemacht. die hat er allerdings nie stur, sondern als prinzip vertreten.

stadtwanderer

“spalten, was uns spaltet”

das bild ist im bundesbern gewöhnungsbedürftig. denn es kommt einem wie die geburt einer neuen bankenpolitischen konkordanz bisheriger kontrahenten vor. was steckt dahinter?

b997200
ein unübliches sextett: blocher, hayek und levrat, sowie nicht auf dem bild brunner, leutenegger und schiltknecht profilieren sich als die neuen meinungs- macherInnen in der bankenpolitik (foto: soz)

denn christian levrat und toni brunner geraten sich medial schon mal heftig in die haare, wenn es um bundesratswahlen geht. und zwischen den linken nationalrätin susanne leutenegger resp. dem rechten alt-bundesrat christoph blocher gibt es wirtschaftspolitisch einen graben, der tiefer ist als jeder andere in der schweiz. schliesslich sind auch nicolas hayek, der erfolgreiche tausendsassa der präzisionswarenwelt, und kurt schiltknecht, der professorale wirbelwind der illusionsgeldwelt, ein ziemlich ungleiches paar.

und doch sind sie letzte in bern gemeinsam vor die medien getreten, um die grossbanken, welche die nation seit (bald) einem jahr spalten, ihrerseits (möglichst bald) zu spalten.

“klumpenrisiko” ist das zauberwort der unheiligen politökonomischen allianz. deshalb sollen die beiden grossbanken der schweiz verkleinert werden. nie mehr will man das böse wort hören, ubs und cs seien zu gross, um hops zu gehen. ziel ist es deshalb, die form von banken zu finden, die man notfalls fallen lassen kann, ohne dass die volkswirtschaft gleich still steht.

die respektable drohkullisse vom freitag ist nicht ohne. denn im nationalrat zeichnete sich bereits einmal eine ähnliche konstellation ab, als svp und sp das hilflose zentrum ausbremsten. zwar wollte der bürgerlich dominierte ständerat nichts davon wissen davon. doch in der finanzmarktaufsicht will das nicht akzeptieren. sie schlägt regulierungen vor, mit denen sich die gruppe durchaus anfreunden kann, bei den grossbanken aber auf ablehnung stossen.

“kein schweizer sonderfall!”, lautet die devise aus der defensive, was die protagonmisten für einen neue bankenpolitik aber kalt lässt. “trennbankensystem” schmettern die angreifer zurück, weil sie wissen, damit im trend zu liegen.

denn wenn die internationale finanzarchitektur sinnvoll umgebaut werden sollte, müsste die schweiz darin platz finden, liess das sextett das staunende publikum wissen. und wenn das nicht der fall sein sollte, stehen die meinungsmacherInnen in politik, wirtschaft und wissenschaft schon mal bereit, für eine schweizerische lösung zu sorgen.

es kann also durchaus sein, dass man sich an das bild der neuen wirtschaftkonkordanz bisheriger kontrahenten gewöhnen wird.

stadtwanderer

geschichte und poesie …

“wer sind die drei nobelpreisträger, die in bern gelebt haben?”, fragte ich gestern wie so oft zum schluss meiner stadtwanderung. die pointe, die dabei möglich gewesen wäre, verpatzte ich jedoch. deshalb ein nachtrag.

p9131110
“geschichte und poesie” von paul robert, mosaikbild über dem eingang des historischen museum in bern (foto: stadtwanderer)

anstatt wie gewohnt “einstein”, “kocher” und dann lange nichts zu hören, bekam ich von leni robert mit etwas kleinlaut die antwort: “de schueldirektr”.

in der tat, die vormalige erziehungsdirektorin des kantons bern von 1986 bis 1990 zielte direkt auf charles-albert gobat, ihrem amtsvorgänger an der wende des 19. zum 20. jahrhundert. für seine bemühungen, zwischen zerstrittenen romanen und germanen zu vermitteln, wurde er mit dem friedensnobelpreis geehrt.

der ort für meine abschlussfrage war entsprechend gewählt, denn niemand geringerer als gobat hat den bauplan für den museumsbau bewilligt. im dankeswort für die stadtwanderung wies mich leni robert darauf hin, dass das grosse mosaikbild “geschichte und poesie” über der eingangstüre des museums von paul robert, einem der sechs maler aus der neuenburger familie ihres verstorbenen mannes, erdacht worden sei.

doch nicht nur das: heute brachte mir bärbi das geschichtsbuch von charles-albert gobat nach hause, das er als regierungsrat verfasst und unter dem für ihn so typischen titel “historie de la suisse, racontée au peuple” publiziert hatte. zu den illustratoren des fast 660 seiten dicken werkes zur schweizer geschichte, das sich an eine gebildetes publikum wandte, gehörte niemand anders als eben dieser paul robert.

eigentlich hätte ich es spüren müssen: selbst wenn sie in verschiedenen zeiten gelebt haben, selbst wenn sie dadurch ganz anderes sozialisiert worden sind, und selbst er ganz bewusst als mann und sie ebenso bewusst als frau politisiert hatten: charles-albert gobat und leni robert haben eine wesensverwandtschaft. sie traten für ihre überzeugungen ein, selbst wenn sie damit ihn ihrer partei aneckten. denn beide “schuldirektorInnen” liessen sich von ihrem umfeld nicht auf das übliche niveau in der berner politik einebnen.

chapeau, mes deux!

stadtwanderer

1986: wie vieles begann, das heute noch wirkt

die wahlen in den berner regierungsrat von 1986 sind unvergessen. gestern trafen sich zahlreiche protagonistInnen und nachfolger dieser zeit zu einer gemeinsamen stadtwanderung.

p9110678
der stadtwanderer und sein publikum: die ehemaligen politikerInnen leni robert, dori schär, peter siegentaler, urs hänsenberger und rosemarie bär, aber auch viele andere, wanderten mit, um sich an die wahlen von 1986 zu erinnern (foto: bärbi)

1986 ist in vielerlei hinsicht ein einschnitt gewesen. am 26. april ging in tschernobyl ein atommeiler in die luft und verseuchte weite teile europas. in bern war man gerade dabei, eine neue kantonsregierung zu wählen. die alte befand sich wegen ihrer jura-politik in der defensive, hatte doch eine finanzinspektor unerlaubte zahlungen aus schwarzen kassen des kantons aufgedeckt. im ersten wahlgang wurden svp und sp bedient, die fdp-vertreter jedoch schafften das absolute mehr nicht. in aussichtsreicher position lagen dafür leni robert und benjamin hofstetter von der freien liste. im zweiten wahlgang reichte es für die beiden vom postmateriellen wertwandel inspirierten vertreterInnen der jungen partei. mit leni robert wurde erstmals auch eine frau in die berner kantonsregierung gewählt.

nur wenige wochen davor, am 16. märz 1986, entstand eine andere politische bewegung. die schweiz verwarf an diesem tag in einer volksabstimmung den beitritt zu den vereinten nationen wuchtig. obsiegt hatte ein konservatives komitee, das sich in der folge umbenannte und immer noch existiert: bis heute wacht die auns darüber, dass sich die schweiz von allem, was im ausland geschieht, gründlich fern hält. sie legte damit die basis für das erstarken der svp als neuer rechtspartei, die schweizer werte der abschottung, der bevorzugung einheimischer gegenüber ausländerInnen und bewahrung helvetischer sonderfälle in einer sich rasch wandelnden umwelt propagiert.

1986 war auch für mich ein wendejahr. meine anstellung an der uni bern war unsicher geworden, weil das forschungszentrum für schweizerische politik, wie die arbeitsstelle der politologInnen von damals hiess, liquidiert und die ressourcen der neoliberal ausgerichtete politischen ökonomie angeschlossen werden sollten. ich bewarb mich, beispielsweise als marktforscher für den “tages-anzeiger”, nahm dann aber ein unverhofftes angebot an, als projektleiter am gfs-forschungsinstitut für abstimmungsanalyse eine stelle anzutreten. das gefiel mir, denn in all diesen umbrüchen vom frühjahr 1986 habe ich erstmals ein grosses interview über die schweizerische parteienlandschaft im umbruch geben können; urs paul engeler von der berner zeitung führte es. bei den berühmten berner wahlen von damals hatte ich zudem mit hans hirter erstmals eine hochrechung zu einer volksentscheidung realisiert.

leni robert, die damals bernische erziehungsdirektorin wurde und als eine ihrer ersten amtshandlungen den bestand der berner politikwissenschaft sicherte, bin ich seither mit beobachtender distanz freundlich verbunden geblieben. um der abtrünnigen freisinnigen, die der politik der 80er jahre viel gebracht, ein kanppes vierteljahrhundert danach einmal herzlich dankeschön sagen zu können, habe ich sie, einige ihrer weggefährten und deren politisch nachfahren zu einem rundgang durch bern eingeladen. gekommen sind alt-regierungsrätInnen, alt-stände- und nationalrätInnen aller bernischen regierungsparteien; anwesend war auch lokalpolitikerinnen, lokaljournalisten der ersten garde, und viele andere mehr. besonders gefreut hat mich, dass auch adrian vatter mitmarschierte, damals ein kleiner mitarbeiter von mir, seit einem monat inhaber des berühmten lehrstuhles für schweizerische politik an der uni bern.

herzlichen dank euch allen, es hat mit viel bedeutet, mit den zeitgenossInnen von damals die verfassung der gegenwart zu erkunden!

stadtwanderer

leben und sterben in der anomie

es ist kein einfaches, aber ein nötiges thema, denn nirgendwo in der schweiz begehen so viele menschen wie in bern brückensuizid. ein hoffentlich weiterführender gedanke zur problemtik, die am gestrigen weltsuizidpräventionstag aufwühlte.

topelement14
“baut netze”, lautete die botschaft gestern unter der kirchenfeldbrücke um suizidsprünge zu vermeiden. die aufforderung kann konkret, aber auch im übertragenen sinne verstanden werden.

eine gestern veröffentlichte studie der universitären psychiatrischen dienste siehe die kirchenfeld- und kornhausbrücke als die exponiertesten orte an der aare. pünktlich zu weltsuizidpräventionstag versammelten sich schülerInnen des gymnasiums kirchenfeld auf dem sportplatz schwellenmätteli, um auf die problematik aufmerksam zu machen.

fast schon selberredend weckt das den soziologen in mir, der früh in seinem studium in zürich darauf hingewiesen wurde, dass der selbstmord eine innere und äussere begründung habe. die äussere hat als erster der berühmte französische soziologe emile durkheim untersucht. er kam zum schluss, dass es verschiedene konstellationen für verschiedene ursachen von suiziden gibt, für den egoistischen, den altruistischen, den fatalistischen und den anomischen selbstmord.

seither hat mich der anomische speziell interessiert. denn der begriff der anomie wird als zerfall der gesellschaftlichen ordnung definiert. allgemein gültige regeln verschwinden, soziale normen schwächen sich ab. es schwindet der gesellschaftlichen konsens. gemeinsame ziele gibt es nicht mehr, und auch die mittel zu deren erreichung werden nicht mehr in gleicher weise gebilligt oder missbilligt.

die soziologie hat sich dabei mit verschiedenen phänomen beschäftigt: mit der tendenz nach konformität, mit der innovation des kulturellen lebens, mit dem zwang zum ritual und mit dem aufbrechen der rebellion.

aber auch mit der resignation, die sich im zustand der unübersichtlich gewordenen (un)ordnung in form von angst soweit ausbreitet, bis sie in den suizid führt. dass das nicht geschieht, ist die aufgabe der gesellschaft, die hierfür netze bauen muss.

stadtwanderer