der sturz des königs der tiere

das erste buch, das ich meinen ferien im nordischen holzhausen gelesen habe, ist die grossartige kulturgeschichte zum verhältnis des menschen und des bären, die es bis in harvard-press geschafft hat, bei uns (in bern) bisher aber kaum wahrgenommen wurde.

xals im juli 1969 neil armstrong mit seinem apollo-team zur ersten erfolgreichen mondlandung aufbrach, hatte er einen bären dabei – keine leiblichen selbstredend, aber einen teddybären!

michel pastoureau, französischer spezialist für die geschichte der symbole des europäischen mittelalters, nimmt das „als Zeichen einer sehr langen Geschichte zwischen Mensch und Bär, die auf dem Mond, an der Schwelle zur Ewigkeit, fortgesetzt wird.“

2007 hat der pariser professor ein bemerkenswertes buch über eben diese kulturgeschichte herausgebracht. in de debatten der archäologie, ethnologie und religionswissenschaften zum bär als erstem gott der menschen mag sich der historiker nicht wirklich einmischen. für ihn ist aber klar, in europa war der bär lange zeit der könig der tiere, analog dem löwen in asien, dem elefanten in afrika und dem adler in amerika.

die anfänge dieser tradition sieht in griechenland. artemis (die zwillingsschwester von apollo), ist seine zeugin. in arkadien, dem „land der bären“, war sie nicht nur die göttin der jagd, sondern auch des mondes, des waldes, der berge und der wilden tiere. die mythologie, die um sie entstand, ist nach pastoureau durch die drei verhältnisse gekennzeichnet, die es bei jagenden völkern gegenüber dem bären gibt: durch die verwandlung von menschen in bären, durch die mütterliche bärin, die verloren gegangene kinder aufzieht, und durch den bär als monster, der jungfrauen verführt.

in unseren breitengraden galt der bär lange als unser nächster verwandter – als mensch im fell quasi. seine physiognomie gleicht dem den menschen, wie dieser kann der vierbeiner aufrecht gehen und nutzt er die ganze sohle, wenn er geht. doch nicht genug: er kann schwimmen, rennen, klettern, springen und tanzen, genauso wie wir menschen auch.

im hohen norden, wo es heute noch bärenkulte gibt, ist diese symbiose besser spürbar: nicht nur ist die verehrung des raubtieres im alltag der naturvölker fest verankert geblieben; in der geschichte dänemarks, norwegens und schwedens haben sich könige immer wieder als nachfahren des bären verstanden.

das hat sich in kontinentaleuropa ins umgekehrte gewandelt. pastoureau sieht im römischen historiker plinius dem älteren und im kirchenvater augustinus die frühen feinde des königs im tierreich. als eigentlichen übeltäter denunziert wird jedoch karl der grosse. während seiner feldzüge gegen die sachsen liess er nicht nur heilige bäume fällen, magische steine versetzen, nährendes quellwasser umleiten und traditionelle orte mit christlichen kapellen bebauen, um die heidnischen bräuche auszurotten, nein, er hatte es auch auf den bären als krafttier der besiegten völker abgesehen.

in seinem buch „Der Bär. Geschichte eines gestürzten Königs“ entwickelt passtoureau die these, dass mit der christianisierung zwei strategien zu vernichtung entwickelt worden sind: die treibjagd im wald und die hetzjagd in der literatur. der kulturelle kampf gegen den bären interessiert ihn besonders: denn da wird er im hochmittelalter in raten bekämpft, gezähmt und erniedrigt.

angefangen hat das in frankreich, von wo der bär schon früh verdrängt wurde, in die pyränäen, die alpen und den hohen norden. symbolisch nachgezeichnet werden kann diese nach dem heraldiker pastoureau anhand des aufkommens von wappen im 11. jahrhundert. Speziell mit den kreuzzügen setzte sich in europa die vorherrschaft des löwen als zeichen der macht und als könig der tiere durch.

wenn bern (wie berlin) bis heute dagegen hält, ist dies in diesem gelehrsamen buch ein zeugnis für germanische traditionen, die in gebieten, die erst im 12. jahrhundert erschlossen wurden, länger erhalten blieben, ja bis heute nachwirken. Knut, der weissbär, und finn, der braunbär sind beredete zeugnisse daf^ür.

andernorts setzte sich schneller durch, was im ausgehenden mittelalter allgemeingut wurde: der bär wird aus dem wald gezerrt, in den werdenden städten auf den marktplätzen angebunden und domestiziert im zirkus aufgeführt, um ihn letztlich zu verspotten.

seine ehrenrettung findet der bär seither in den fantasien der herrschenden, den museen der naturkundler und als teddybär im kinderzimmer. von wo er als rache bis auf den mond schaffte!

stadtwanderer

berns moderne zeit: materialiensichtung über-, spurensicherung unterentwickelt

da mache ich mir gar nichts vor: ich werde aus diesem buch noch 1000 mal zitieren. dennoch bleibt ein schaler nachgeschmack bei der lektüre zu “Berns moderne Zeit“, dem letzten band in der neuentdeckung der berner geschichte, zurück.

5377begegnung zwischen tradition (rechts) und moderne (links) im 19. jahrhundert: albert ankers kleinkinder- schule

der anspruch ist grandios: denn in diesem buch geht es um nicht weniger als politik, gesellschaft, wirtschaft, kultur des kantons bern seit die französischen truppen das ancien regime beendet und den kanton in bewegung gesetzt haben. texte und anhänge, von peter martig herausgegeben, erstrecken sich über fast 600 seiten. charlotte gutscher und sandra hüberli, welche die bildredaktion besorgten, liessen das werk reichlich illustrieren.

zuvorderst wird man in das bild albert anker “Kleinkinderschule auf der Kirchenfeldbrücke” eingeführt. dabei geht es um ein treffen zwishen tradition und moderne, symbolisiert durch kleidungen, aber auch durch verhältnisse. denn kinderkrippen entstanden als städtische einrichtungen während der krise der agrarwirtschaft, die zu einer landflucht und damit zum anwachsen der städte führten. das ganz ist programm. denn es geht darum, wie die bernerInnen mit der moderne umgehen gelernt haben.

was so gebündelt beginnt, ufert danach leicht aus: mehr als 100 autorInnen haben zum buch beigetragen, über 150 kapitel sind so entstanden. meist widmen sie sich einem klaren thema, sind sie vorbildlich kurz gehalten. in der regel sind in deutsch abgefasst, une minorité des chapitres est écrites en français.

da geht es um regierungsstatthalter als mittler zwischen volk und verwaltung, um flüchtlinge aus deutschland. erzählt werden die körpergrössen der berner und hinrichtungen in langnau. nicht fehlen können je ein kapitel über verdingkinder, die fasnacht und badekulturen im kanton. spannung verheissen berichte über katastrophenkulturen, käsefieber und medizinaltechniken. porträtiert werden der berner bahnhof, bond und bollywood. die rede ist auch von jeremias gotthelf, dem grossen berner schriftsteller wie auch von anna tumarkin, der ersten professorin europas, die in bern lehrte.

man wird gar nicht fertig, den superlativen facettenreichtum dieses buches zu würdigen. postkarten tragen genauso dazu bei wie unveröffentlichte fotos. zeichnungen, stadtpläne, bilder, karikaturen, fotos, und faksimilierte dokumente beeindrucken einen seite für seite, egal, ob sie aus der frühen moderne des 19. jahrhunderts, dem höhepunkte der berner geschichte vor dem ersten weltkrieg, oder dem umbruch in der späten moderne, in der wir heute leben.

und dennoch. wenn man das buch bildlich und textlich durch hat, befällt einem das gefühl, heerscharen gelehrter hätten ihre zettelkasten aus jahrelangen recherchen über einen ausgeleert. und genau da mischt sich die faszination über den rechtum des wissens mit der erschrecken über dem ungeordneten historismus der gegenwart. denn es macht den anschein, alles in bern habe geschichte geschrieben. der bundesrat ganz sicher, die burgergemeinde wohl auch, ebenso die arbeiter, die frauen, die juden, die künstler, die nobelpreisträger, ja selbst die bourbaki-armee bekommen etwas vom aussergewöhnlichen ab, das einem den eingang in ein geschichtsbuch öffnet.

dabei ruft niemand halt und fragt, wo steht der kanton eigentlich?

man hätte sich gewünscht, dass man als abschluss des buches eine oder einen kennerIn der berner entwicklung, ihrer gegenwart, vergangenheit und zukunft gebeten hätte, nicht nur zurückzuschauen, sondern auch auf die seite zu gucken und nach vorne zu blicken. um die leserInnen aufzuklären, was an alle dem, was berichtet wurde, in anderen kantonen auch geschah, was in bern verspätet passierte und wo der kanton führend war. und um die frage zu beantworten, die doch so drängend vor der türe steht: nämlich ob bern nicht nur eine monumentale geschichte hat, selbst in den 200 jahren der moderne, sondern auch eine ebenso tragende zukunft, in den 200 jahren, die kommen.

denn geschichte ist nicht nur bienenfleissige selbstbeoachtung. sie ist auch kritische selbstvergewisserung und nachdenkliche selbstreflexion, um nicht berge von informationen aufzuschütten, sondern auch die wege aufzuzeigen, die die erhebungen hinauf und hinab führen. leider muss ich da sagen: auf dieser spurensuche fühlt sich der wanderer durch berns räume und zeiten ziemlich alleine gelassen.

stadtundlandwanderer

lehrmeinungen zu ortsnamen – zum beispiel zu bern

seit über 100 jahren tobt ein deutungskampf, wofür der name “bern” stehe. diese woche wurde von der uni bern eine neu-alte lehrmeinung verbreitet, wonach bern mit verona verwandt sei und direkt auf die zähringischen stadtgründer zurück gehe. ich zweifle.

ankuendigungthomas franz schneider ist ortsnamenforscher an der uni bern. gemeinsam mit seinen kollegInnen gibt er das voluminöse ortsnamenbuch des kanton bern heraus. gestern ist der vierte band der umfassenden serie erschienen.

in der begleitmusik des bund diese woche begründete der basler germanist die neu-alte lehrmeinung, wonach bern eine übersetzung von verona sei und von den zähringern erfunden wurde.

die zähringer waren nach dem tod von kaiser heinrich iii. nicht wie erwartet herzöge von schwaben geworden, erhielten als entschädigung aber den herzogstitel von kärnten. das glück, das sie dabei in verona suchten, fanden sie nicht, und schon bald zogen sie sich aus dem südländischen abenteuer zurück. unter kaiser heinrich V. begannen sie dafür ihre expansion vom stammsitz bei freiburg im breisgau nach süden, während der sie im 12. jahrhundert mehrere städte der heutigen schweiz aufbauten oder neugründeten.

ferdinand vetter, professor für deutsche literatur, verbreitete 1880 erstmals die auffassung, bern sei ein einzigartiger name, der populären sage über den dietrich von bern entlehnt, die auf den ostgotenkönig theoderich zurückgehe, der in verona (eigentlich bern) seinen widersacher odoaker besiegt habe und den ort berühmt gemacht habe. dem widersprach vor gut 100 jahren paul hofer, berner historiker, weil er der germanischen begründung des ortsnamens misstraute. vielmehr leitete er den namen bern aus dem keltischen “berna” ab, meist mit kluft oder schlitz übersetzt. sein argument war weniger literarisch, dafür im geografisch verbreiteten vorkommen von der silbe “bern” ab. daraus schloss er, es handle sich um einen flurnamen, der eine enge stelle oder eine lanschaftskluft, die herrschaftlich interessant war.

der germani(sti)schen lehrmeinung der heutigen berner ortnamenforscher habe ich gestern nach der vernissage des neuen ortsnamenbuches für den kanton bern schon mal widersprochen. thomas franz schneider setzte sich gelehrt zu wehr, wohlwissend, dass die ortsnamenkunde keine exakte wissenschaft ist, in hohem masse bei deutungen stehen bleibt, für die es einige wenige belege gibt. die lassen sich bei weitem nicht immer in eine logik einreihen lassen, aus der eine klare these mit belegen entsteht. so sind lehrmeinungen für die toponomastik typisch geblieben, von denen sich in flall von bern mindestens zwei recht schroff gegenüber stehen.

aus der wenig befriedigenden situation für die wissenschaft, habe ich eine unüblichen schluss gezogen: es geht nicht darum, weitere belege für ortnamendeutungen aus alten chroniken, landkarten oder dem volksmund zu suchen, sondern wandern zu gehen. wenn es gelingt, ortsnamen in den ort einzubinden, hat man den wohl besten beweis für seine entstehung gefunden, denn orte wurden von unseren vorfahren immer wieder nach dem benannt, was sie selber hergaben. und das kann man heute noch nachvollziehen oder sich ausmalen, wenn man die entstehung der zivilisation in der landschaft studiert.

haben den literatisch gebildeten forscher schneider deshalb zu einer stadtwanderung an die aare eingeladen, die uns ins nydegg-viertel führen wird, wo wir den schlitz suchen und finden werden, durch den die aare seit tausenden vor jahren muss und der dem ort seinen sinn mit einem namen gab, bevor er durch die nachfolger der zähringer umgedeutet wurde.

stadtwanderer

von grossen ideen, meisterhaften erzählungen und dem leben im kleinen raum der geschichten

es ist ein anspruchsvolles, aber spannendes buch. übertitelt ist es mit “Geschichtsphilosophie zur Einführung”. verfasst hat es johannes rohbeck aufgrund von vorlesungen, die er in dresden für technikerInnen gehalten hatte. seit einigen tagen lese ich mit gewinn darin – wenn mir zeit bleibt.

12912052nfür mitte 2011 ist ein weiteres buch des gleichen autors unter “Technik – Kultur – Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie” angekündigt.

bis zur aufklärung haben sich philospophen nicht systematisch mit geschichte beschäftigt, ist der ausgangspunkt des buches. das ist zwar eine mutige annahme, denn in den antiken kulturen dominierte die vorstellung des (immer)wiederkehrenden die gechichtlichkeit, während die christen mit ihrer heilsgeschichte das zeitliche als wirken gottes deuteten bis zum jüngsten tag deuteten. rohbecks entschied, das einleitend zu seinem buch zu erwähnen, dann aber wegzulassen, beschleunigt das lesen. es bleibt auch so voll von tücken, wenn auch im grossartigen überblick vortrefflich vereinfacht und meisterhaft dargestellt.

vom fortschritt in der geschichte
die wichtigste geschichtsphilosophische frage der aufklärung ist die nach dem fortschritt: techniker neigen seither zu einem ja, denn neue technologien setzen sich nur dann durch, wenn sie einen mehrwert haben. kulturhistorikerInnen sind da vorsichtiger. sie verweisen auf das werden und vergehen menschlicher zivilisationen, die immer wieder neue antworten suchen und damit vorübergenden erfolg haben, ohne dass sich ist, ob sich daraus ein fortschreiten der menschheit ergibt.

im ersten buchteil schliesst sich rohbeck der fortschrittsidee voll und ganz an. analysiert wird das entstehen der universalgeschichte im späten 18. und frühen 19. jahrhundert, auf der denker wie rousseau, kant, insbesondere aber auch hegel und marx ihre je eigenen fortschrittsgeschichten verfasst haben. voraussetzung hierfür war die säkularisierung, die kritik am dogmatischen christentum und seiner verfestigung in kirchen, was den raum für aufgeklärte weltbilder eröffnete. die menschheitsgeschichte beginnt seither nicht im judentum als erstem buchvolk, sondern in den frühen hochkulturen, wie der ägyptens. mit der zivilisationsgeschichte des 19. jahrhunderts verlagert sich der ort der ursprünglichen geschichte immer weiter ins ungewisse, während die zeit eine beschleunigung erfährt. weit zurückliegendes veränderte sich in der retrospektive kaum, während die zeitgeschichte durch rasanz bestimmt wird. begründet wird dies alles im fortschreitenden fortschritt. diesem naturwissenschaftlichen verständnis vor allem von entwicklung steht eine neue teleologie gegenüber, die sich im wirken der vernunft zeigt. diese ist seit den alten griechen dort am weitesten ausgebreitet, wo auch immer auf dem erdball die spitze des fortschritts angelangt ist.

von der wissenschaftlichkeit der geschichte
in der folge analysiert rohbeck zwei strömungen, die daran zweifelten: den historiums, der das konzept eine materiell sinnvollen geschichte zugunsten methodischer sicherung der geschichtswissenschaft aufgab, und die posthistorie, die ganz allgemein die möglichkeit von geschichte negiert. ersteres verortet er als typische strömung der zweiten hälfte des 19. jahrhunderts, zweiteres als phänomen des späten 19. und des ganzen 20. jahrhunderts. beide, ist rohbeck überzeugt, haben ihre berechtigung in der gegenwart, weshalb er auch nach aktuellen vertretern sucht und sie auch findet.

der historismus reflektierte die erfahrung des industriezeitalters, mit dem sich mehr als je zuvor alles änderte. ewige werte wurden diskreditiert, der wandel der menschlichen lebensbedingungen zum neuen massstab. geschichte sollte zur fundmentalsten aller wissenschaften werden, welche das geschichtlich gewordene im menschlichen dasein immer wieder neue darstelle. zentrale autoren wie droysen, dilthey und troeltsch werden hierfür vorrgestellt, weil sie der frage nachgingen, wie historische erkenntnis möglich wird. unzweifelhaft ist geschichte so zur geisteswissenschaft geworden, die nicht mehr spekulativ den fortschritt bestimmt, dafür die quellen sichtet, kritisiert und interpretiert, um zu gesichterten aussagen zu gelangen. die aktuelleste form des historismus ortet rohbeck in den darstellungen des menschlichen bewusstseins von hayden white, der ganz den liguistic turn in den geisteswissenschaft vorwegnehmend, geschichte als poetik neu bestimmt hat. ohne erzählung keine gesichte, und ohne helden keine erzählungen. was die helden in der geschichte geleistet haben, sei aber verschieden, bestimmte white, und gäbe es romanzen, komödien, tragödien und satire nicht nur literatur, auch in der geschichte.

vom ende der geschichte
radikalere noch kritisiert die posthistorie das moderne programm der geschichtsphilosophie. denn die verheissung der aufklärung – fortschritt, wohlstand, demokratie, emanzipation – hätten sich alle nicht erfüllt. begonnen hat alles mit burckhardt weltgeschichtlichen betrachtungen, gesteigert wurde es mit nietzsches abrechnung mit der kultur, und mit adorno erreichte die posthistorische kritik ihren höhepunkt, der angesichts der katastrophe der weltkriege radikal mit dem optimismus der aufklärer abrechnete.

posthistorie meint man natürlich nicht, dass es keine zukunft mehr geben würde. doch bleibt von dem, was man mit der säkularisierung der geschichte in sie hinein proijzierte, nichts übrig. da kommt keiner am geschichtsbild von jean-francois lyotard nherum. nach ihm hat sich der fortschritt nicht in licht, sondern neue dunkelheit gebracht. die menschen seien in der moderne nicht befreit worden, sondern gesellschaftet. ihr horizont habe sich nicht erweitert, vielmehr sei er verstümmelt worden. damit verbunden ist die kritik am ökonomismus, denn “der weltmarkt macht keine allgemeine geschichte im sinne der moderne”. wie viele der posthistoriker misstraut er überragenden erzählungen, aber auch ihren kritikerInnen, weil sie die entwicklung der menscheit nicht mehr beeinflussten – und empfiehlt, sich von den grossen dingen abzuwenden, und sich dem lokalen zuzuwenden, um die entstehung von geschichte im konkreten neu zu bestimmen.

von der faszination geschichte immer wieder neu zu erfinden

während meines studiums der geschichte habe ich mich immer wieder mit fragen der “theorie der geschichte” herumgeschlagen. einerseits stand die herausforderung der sozialwissenschaften an, die theorien für neuen formen der wirtschafts- und sozialgeschichte anboten. anderseits faszinierte die alltagsgeschichten der ethnologie und psychoanalyse, die verhiessen, dass es jenseits der geschriebenen quellen neues material zu entdecken gäbe. selbst wenn ich die theorie der geschichte zum thema meines abschlussexamenes bei walther hofer gemacht hatte, musste ich mir eingestehen: die geschichte als erzählung, als wissenschaft, als philosophie neu zu entdecken, ist mega schwer.

das ist mir beim lesen von rohbeck vorzüglicher einführung wieder in den sinn gekommen: denn so treffend seine übersichten in den drei teilschritten sind, so flach bleibt seine synthese zur zukunft der geschichtsphilosophie. das ist denn auch die einzige kritik, die ich hier äussere, verbunden mit dem gedanken: dass die grosse idee in der geschichte immer noch fasziniert, die kritik an der mangelnden wissenschaftlichkeit der geschichtsphilosophen begründet bleibt und der zweifel am sinn des unterfangen auch mich nagt, aber nicht soweit, dass ich nicht mit wiederkehrender lust erzähle, den kleinsten raum schätze, ohne die grosse geschichte aus den augen zu verlieren.

stadtwanderer

2103 überholt der “osten” den “westen”

eigentlich ist es archäologe. in den letzten 10 jahre leitete er grosse unternehmen, die vergangenheit durch ausgrabungen sichtbar machten. das hat den vorteil, dass man sich nicht durch einzelne ereignisse oder personen blenden lässt, dafür muster der entwicklungen erkennt und so ein auge für langfristige veränderungen entwickelt.

wer_regiert_die_weltetwas reisserischer buchtitel: wer steht an der spitze der zivilisation, wäre eindeutig angemessener gewesen

mit genau diesem blick hat ian morris, britischer geschichtsprofessor an der top-universität im kalifornischen stanford, ein buch über die geschichte der menschheit seit der letzten eiszeit geschrieben. analysiert werden darin 16’000 jahre. nachgespürt wird informationen zu vier zentralen determinanten der gesellschaftlichen entwicklungen: der energieverbrauch, der verstädterung, den informationstechnologien und der fähigkeit zur kriegsführung. daraus ergibt sich für den historiker ein zeiträumlicher indexwert, der zu bestimmung des standes von kulturen dient.

unterschieden werden zwei geografische regionen, die auf dauer miteinander im wettstreit seien: der westen und der osten. das sind jedoch nur bezeichnungen für gesellschaftliche zentren, die über die zeit hinweg wandern. der westen begann in mesopotamien, dehnte sich auf ägypten und griechenland aus, und er erlebte mit dem römischen reich seinen ersten höhepunkt. die führung in der sozialen entwicklung ging danach aber an den osten, bis sich der westen durch die expansion über den atlantik neu aufstellte und ab mitte des 18. jahrhundert erneut zur weltspitze avancierte. zuerst lag das am british empire, dann an den vereinigten staaten von amerika.

morris sprach dieser tage in zürich, und der nzz von heute gewährte er ein ganzseitiges interview. das tönt das so: “Westeuropa war lange ein langweiliger Platz an der Peripherie. Doch vor 500 Jahren kam es zu einer Explosion des Wissens. Die Menschen lernten, grössere Schiffe zu bauen, die Ozeane zu überqueren, und kolonisierten Amerika. Damit veränderten sie den Ort, an dem sie leben. Es war plötzlich ein Vorteil, in Westeuropa zu sein. Die ehemalige Periperie wurde zum Zentrum”, liesst man da beispielsweise.

massgeblich für morris sind innovationen. entdecker interessieren ihn indessen nicht, denn kaum einer der grossen erfinder war der einzige und erste, der das menschliche wissen vorantrieb, das man ihm zuschreibt, kontert er die erzählungen über die grossen erfinder. vielmehr geht es dem historiker darum, wo sich auf begrenztem raum eine kritische masse der erneuerung ergibt. dabei verändert sich gegenwärtig selbst der begriff des ortes, analysiert er, denn heute schrumpft nicht nur der atlantik, es schrumpft der ganze globus.

historiker, die das neueste buch von morris: “Wer regiert die Welt?” lesen, mögen zuerst irritiert sein. denn er geht nicht geisteswissenschaftlich vor, wie man das kennt. vielmehr orientiert er sich an geografie, biologie und soziologie. die quantitative analyse der evolution beschäftigt ihn zuerst, dann werden grosse trends modelliert, evaluiert und festgelegt, um allgemeine schlüsse aufzuzeigen. erst dann beginnt die narration. doch auch sie ergibt sich nicht aus sicher selbst heraus, vielmehr steht die finalität der bisherigen entwicklungen schon imvoraus fest.

wir müssten aus der geschichte lernen, um die langfristigen entwicklungschancen einer gesellschaft richtig einstufen zu können, fordert der historiker. “In den letzten 15000 Jahren nahm der Index um 900 Punkte zu, für die nächsten 100 Jahre erwarte ich eine Zunahme von 4000 Punkten.”

ob das ein goldenes zeitalter ist, lässt er offen. denn ein anhänger des linearen fortschrittsdenkens, wie es im 19. jahrhundert verbreitung fand und die geschichtsphilosophie so nachhaltig prägte, ist ian morris nicht. mit dem kommenden entwicklungsschritt wächst seiner auffassung nach auch die wahrscheinlichkeit eines sozialen kollaps, was fast schon nach posthistorie tönt. auch wenn ihn das nicht gross kümmert, und er lieber schreibt: “Das Imperium Romanum brachte einen grossen Entwicklungsschub, schuf aber auch die Voraussetzung für seinen Untergang. Europa benötigte dann fast ein Jahrtausend, um diesen Rückschlag zu überwinden.” der nächste kollaps werde aber gravierender sei, den in der globalen welt von heute seien alle gesellschaften miteinander verhängt.

auch ohne das geht ian morris, wie zahlreich futurologen davon aus, dass das östliche zentrum heute besser aufgestellt ist als das westliche, fukushima zum trotz. mit einem raschen wechsel in der führung der gesellschaftlichen entwicklung rechnet der 50jährige wissenschafter jedoch nicht. “2103” nennt er symbolhaft als schaltjahr, bei dem “new york” von “tokio” überholt wird. den usa gibt er noch 30 jahre vormachtstellung, während denen die fragmentierung der herrschaft jedoch zunehmen und die zahl der konflikte wieder wachsen werde.

nicht schlecht, was da der archäologe aus seinen computeranalysen über vergangenheit, gegenwart und zukunft herausgräbt. grosse linien erkennt man auf jeden fall, materialreich sind seine schriften auch, und anregend bleiben seine spekulationen, was das alles für ferne zeiten heisst. die noch soweit vor uns liegen, dass wohl keiner meiner leserInnen sie je wird überprüfen können.

stadtwanderer

religiöse minderheiten in der direkten demokratie

gut ein jahr nach der schweizerischen volksabstimmung zum minarettsverbot legt ein politologisches forschungsteam der uni bern ein umfassendes werk zum generellen verhältnis von direkter demokratie und religiösen minderheiten vor. eine kurzzusammenfassung.

101209_minarett.indd“Minderheiten, die selbst über keine politischen Rechte verfügen, einem anderen Kulturkreis als die Bevölkerungsmehrheit angehören oder sich erst sein Kurzem im Land aufhalten, bedürfen eines besonderes Rechtsschutzes vor Volksentscheiden.” mit diesem satz schliesst adrian vatter, herausgeber des neues werkes zur religiösen minderheiten in der direkten demokratie, das eben erschienen ist, ab. zusammen mit sechs mitarbeiterinnen seines instituts hat er für den schweizerischen nationalfonds einige jahre dazu geforscht. entstanden sind dabei verschiedene berichte; folgen sollen noch mehrere doktorarbeiten. ihnen gemeinsam ist, dass sie nicht den volksentscheid zur minarettsinitiative kritisieren, wie das gerade nach der abstimmung üblich war, sich aber generelle gedanken machen, wie die rechte religöser minderheiten in der direkten demokratie gewahrt werden können.

in geraffter form präsentiert werden die ergebnisse des projekes im buch “Vom Schächt- zum Minarettverbot“. darin versammelt sind dreizehn aufsätze, welche zentrale wendepunkte in der geschichte religiöser abstimmungen nachzeichnen. die historie über 163 jahre geschichte widmet sich einem zentralen punkt der schweizerischen verfassungsgeschichte: der tatsache nämlich, dass das schweizerische grundgesetz nur für bürgerInnen christlichen glauben geschaffen wurde, und konfessionelle diskriminierungen erst in einem langwierigen prozess zugunsten einer konfessionelle neutralität zurückgedrängt wurden.

die zentrale sozialwissenschaftliche these vatters ist es, dass volksabstimmungen über minderheiten immer auch ausdruck von nähe- und distanzverhältnissen sind. je konvergenter sich beispielsweise religiöse gemeinschaften gegenüber stehen, desto eher ist die mehrheit bereit, der minderheit rechte zuzugestehen und umgekehrt. daran sollte man gesellschaftlich arbeiten, bevor die rechtstellung verändert wird, denn privilegien aus der sicht der mehrheit können schnell verwehrt werden, wenn sie ungeliebte gesellschaftsgruppen betreffen. abstrafungen via volksabstimmung bringen jedoch nichts, sodass die autoren erwägen, über minderheitenrechte via umfassende revisionen abstimmen zu lassen.

anstösse von aussen, politischer laizismus der politik und ähnliches stehen am anfang der abschaffung religiöser diskriminierungen in der bundes- und in den kantosnverfassungen, hält vatter fest. er zeichnet nach, dass in solchen prozessen die immer voraus gegangen sind, wirtschaftliche gleichstellungen einfacher zu haben waren, und kulturelle themen vermehrt zu konflikten geführt haben. was gegenüber katholiken und juden im föderalistischen kleinklein der schweiz schrittweise gelang, scheiterte indessen bisher gegenüber muslimen – auf kantonaler wie auch auf nationaler ebene.

das buch erweist sich als besonders nützlich, wo es gesellschaftliche konflikte herausarbeitet, die religiösen volksabstimmungen zurgrunde liegen, wo wiederkehrende argumentationsmuster aufgespürt werden, mit denen die rechte von minderheiten eingeschränkt werden, wo die ausgleichenden behördenstrategien und ihre politische unterstützungen nachgezeichnet werden, und wo problemlose resp. problematische vorlageninhalte und ihre politischen mobilisierungspotenziale aufgezeigt werden.

wenn man den bericht durchgeht, ist unübersehbar, dass volksentscheide zu religiösen minoritäten der letzten 160 Jahre eine sammlung von verzögerungs-, ablehnungs- und verschärfungsbeschlüssen sind, wie es die autoren in ihren eigenen worten sagen. doch das buch belehrt einen auch eines anderen. vatter und sein team wollen die direkte demokratie nicht abschaffen, so wie dies alexis de tocqueville wegen des potenzials als mehrheitstyrannei im 19. jahrhundert forderte. die verfechter gut funktionierender institutionen sind nämlich überzeugt, dass es nicht auf die einzelne enscheidung ankommt, sondern auf das design von entscheidungsverfahren. so empfehlen sie der politik die pflege der politische (vermittlungs)kultur und die etablierung verfassungsmässiger regelungen des minderheitenschutzes. zudem fordern sie verantwortungsvolle behörden und medien, gerade in religiösen fragen.

denn konfessionelle fragen sind nicht primäre themen der politik, doch so wichtige sekundäre, dass diese besondere aufmerksamkeit verdienen. denn ohne die versinkt man rasch in religiösen streitereien. die schweiz hat das zu ihrem vorteilt gelernt. jetzt wünscht man sich nicht nur zurückblickende übersichten hierzu, sondern auch vorausschauende handlungsanleitungen, damit konflikte wie jener bei der minarettsinititive nicht verdrängt, aber vermieden werden können.

stadtwanderer

soziologisches who ist who der gegenwart

es ist das aufregendste buch von soziologInnen, das ich seit langem gelesen habe. es stellt sozialfiguren der gegenwart vor, und ist damit einen abstrahierende gesamtschau über das konkrete soziale, in dem wir heute leben. jede(r) findet sich darin wieder, als treiber oder getriebener.

12573“Sozialfiguren sind zeitgebundene historische Gestalten, anhand deren ein spezifischer Blick auf die Gegenwartsgesellschaft geworfen werden kann”, steht in der einleitung der herausgeber. sie beschreiben ein bisher verkanntes phänomen: dass jede zeit ihre eigenen praktiken hat, die aus verschiedenen sphären stammen, sich aber generell durchgesetzen und für eine weile durch die gesellschaft vagabundieren. so gibt es manager nicht nur in firmen, auch in kulturellen institutionen. spekulantInnen trifft man nicht bloss an der börse, auch in medien. und beraterinnen gibt es nicht einzig für familien, auch für die politik.

stephan moebius und markus schroer, soziologie-professoren in graz resp. kassel, habe es sich zur aufgabe gemacht, die sozialfiguren unser gegenwart aufzustöbern, zu systematisieren, und sie in buchform beschreiben zu lassen. herausgekommen ist ein kaleidoskop der ist-zeit, das provoziert, erhellt, zustimmung findet, den köpf schütteln lässt – und dabei immer wieder klar macht, welche typen uns umgeben. die sponti sind nicht mehr dabei, denn sind sind out. genauso wie die tramper oder die yuppies. geblieben und gekommen sie die 34 andere sozialfiguren, die von ausgewiesenen soziologischen beobachterInnen porträtiert werden. hier sind sie:

der amokläufer.
der berater.
der bürger/weltbürger.
der dandy.
der dilettant.
die diva.
der experte.
der fan.
der flaneur.
der flexible mensch.
der flüchtling.
der fremde.
der fundamentalist.
der hacker.
der homo academicus.
der hybride.
der konsument.
der kreative.
der manager.
der medienintellektuelle.
der migrant.
der narziss.
der nomade.
der simulant.
der single.
der spekulant.
der spiesser.
der star.
der terrorist.
der therapeut.
der tourist.
der überflüssige.
der verlierer.
der voyeur.

es fehlt eigentlich nur der stadtwanderer, der ja auch immer mehr mich und andere umgibt … wer wagt dieses porträt?

stadtwanderer

orte und nicht-orte, in bern und anderswo

gemeinhin bringt man geschichte mit zeit in verbindung. denn die geschichte ist sowohl das geschehene, wie auch die erzählung darüber. alles erzählte hat einen ort, an dem etwas geschah, an das man sich erinnert. orte, kann man sagen, haben geschichte, sind ausdruck von beziehungen und stiften identität. wer den stadtwanderer kennt, weiss um genau diese zusammenhänge.

9783406605680_largemarc augé, ein führender ethnologe in frankreich, entdeckte die nicht-orte. flughäfen, supermärkte, flüchtlingslager sind für ihn orte des ortlosen. ihnen gemeinsam ist der übergang. weder wird man an nicht-orten heimisch, indem man sich niederlässt, wohnt und privatheit entwickelt. noch sind sie orte des öffentlichen lebens im eigentlichen sinne, weil man nur auf durchreise ist, sich mit waren eindeckt, die man mitnimmt, oder mit eben diesen versorgt wird, ohne dass man bleiben will.

nicht-orte schaffen keine gemeinsamkeit, schrieb augé vor knapp 20 jahren in seinem buch über non-lieu. denn an den nicht-orten herrscht einsamkeit vor. sie entstehen mit der modernisierung der lebens, der globalisierung der welt. denn mit ihnen wächst die entwurzelung, nimmt die mobilität und urbanität, lösen sich geschichte und ort auf.

an nicht-orten wimmelt es an menschen, die sich kreuzen, ohne sich füreinander zu interessieren. sie haben es gelernt, sich auszuweichen, statt sich im andern zu spiegeln. sie stellen keine fragen, weil sie gar keine antworten erwarten. sie leben nicht wirklich; sie funktionieren nur.

so treffend die idee von marc augé war, um die veränderungen in den städten der gegenwart zu diagnostizieren, so fragwürdig bleibt seine pauschalisierung. denn heute wird kein einkaufszentrum mehr gebaut, das nicht auch als treffpunkt dient, mit erlebnisparks für kinder, kinos für jugendliche und restaurants für erwachsene. so flüchtig das leben da auch sein mag, immer wieder finden sich auch an orten des ortlosen orte des treffens. flughäfen wiederum sind orte des wiedersehens und der freude, der trennung und des schmerzes, der liebe, die neue beziehungen und identitäten schafft. das alles gilt gerade auch für das flüchlingslager, dem chaos der individuellen geschichten, aus dem sehr wohl ein ort neuer kollektiver identitäten entstehen.

eines stimmt schon, wenn man sich durch die neu aufgelegten gedanken von augé liesst: der dichteste ort in bern, ist die altstadt. nicht wegen ihrer architektonischen enge. sondern wegen dem, was in ihr alles geschah, wie es repräsentiert wird und damit ein raum der gegenwart und vergangenheit ist. da kann das westside nicht mit halten. nicht nur weil es neu ist. eher weil es nicht zum bleiben einlädt, höchstens zum verweilen. so dürfte es ein ort unendlicher vieler geschichten werden, nicht aber der geschichte. und erstaunt es nicht, dass ich auf 100 wanderungen, die ich mache, vielleicht eine in die neue kunstwelt am rande des geschehens mache.

stadtwanderer

historische fakten der gegenwart

timothy garton ash ist der historiker der gegenwart. alle 10 jahre bringt er ein neues buch heraus, indem er auf die jeweils jüngste dekade der weltpolitik zurückblickt. eben erst sind seine weltpolitischen betrachtungen 2000 bis 2010 unter dem titel “jahrhundertwende” bei hanser erschienen.

jahrhundertwende“Hätten wir die Fakten über Saddam Husseins angebliche Massenvernichtungswaffen gekannt oder auch nur gewusst, wie unzuverlässig die diesbezüglichen Geheimdienstinformationen waren, hätte das britische Parlament wohl kaum für einen Krieg im Irak gestimmt. Vermutlich hätten selbst die Vereinigten Staaten gezögert. Damit wär die Geschichte des Jahrzehnts anders verlaufen.”

der schriftsteller timothy garton ash, professor für zeitgeschichte in oxford (gb) und stanford (usa), journalist für den englischen guardian, leitet so seinen virtuosen überblick über die ersten 10 jahre des 21. jahrhunderts ein. geprägt sind sie durch die lüge, die nicht nur lebensgeschichten schönt, nein, vielmehr zum obersten mittel der weltpolitik avancierte. umso eindringlicher fordert der historiker seine kollegInnen an den universitäten, in den fachmagazinen und im journalismus auf, zuerst nach den tatsachen zu suchen. denn die “Fakten sind die Pflastersteine mit denen wir die Strassen unserer Analysen bauen.” wohin die strassen führen, weiss man nicht mit bestimmtheit, schreibt er im vorwort, ihre wegmarken in vergangenheit und gegenwart jedoch müssen unerbitterlich geprüft sein.

das jüngste jahrzehnt nennt der beobachter seiner zeit auch das des faktenarrangements. genauso wie polittechnologen in moskau würden meinungsmacher in washington daran arbeiten, die grenzen zwischen realität und virtualität zu vernebeln, um, unterstützt durch möglichst viele, möglichst lang an der macht zu bleiben. seine geschichte der gegenwart entstehen als reportagen oder essays im dreiklang von recherche, lokaltermin und reflexion. an seiner universität in oxford gibt es riesige bibliotheken, fachkollegInnen für alles und studierende aus der ganzen welt. das ist seine primäre basis. die sekundäre entsteht am ort des geschehens, dem grössten privileg der zeithisgtoriker. schliesslich zieht er sich in sein arbeitszimmer zurück, um in ruhe schreiben und die tertiäre grundlage seiner bücher zu legen.

was dabei herauskommt, ist ein kaleidoskop der gegenwart, besser noch der verschiedenen gegenwarten. mit “Ein Jahrhundert wird abgewählt” resümierte er schon die 80er jahre des 20. jahrhunderts; es folgte die “Zeit der Freiheit” über das nachfolgende jahrzehnt. seiner neuesten dekade mag der gelehrte noch keinen wirkliche namen geben, denn ihr charakter wie auch ihre dauer seien noch unbestimmt. vorläufige stichworte sind der aufstieg nichtwestlicher mächte, insbesondere chinas, die herausforderung durch die erderwärmung und die krise des kapitalismus. die usa hält er trotz des neuen präsidenter barack obama für die wahrscheinlichste verliererin, gefolgt von europa, das zu wenig bereit sei, zu merken, was rund herum geschehe.

wer bis 2020 warten mag, liest dann vielleicht die erste würdigung des jahrzehnt der lügen, wie man es trotz allen bedenken einmal nennen könnte. die fakten hierzu kann man jetzt schon haben, ordentlich strukturiert in 50 essays zu “samtenen revolutionen”, “europa und andere kopfschmerzen”, “islam, terror und freiheit”, den “usa”, dem “jenseits des westens” und zu “schriftstellern und tatsachen”. beispielsweise wie orwells biografie gekämt wurde und günter grass seine ss-mitgliedschaft lange verschwieg, um nur zwei typischen fakten unserer gegenwart zu erwähnen, die lust auf mehr wecken könnten.

denn an einem so herrlichen herbsttag wie heute liest sich sich das buch, das timothy garton ash dem verstorbenen deutschen soziologen ralf dahrendorf zum 80. geburtstag widmete, ganz besonders lieblich …

stadtwanderer

lüge, list und leidenschaft

eigentlich müsste christian levrat das buch “lüge, list und leidenschaft” kennen. den geschrieben wurde es von seinem noch-bundesrat moritz leuenberger. und er versteht genau diese drei sachen als basis für sein plädoyer für die politik.

index.htmlich will es gleich sagen: die rochade überraschte – auch mich. denn es kam anders. in der ersten verteilung wechselten die bisherigen aufgrund des gewohnheitsrechts dem amtsalter nach. von doris leuthard und von eveline widmer-schlumpf wusste man um ihre präferenzen. vielleicht dachte man, sie würden es nicht machen, den es war viel von stabilisierung die rede. doch dann machten sie es. aus eigeninteresse, wahrscheinlich. so blieben das evd und das ejpd. hätte man weiterhin nach anciennität entschieden, wäre sommaruga jetzt evd-chefin, und schneider-ammann bundesrat im ejpd. das hat man nicht, und das ist ohne zweifel ein regelverstoss. das unschönste am ganzen ist, dass man das per mehrheitsentscheid von 5 zu 2 oder von bürgerlich vs. sozialdemokratisch bewerkstelligte. das verärgert, verletzt, verhärtet. damit war der anfang der neuen regierung um keinen deut besser als das ende der alten.

nun gibt es sachfragen, die man in der politik allgemein verbindlich regeln muss. da sind die allianzen generell auf auf der links/rechts-achse, auch auch auf der zwischen moderne und tradition polarisiert: aussen- und europapolitisch geht es in der regeln nicht ohne mitte/links. da hat die sp unverzichtbar ihren platz. teilweise gilt das auch bei infrastruktur und bildungsfragen, die uns bestehen im vergleich zum ausland bestimmen. innenpolitisch, vor allem in wirtschafts-, finanz- und sozialfragen regiert dagegen mitte/rechts. und das nicht erst seit vorgestern.

es gibt aber auch machtfragen. denn politik ist das ringen um die macht. demokratische politik hat an den regeln der machteroberung zu halten. das heisst nicht, dass sie nicht leidenschaftlich sein soll. das heisst auch nicht, dass sie nicht mit list betrieben werden. es heisst jedoch, dass man nicht lügen soll! vor allem nicht unter partnern!

fulvio pelli ist vielleicht kein politiker der leidenschaft. ein taktierer ist er jedoch mit sicherheit, wohl auch ein listiger. christian levrat steht ihm da in nichts nach, und er kann leidenschaftlich sein, im guten und weniger guten, wie er am montag bewies. die frontalattake auf die person vom montag abend liess erahnen, dass sie nicht ohne folgen bleiben würde. doch das ist letztlich die sache der beiden, denn pelli hat die türe zugeschlagen, aber auch einen spalt offen gelassen. das kann man nutzen oder auch nicht. wenn man sie nutzt, muss man harte beweise haben, oder risikiert für sich und sein partei viel.

simonetta sommaruga im ejpd ist für die sp mit sicherheit eine herausforderung. das war auch bei otto stich im finanzdepartement so. denn das volk will sparen, die bürgerlichen schauen eine genau finger und trotz allem wurde aus stich ein anerkannt guter kassenwart. warum soll aus sommaruga keine gute justizministerin werden? weil sie keine juristin ist! das mag nach innen ein problem sein, doch dafür hat man beamte. frau widmer-schlumpf wurde mitunter gerügt, zuviel juristin zu sein, etwa bei der minarettsinitiative, die politische dimension der debatte zu verkennen, weil sie in der frage nur ein bauproblem für untergeordnete behörden sah. eine nichtjuristin im ejpd könnte auch mehr sinn entwickeln für asylfragen, wo es auch, aber nicht nur um verfahren geht. von links kritisierte man lange genug den mangel an integrationspolitik. diese zu realisieren gehört beispielhaft zur genannten herausforderung der sp im ejpd.

wenn man vexiert ist, nur “unwichtige” departement zugestanden zu bekommen, muss man aus ihnen mehr machen. das uvek galt lange als unbeliebtes einsteiger-departement. heute ist es eines zentralen. das gleiche gilt eingeschränkt für die aussenpolitik – lange die nebensache der schweiz. heute weiss jede und jeder, dass es das potenzial hat, eine zentrale schaltstelle zu werden. ich mag das geheul nicht, die sp habe nur das eda und ejpd, wann wolle keine nützlichen iditoten sein. denn man hat spielräume in jedem departement- und man hat die gleich stimme im bundesrat.

ich rate christian levrat, zu sachfragen zurück zu kehren: hart zu fordern, und etwas flexibler als bisher auf angebote einzusteigen. immer nur pokern wie bei staatsvertrag, kann auch verhärten und zum bumerang werden. ich rat dem sp-präsidenten auch, das programm zu verbessern, denn die sp zog keinen nutzen aus der krise, verliert aber wählerInnen in die mitte. ich rate ihm schliesslich auch, die machtfragen etwas sensibler zu analyiseren, dann die zeit der einfachen polarisierung von links oder rechts ist vorbei, seit es im bundesrat wie unter den parteien eine allianz der mitte unter ausschluss von sp und svp gibt. diese wurde lange genug belächelt, in sachfragen hat sie sich schon mal bewährt, und jetzt hat sie machtvoll zugeschlagen!

mit leidenschaft – ganz sicher!
mit list – ohne zweifel auch!
ob auch mit lüge, wird man sehen.

denn den vorwurf hätte man auch neutraler ausdrücken können. denn auch moritz leuenberger spricht in seinem buch nur in recht allgemeiner form über die lüge und lügner – um abrechnungen zu vermeiden und für politik plädieren zu können. zum beispiel für vor den nächsten wahlen, um dann zu entscheiden, wer drinnen sein darf und wer aussen vor.

stadtwanderer

wissenschaft, futurologie, geschichte und literatur – und wie das alles zusammenhängt

kann man in der gegenwart die zukunft mit wissenschaftlichen mitteln erkennen? vielleicht oder teilweise, antworte ich und füge bei: man kann in der geschichte die fakten und in der literatur die zusammenhänge sehen, die einem sonst entgehen.

das buch der zukünftigen zukunft
diesen sommer hatte ich (unter anderen) zwei ähnliche, wenn auch ungleiche bücher im ferienreisegepäck. das erstes heisst “Die nächsten 100 Jahre“. verfasst hat es der amerikanische politikwissenschafter george friedman, seit 1996 leiter des privaten instituts “stratfor”, das für regierungen, armeen und medien die (amerikanische) zukunft analysiert.

9783593389301_png_6637360friedman nennt drei überragende momente für das 21. jahrhundert, die ihn optimistisch stimmen: die anhaltende macht der usa, das ende der bevölkerungsexplosion und die neuen energien aus dem weltall. das krisengerede der gegenwart in der angelsächsischen welt mag er gar nicht hören. über den islam spricht er auch nicht gerne. chinas wirtschaftsmacht reicht in seiner einschätzung vielleicht an die japans, aber nicht amerikas. sie werde soweiso an ihren eigenen widersprüchen zerbrechen, ist er überzeugt. dafür sieht er zwei andere staaten aufkommen: die türkei, welche den europäischen kontinent, insbesondere deutschland einnehmen werde, und japan, das den usa den krieg erklären werde. nicht im pazifik werde der stattfinden, sondern im weltall – und von den vereinigten staaten von amerika gewonnen werden. das werde den usa die weltherrschaft sichern, deren grenzen nicht aussen-, aber innenpolitisch begründet seien: der spanisch geprägte südwesten der usa, der erst spät von mexiko zu den usa kam, sei das grösste pulverfass des landes, an dem es auch auseinander brechen könne.

wenn man das so liest, ist man zunächst beeindruckt. denn dem autor gelingt es, sich nicht vom kräuseln der ereignisse an der medialen oberfläche der ist-zeit einnehmen zu lassen. anders als seine kollegen argumentiert er auch nicht mit ökonomischen zyklen. vielmehr sucht er nach den ganz langen wellen, die den gang der geschichte sicherer fassen als alles ander. und dennoch bleibt man skeptisch. denn friedman glaubt, dass es nur ein zukunft, nämlich die der usa, gibt, die man erkennen, indessen nicht wirklich beeinflussen kann. das kommt bei seinen kunden sicher gut an, doch nichts belegt, dass es so kommen muss.

das buch der vergangenen zukunft
an die erkennbare zukunft glaubte vor präzise 100 jahren auch der deutsche journalist arthur bremer. 22 seiner zeitgenossInnen forderte er auf, aus damaliger sicht über die zukunft zu schreiben. nicht so global, wie es friedman heute macht, sondern fein säuberlich in lebensbereiche aufgeteilt – über die zukunft des krieges also, jene des friedens, der frauen, der arbeiter, der religion, des soziallebens, der erziehung, der literatur, des theaters, der musik, der kunst, des sports, der medizin und der weltuntergänge. alles zusammen ergab das die vielzitierte anthalogie “Die Welt in 100 Jahren“.

03636717nwenn man mein zweites zukunftsbuch im ferienreisekoffer aus heutiger sicht liest, gibt es sicher ein schlüsselmoment: vorausgesagt wird, dass 2010 das telefon, damals in der ersten oder zweiten generation, drahtlos in der westentasche versorgt und somit auch überall mitgenommen werden könne, um sich jederzeit zu informieren und mit allen mitzuteilen …

bingo! könnte man nun rufen und glauben, die entwicklung von sachen wie dem handy liesse sich genau vorhersehen. doch auch dieser schein trügt. denn das gegenbeispiel wäre die erdbeere, die in brehmers buch in einem jahrhundert anwächst wie orangen, weil sie so mehr ertrag abwirft. das mag es heute in den laboratorien der gentechnologen geben, eine verbreitung wie die mobile telefonie hat sie nicht gefunden.

das ist es also nicht, was das genre auszeichnet. denn seine stärke liegt nicht in der prognose von ereignissen, sondern in der einsicht von zusammenhängen. editor georg ruppelt, der ein sensibles vorwort zur neuauflage des bestsellers von 1910 verfasst hat, insistiert denn auch auf die treffsicherheit der vorausschau bezüglich des entscheidenden zusammenspiels von technik, politik und gesellschaft in brehmers werk – oder plakativ gesagt, auf die bedeutung des fortschritts für die entwicklung des menschen und seiner gesellschaften.

getrieben wird dieser fortschritt beispielsweise durch die elektrizität, die in vielen lebensbereichen vorteile bringt, sich deshalb auch durchsetzt und dabei die an die möglichkeiten der produktion stösst, sodass der fortschritt zwischen technischen innovationen und zivilisationskritik oszillieren, die sich trotz faszinierenden neuentwicklung mit endlichkeit unserer ressourcen beschäftigt.

kurzfristig stimmte vieles von dem, was brehmer 1910 veröffentlichte, nicht. statt völkerverbindendem luftverkehr, politischer einigkeit, reichtum für arbeiter und der emanzipation für frauen, gab es 1914 den grossen krieg. die nationen europas brachen gegeneinander auf, die frauen wurden an den herd und in die fabriken geschickt, ohne rechte zubekommen, und die werktätigen männer mussten an die front, wo sie, wie noch nie in der weltgeschichte, als kanonfutter auf den schlachtfeldern der zerstörung starben. sie auch der aussagekräftige buchillustrator brehmers, ernst lübbert.

die sozialisten leisteten mit ihren revolutionen zwar einen betrag zum ende des krieges, doch entstand damit nicht demokratien, sondern volksrepubliken, die während siebzig jahren um die vorherrschaft in der welt kämpften, ohne sie zu erreichen. und um den inhaber genau dieser langfristigen globalen macht als treiber der geschichte geht es bis heute in den zukunftsschauen, die es immer wieder wert sind, gelesen zu werden.

die bücher über zukunft heute und gestern im vergleich
eines ist mir bei den lektüren diesen sommer klar geworden: die soziale futurologie, die zukunftsoptimisten wie friedman verbreiten, gibt es nicht wirklich.

sicherer sind zukunftstrends für 10, 30 vielleicht auch 50 oder 100 jahre, die in der energieversorgung, verkehrspolitik, infrastrukturwicklung oder im stadtbau ihren stellenwert in planung, entwicklung und distrubution von gütern und dienstleistungen haben. doch dabei bleibt es in allen wissenschaftlich-technischen ableitungen aus den möglichkeiten der gegenwart.

die geschichte ist keine rückwärts gewandte prophetie, wie es der philosoph friedrich schlegel formulierte. und ihre umgekehrung ist auch keine vorwärtsgerichtete geschichtserzählung, wie ruppelt schreibt. denn geschichte beschäftigt sich immer erst im nachhinein mit dem, was war. was wir, auch was hätte werden können, ist und bleibt die aufgabe der freieren literatur. diese kunstform macht uns klar, was jenseits von fakten die wesentlichen zusammenhänge sind, welche auch die gegenwart im strom der veränderungen erscheinen lassen.

stadtwanderer

über einen geistigen vater des bundesstaates in luzern referieren

eingeladen am lehrstuhl für politische philosophie an der universität luzern, hielt ich heute im rahmen des kurses “philosophie im management” einen gastvortrag zum thema “politik-öffentlichkeit-medien”. bei einigen schritten in der lauschigen reussstadt habe ich mich des einzigen lokalen politphilosophen erinnert, der wesentliches zum werden des bundesstaates von 1848 beigetragen hat: ignaz troxler.

220px-Troxler_Portrait_1830die jüngst erschienen biografie, verfasst von daniel furrer, nennt troxler einen “Mann mit Eigenschaften”. in der tat war troxler ein früher und führender liberaler, der überall, wo er auftrat, aneckte.

1780 in beromüster geboren, schloss er sich noch während seiner zeit als gymnasiast den patrioten der helvetischen republik an, und wirkte er in luzern als vermittler zwischen franzosen und dortigen gemeinden. angewidert vom opportunismus vieler seiner zeitgenossen, quittiert er jedoch schon im zweiten jahr seinen dienst, um nach jena, später auch göttingen zu gehen, wo er gleichzeitig ein studium in philosoph und medizin bewältigte. dabei lernte er namentlich friedrich schelling kennen, den führenden philosophen nach dem tode kants und vor dem aufstieg hegels, dem er sein leben lang mehr oder minder verbunden blieb.

nach seinen studien wirkte troxler in der schweiz, namentlich in beromüster und aarau als arzt und lehrer, heiratete er wilhelmine polborn, prangerte er die gesundheitszustände in seiner heimat an, wurde er ausgewiesen, erhielt er angebote für professuren in deutschland, schrieb er pamphlete gegen die herrschenden, wurde er gar gefangen genommen, und musste während seinem unsteten leben den tod zweier seiner kinder erleben, bevor sie ins erwachsenalter gekommen wären.

doch dann beginnt troxlers aufstieg als professor, wird er doch 1819 ans luzerner lyzeum berufen, und avanciert er zum präsidenten der helvetischen gesellschaft. den einheimischen konservativen viel zu liberal, macht man ihm jedoch schon bald den prozess, wird er bespitzelt, bis er nach aarau, später freiburg im breisgau wechselt. wo er sich zum politischen philosophen wandelt. er studiert die amerikanische verfassung und erkennt in ihr das vorbild für eine neuordnung der schweiz. eine grosse bundesreform mit kantonen in einer gemeinsamen nation ist sein neues ziel.

parallel dazu schreibt troxler wissenschaftlichen abhandlungen, die ihm den weg zu einer professur an der basler universität eröffnen. da wird er fast umgehend rektor, gleichzeitig aber verdächtigung laut werden, der anführer der aufständischen landschäftler zu sein. man verbietet ihm, die stadt zu verlassen, stellt ihn gar vor gericht, wo er jedoch mangels beweisen freigesprochen wird. sofort flüchtet er, verliert er dadurch aber auch seine anstellung. im aargauischen freiamt wird der umgehend gefeierter grossrat des kantons.

1834 gründet troxler den nationalverein, dessen satzungen er selber verfasst, und nimmt er den ruf als professor für philosophie an der neuen universität bern an, wo er sich namentlich mit dem wachsen der schweizerischen verfassungen beschäftigt. immer mehr überholt ihn jedoch die reale politik, und auch die studenten entfernen sich schritt für schritt vom ihm, denn seine parteinahme für die katholiken in der konfessionalisierung der inneren polarisierung wird ihm von den fortschrittlichen kräften nun schwer angelastet.

1848 erscheint troxlers wichtigste politische schrift, nun stark gemässigt, mit der er nochmals die verfassungen der vereinigten staaten von amerika zum vorbild für den schweizer bundesstaat propagiert. seine grosse idee findet nur wenige wochen nach erscheinen des bandesd ihren niederschlag in der ersten bundesverfassung der schweiz, mit der ein politischer kompromiss zwischen liberalen und konservativen ideen wenigstens institutionell gesucht und gefunden wird, der von dauer sein sollte.

einer der geisten väter, ignaz troxler, zieht sich bald danach aus dem öffentlichen leben zurück. als schelling, ebenso wie troxler vereinsamt, während einer kur in bad ragaz stirbt, organisiert er dessen letzte ruhe auf dem örtlichen friedhof. seine frau stirbt vor ihm, er selber ruht seit den ersten märztagung 1866 in aarau.

um troxler, dessen leben mit den wirren des übergangs vom ancien regime zum bundesstaat fast deckungsgleich ist, dessen wirken als arzt vor allem von rudolf steiner und den antroposophen aufgenommen wurde, wurde es danach sowohl in der philosophie, dem staatsrecht und der politik, die er alle mitgeprägt hatte, merkwürdig still. ich glaube, keiner der studierenden, wohl auch nicht der dozierenden, die mir heute in luzern zugehört, kannten die geistigen mitbegründer des schweizerischen bundesstaates wirklich. bingo!

stadtwanderer

das warten hat lange gedauert – doch ist der genuss umso grösser

worüber soll ich zuerst schreiben? – über das langsame pils im berner “della casa” oder über das neueste buch von regula stämpfli? am besten schreib ich gleich über beides.

P1010548aein doppelter genuss … (foto stadtwanderer)

“Aussen Prada – innen leer?” heisst das neueste buch regula stämpfli (wort) und friedel ammann (bild). ihr thema in wort und bild ist die moderne sklaverei, welche die konsumgesellschaft erzeugt, die werbung steigert und das design perfektioniert. denn all das schafft zwänge und kreiiert illusionen, die das leben normieren, die menschen bornieren, bis sie tot sind. insbesondere die männer und pamela anderson.

reden kann regula stämpfli. selbst rhetoriklehrer nehmen sie mittlerweile zum vorbild. das schreiben liegt ihr auch, ihre göttlichen einwürfe in radio-sendungen, tv-talks und zeitungsspalten finden regelmässig ihr publikum.

gut, bisweilen textet sie auch. fast wie eine werberin, möchte ich sagen. nur besser, würde sie postwendend erwidern und lachen.

denn an selbstbewusstsein mangelt es ihr nicht. weshalb sie ihr büchlein für den nachttisch auch “Ein philospohisches Kaleidoskop” nennt. mit letzterem bin einverstanden, mit ersterem nicht. selbst wenn ein literaturverzeichnis mit geistesgrössen von hannah arendt bis paul watzlawik als referenzen angefügt sind. immerhin, ihre gesammelten kolumnen lesen sich, auf 100 seiten zusammengefasst, klar besser als die 38 bände der gesammelten werke von marx und engels.

am besten finde ich das buch, wenn die “nervensäge aus brüssel” (nzz), seit neuestem auch “kommunikatorin des monats” (schweizer werbung) provoziert und nicht doziert. dann ist sie nämlich nicht einfach gescheit, sondern einfach echt. ihr grosses herz wider ungerechtigkeiten schlägt dann in jeder ader ihrer ganzen subjektivität, während ihr kopf mit der objektivität offensichtlich auf kriegsfuss steht.

so kommt ihre ironie kommt denn auch bei den fachkollegInnen in geschichte, politologie und philosophie mehrheitlich nicht gut an. derweil ihr witz im polemischen journalismus hoch im kurs ist. obwohl sie nicht selten genau den zerfall der politischen berichterstattung geisselt.

möglicherweise bin ich pate gestanden für die (nicht ganz neue) glosse über den “fleischgewordenen teleprompter”. denn da zieht sie über die demoskopie-demokratie mit ihren tabellen, kuchengrafiken und kurzkommentaren so wild vom leder, dass sich selbst kulturkritiker moritz leuenberger eine grosse scheibe davon abschneiden könnte.

von stämpfli selber sind die dem buch beigefügten aphorismen unterschiedlicher qualität. gefallen hat mir “Prominenz erschlägt Kompetenz auf jeden Fall”, den die medienfachfrau die ja selber eine medienfrau ist, scheint zu ahnen, wovon auch sie lebt. weniger gefallen dürfte den vereinigten akademien von europa ihr bonmont: “Ein Klischee ist doof, Hundert ergreifend, Tausend wissenschaftlich.” denn man wir einmal mehr unzulässige vereinfachung und anpassung an die medienerwartungen entgegenschmettern. hübsch ist wieder, “Der Ausdruck Medien-Demokratie erinnert mich an ein Krokodil, das Vegiburger frisst”. Die drei jungs der mutter, die ihren mann längst stellt, werden ihr die das sinnbild danken.

gedankt hat stämpfli sicher auch illustrator ammann, der keine einfache aufgabe hatte, den berg an einfällen in den meist einseitigen texten in klar begreifbare weltanschauungen zu übersetzen.

“Aussen Prada”, höre ich regula an dieser stelle ausrufen! ist das wieder alles, was dir männchen von der lektüre bleibt?

“Innen leer?” ist das buch wirklich nicht, kann man erwidern. am schönsten beobachtet ist die geschichte zur “Autowerdung des Menschen”, wo es um renault-werbung geht, die sie wörtlicher und bildlicher nimmt als die hersteller und ihre propagansten. denn “auto” ist das “selbst”, das da schon mal kauft wird, und die menschen sind die teilchen, die sich in die maschine zu fügen haben. toll entlarvend ist auch, wie sie unter dem titel “geistesblitz eines toten fisches” über pseudoexperimente berichtet, mit denen mediziner in postmodernen beliebigkeit etwas belegen können, das gar nicht sein kann, ohne dass ihnen jemand widerspricht. denn in solche erzählungen trifft sie nicht nur den zeitgeist, sie diskreditiert auch die oberflächen der permanenten stimmungmache. am prägnantesten zusammengefasst hat sie das im artikel, der dem buch auch den titel gab.

und so kann ich nur einen schluss ziehen: auf dieses buch von regula stämpfli hat man lange warten müssen, doch es hat sich gelohnt. genauso wie mein warten auf das langsame pils, das ich dann beim lesen getrunken habe und mir diesmal ein besonderer genuss war!

stadtwanderer

vergesst, vergesst alles!

erinnern ist das geschäft der historiker. christian meier, einer der renommiertesten geschichtsprofessoren deutschlands hält neuerdings dagegen und spricht vom gebot des vergessens. in einem gleichzeitig grundsätzlichen wie auch oberflächlichen gespräch, das romain leick und henryk m. broder für den spiegel mit meier führten, standen mir die haare zu berge!

pam_011provoziert gerne: pensionär christian meier, weiland professor für antike geschichte in münchen, hält das vergessen schlimmer vergangenheiten für angebracht.

geschichte ist sowohl das geschehene in der vergangenheit, wie auch der bericht darüber in der gegenwart. wo diese unproblematisch ist, verschwindet das interesse an geschichte bisweilen. doch wo sie reich an konflikten ist, ist auch die historie gefragt. genau deshalb ist auch geschichte konfliktreich.

christian maier, emeritierter professor für die antike, einer der bekanntesten historiker deutschlands, ist dabei nicht mehr wohl. sein jüngstes buch („Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns“) hat er seinem unbehagen gewidmet.

zunächst scheint alles klar. zurecht verweist meier auf die hohe wirkung, die friedensschlüsse auf die geschichtsschreibung haben. denn mit ihnen beginnt, mindestens unter den vertragspartnern, die arbeit der versöhnung. doch an das schliesst nach meier nicht etwa die kritik defür begangenen fehler, sondern direkt das vergessen an.

die heutige erinnerungsarbeit an den zweiten weltkrieg – den nazismus und die gräueltaten – widert meier gar an, wie er freimütig bekennt. zum ritual sei sie verkommen, das die heutige generation nicht mehr erreiche. damit hat er nicht unrecht, wenn auch der 81jährige kaum mehr für die jungen leute sprechen kann.

seine begründung ist scheinbar professioneller natur: keine erinnerungsarbeit habe spätere verbrechen verhindert. denn zwischen dem wunsch, aus der geschichte zu lernen, und dem willen, es zu auch tun, bestehe eine grosse diskrepanz. mehr noch, es lasse sich bezweifeln, dass erinnerungsarbeit über das notwendige hinaus irgendeinen gewinn bringe. vielmehr zeigt er sich überzeugt, dass die erinnerung an schlimmes, dieses erzeugen könne, wenn es zu rache und wiederrache anstiften.

„Erinnern, erinnern und nicht vergessen!“ diesem slogan der aufklärer nach dem zweiten weltkrieg widerspricht christian meier direkt. und die beiden spiegel-redakteure romain leick und henryk m. broder halten kaum dagegen, denn sie freuen sich (wie viele journalisten) am tabubruch des prominenten kritikers.

am heftigste geschüttelt hat es mich während der lektüre bei der aussage, wir unterlägen einem trügerischen focuswechsel, denn statt mit tätern, die vormals zu helden geworden seien, sagt der caesar-biograf meier, beschäftige man sich heute mit den opfern und ihren vorkämpfern, die zu den helden gemacht würden. zurecht!, füge ich an.

meier hingegen sagt wörtlich, vergessen könne zwar eine zweite verletzung und damit eine demütigung sein, aber es gäbe fälle, wo man ihnen das zumuten müsse. das halte ich für den grössten stuss, den ich zum thema geschichte je gelesen habe.

so halte ich es mit tacitus, dem römische historiker über die germanen: zum moralischen kern des geschäfts mit der vergangenheit schrieb er, der historiker müsse zwischen gut und böse unterscheiden können, dürfe nicht zum positionslosen chronisten verkommen. politiker sind da allenfalls pragmatischer. politisierende historiker offensichtlich auch!

stadtwanderer

mit peter bichsel in der sauna

meine seifen aus aloe für die hautpflege und vanille für die erfrischung des geistes sind aus dem kühlen norden. das duschmittel “wein&rosen” stammt aus dem warmen süden. die lektüre für die ruhezeiten zwischen zwei saunagängen ist aus der schweiz. peter bichsels gedanken über gott und die welt fordern mich bei der (fast) täglichen schwitzkur im schwedischen holzhausen.

P8020217da glaubte man diesen peter bichsel einigermassen einordnen zu können. der “milchmann” hatte aus dem primarlehrer einen schriftsteller gemacht. der gründete mit wesensverwandten wortkünstlern den progressiven berufsverband “gruppe olten”. dank der auseinandersetzung mit willy ritschard, dem sp-bundesrat, wurde bichsel gar zum politischen sprecher. seit sein freund aus der politik tot ist, hörte man mehr öffentliches lamento vom solothurner erzähler, das nicht selten aus kneipengesprächen schöpft.

und dann wird peter bichsel 2004 ehrendoktor der theologie an der universität basel. die laudatio rühmt weniger seinen beitrag zur erneuerung der religiösen wahrheit, dafür umso mehr, dass er schreibt, wo die leute lesen, und das man versteht, was er textet. ganz so, wie es die reformierten pfarrherren auf der kanzel auch tun sollten.

der bündner theologe andreas mauz gab sich damit noch nicht zufrieden. er wollte genauer wissen, wie das verhältnis von peter bichsel zur religion ist. aus seiner textsammlung, an der er die frage prüfte, entstand das buch “Ueber Gott und die Welt”, das der suhrkamp-verlag kurz vor bichsels 75. geburtstag erstmals druckte.

erhellend sind vor allem die biografischen anmerkungen. peter wächst in einer pietistisch geprägten familie auf. die eltern sind nicht fromm, schicken den sohn aber in die sonntagsschule. der findet gefallen daran und will unbedingt missionar werden, um gottes botschaft weiter zu geben.

der feldprediger im militär verärgert ihn aber gründlich. bichsel findet es eine anmassung, wenn eine person zum krieg treiben darf und dann den verwundeten den letzten segen spenden will. aus der kirche tritt er dennoch nicht aus.

sein verhältnis zu gott begründet bichsel existenziell. damit, das was ist, nicht alles ist, brauche es gott. jesus nennt er einen verwandten. zwar sei er, bichsel, kein guter cousin, aber stolz, jesus christus zu seiner verwandtschaft zählen zu dürfen.

das privileg der christen sei es, genauso wie jesus anders zu sein. da könne man predigen, was man wolle. anders als die sp, die ihre ursprünge vergessen gemacht habe, kommen die christlichen kirchen an jesus nicht vorbei, schreibt bichsel und kichert mit genugtuung.

über das so aufschimmernde, mehrschichtige verhältnis bichsels zu religion, christentum und theologie gibt der sammelband vertieft auskunft. fünf teile hat er: zuerst die laienpredigten des schriftstellers, dann die geschichte, die kolumnen und die essays zur religion; schliesslich die niederschrift eines längeren gesprächs mit der deutschen theologin dorothee sölle, die jesus christus als anderen begründete.

beim lesen kommt es, wie es kommen muss. bei den geschichten offenbart sich bichsels nähe und distanz zu gott und die welt am besten. geschichten sind sie, weil sie uns an geschichten erinnern, die wir weitergeben wollen. am liebsten erinnert sich bichsel an weihnachtsgeschichten, von denen er selber einige erzählt und geschrieben hat.

das bedürfnis zu erzählen, gehöre zum christentum, ohne jedoch ein privileg dieser religion zu sein. vielmehr sei es ein genuin menschliches bedürfnis, schreibt bichsel. wer nicht reden könne, beginne zu erzählen, weiss er. und die erzählung sei ein mittel gegen die verzweiflung, tröste auch ihn.

doch anders als die geschichten der theologen, die geschlossene lehren beinhalten, sind bichsels geschichten jedoch offen – so, dass sie von anderen weiter erzählt werden. das unterscheidet ihn und seine erzählungen von der theologie deutlich.

wir wissen es: bichsel ist nicht missionar geworden und nach afrika gegangen. seine reise ging bis ins solothurnische bellach, und schriftsteller zu sein, wurde sein beruf. mit religion hat er sich immer wieder befasst, aber mehr als soziologe, der sich interessiert, was mit ihr geschieht, wenn man sie den menschen bringt, denn als theologe, der an gottes botschaft glaubt. denn nicht diese gibt der schriftsteller weiter, sondern die buchstaben, dem grössten geheimnis unserer kultur.

so wirkt die these des herausgebers, in diesem buch dem religiösen bichsel zu begegnen, wie etwas hoch gegriffen. peter bichsel ist weniger religionskritisch, als man denken könnte. das stimmt, und das macht die lektüre zur überraschung. er ist aber auch weniger gläubig, als die theologen mit ehrungen und büchern glaubhaft machen wollen. damit müssen sich die fakultäten und herausgeber vertieft beschäftigen, wenn sie, meiner meinung nach zu unrecht, aus dem populären schriftsteller einen der ihren machen wollen.

so, nun ist aber genug über gott und die welt sinniert worden. es wird zeit, an die frische luft zu gehen …

stadtwanderer

das 20. jahrhundert bereisen

statt ein fachbuch zu schreiben, wie es für einen historiker üblich wäre, riskiert der schriftsteller geert mak, einen reisebericht durch europa des 20. jahrhunderts zu verfassen. und trifft meinen geschmack und meine verständnis von zeitgeschichte voll.

„1999 war das Jahr des Euro gewesen, Mobiltelefone hatten allgemeine Verbreitung gefunden, das Internet war zum Allgemeingut geworden, in Novi Sad hatten die Alliierten die Brücken bombardiert, die Effektenbörsen in Amsterdam und London feierten; der September war der wärmste seit Menschengedenken gewesen, und man fürchtete sich vor dem Millennium-Bug, der am 31. Dezember alle Computer stürzen würde.“

e_214770_67177_xlder essayist geert mak, der diese unaufgeregte bilanz zog, reiste 1999 ein jahr lang als journalist in europa herum. jeden tag verfasste er einen kleinen artikel für die frontseite des niederländischen handelsblatts. behandelt wurde so die befindlichkeit des kontinents am ende des jahrhunderts, das mit der weltausstellung in paris so hoffnungsvoll begonnen, mit der katastrophe der weltkriege indes eine jähe zäsur erlebt hatte.

die gegenwart europas im spiegel des 20.jahrhunderts ist das thema des speziellen geschichtsbuches, das aus diesen reisen entstanden ist. berichtet wird darin nicht aus den archiven der zeitgeschichte, wie man sie sich gemeinhin vorstellt. vielmehr wird die geschichte des bisher letzten saeculum aus den erlebnissen vor ort und den zahllosen zeugen der jüngsten vergangenheit, die nicht demonstrativ, dafür umso unvermittelt auffindbar sind.

paris 1900 – verdun 1916 – petrograd 1917 – münchen 1923 – guernica 1937 – dünkirchen 1940 – berlin 1942 – stalingrad 1943 – budapest 1956 – lissabon 1974 – danzig 1980 und srebrenica 1995 heissen die stationen, die für optimistische weltsichten, verlustreiche materialschlachten, revolutionen gegen monarchien, antidemokratische putschversuche, tödliche bombennächte, unseelige völkerschlachten, totalitäre griffe nach der weltherrschaft, aufstände gegen die sowjetunion, dekolonisierung der welt und die rückkehr des krieges in europa stehen.

„Ein furiose Zeitreise durch ein jahrhundert der Selbstzerstörung und der Wiedergeburt“ nennt „Die Zeit“ das buch, das einen durch mehr als 900 seiten beispielslos fesselt. wer seit auf dieses abenteuer einlässt, gerät in den sog der mitreissenden geschichte, aber auch der spannenden erzählung hierzu.

was und wie der bekannteste niederländische schriftsteller hier berichtet, ist wohl einmalig: flüssig, dicht und relevant zugleich. dabei ist es ganz egal, ob sich mak in einer der grossen europäischen hauptstädte, auf dem schlachtfeld von verdun, in den betriebsamen handelszentren des nordens, im ehrwürdigen reichstag in berlin, in einer pulsierenden südlichen metropole, im traurigen kz auschwitz, in stalingrad, budapest oder brüssel auf den schauplätzen der macht, in zubetonierten tschernobyl oder srebenica mit der grauenhaften erfahrung der krieges in der gegenwart befindet. denn überall begegnet mak menschen, die von ihrer erlebten geschichte berichten. was ein nachfolger des letzten kaisers, offiziere, dissidente, politikerInnen, bauern, bankiers, schriftstellerinnen und taxifahrer erfahren haben, dem weiss der begnadete publizist ein unverwechselbares gesicht zu geben.

geert mak ist für sein buch, das 2004 auf niederländisch, ein jahr danach auf deutsch erschien, auch kritisiert worden. es haben sich fehler eingeschlichen, bemängeln fachleute. und vielen rechten politikern ist der linke chronist suspekt.

das alles trägt dem gesamtwerk „In Europa“ nicht abbruch. mir hat die breite, vorsichtige herangehensweise gefallen. denn gerade bei der zeitgeschichte fallen historische urteile über den charakter eines jahrhunderts schwer. und genau in diese falle fällt der vielgereiste mak nicht.

deshalb empfehle ich es nach durchlesenen nächten all jenen, die sich zur recht beklagen, im geschichtsunterricht alles von den römern, vieles aus der renaissance, das nötigste über die modernen revolutionen, aber nichts über die jüngste zeit gehört zu haben.

stadtwanderer

frauen ohne masken

der vortragssaal im berner kornhaus war gestern bis auf dem letzten stuhl besetzt. die meisten teilnehmenden waren frauen. denn um sie und ihre berufe ging es an der buchvernissage, der nun eine ausstellung folgt.

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“frauen ohne maske” heisst das buch, das gestern vorgestellt wurde. joseph riegger, fotograf aus basel, ging viele jahre mit dem projekt schwanger, bevor er sich 2008 entschloss, es zu realisieren. mit porträts sollten frauen im beruf vorgestellt werden. 201 bildnisse von arbeitenden frauen sind so entstanden und bilden das rückgrat des neuen bildbandes.

die bilder sind alle gleich aufgebaut: es gibt einen einheitlichen hintergrund, in der linken bildecke steht ein korpus mit berufsgegenständen, und die porträtierten zeigen sich so, wie sie in ihrem alltag arbeiten. er sei nach einem strengen raster vorgegangen, um die verschiedenheit der heutigen frauenberufe zu zeigen, sagte riegger gestern abend. in der tat: die präsentierte palette ist breit. natürlich gibt es da die hebamme, die sozialarbeiterin und die sekretärin. doch mischte er auch uruloginnen, informatikerinnen, landmaschinenmechanikerinnen und selbst kaminfegerinnen darunter. und: die liste liesse sich fast beliebig verlängern. einige der so porträtiert sind uns bekannt: ruth dreifuss beispielsweise, die ökonomin, die entwicklungshelferin und gewerkschafterin war, bevor sie bundesrätin wurde. doch die meisten der vorgestellten kenne ich jedenfalls nicht, und doch vermitteln sie ein bild von ihrem berufsalltag. “Miir war wichtig, dass alle ausser der Yoga-Lehrerin, wo das nicht geht, in die Kamera schauen”, sagt riegger. denn nur so entsteht eine selbstbewusste botschaft, wo man sie nicht erwartet.

“Ein solches Buch macht Mut, sagte marieanne dürst, ehemalige präsidentin der fdp frauen und frau landammann im kanton glarus auf dem podium. sie ist die erste frau, die das schwert als symbol der macht im kanton trägt, – und sie macht das mit stolz. das heisst nicht, dass sie die männerpolitik einfach fortsetzen will; vielmehr sprach sie sich für gemischte teams in allen lebensbereichen aus. den frauen und männer haben stärken, ist ihre überzeugung, und sollten sie überall gemeinsam einbringen. zu ihren stärken zählte sie, sich als projektleiterin vorbehaltslos hinter die neuorganisation der glarner gemeinden zu stellen, um im traditionsreichen tal etwas zukünftiges zu schaffen. anita fetz, die basler sp-politikerin, ging da noch etwas weiter. wenn es nach ginge, würde sie viel mehr ins öffentliche bildungswesen investieren, die kinder früher einschulen und die berufliche qualifizierung gerade auch von frauen für berufe intensivieren. denn als ständerätin oder bankrätin weiss sie, wie oft sie gerade in spitzenpositionen und traditionellen männerdomänen wie den finanzkommissionen oder verwaltungsräten immer noch alleine ist. den wandel, den ihre generation gerade in den wahlmöglichkeiten erlebt habe, möchte sie gerne fortsetzen, auch wenn sie weiss, dass es das recht jeder nachfolgenden generation ist, aus den vorgefundenen voraussetzungen das zu machen, was einem entspricht.

für die analyse solcher sozialer trends in der gesellschaft ist im buch “frauen ohne maske” regula stämpfli, die berner politologin in brüssel, zuständig. und sie tut es so, wie man es von ihr kennt: gradlinig, provokativ und mit rhetorischem geschick. “Berufe haben kein Geschlecht”, eröffnet die autorin den porträtband, “aber ein Image. Und dieses Image verändert sich, je nachdem wie hoch der Anteil Frauen und Männer in einem Beruf ist. Und mit dem Image verändert sich auch die Bezahlung. Steigt der Frauenanteil, sinken Ansehen und Lohn. Steigt der Männeranteil in einem Frauenberuf, steigen Ansehen und Lohn nur zaghaft, aber immerhin.” der taffen ankündigung folgen im bildband keine statistiken, wie man es sich gewünscht hätte. doch erhöht das den lesespass. denn in diesem buch geht es tatsächlich zu erfahren, wie frauen im berufsalltag sind, wenn sie gerade nicht über Lohn und image nachdenken, eben: ganhz ohne masken!

stadtwanderer

bern ist vielfältiger als in unserer vorstellung

“Bern ist viel grösser als in den Köpfen”, schreibt benedikt loderer, der “andere stadtwanderer” aus bern, im nachwort zum buch “Bern baut“, das werner huber editiert und dominic uldry bebildert haben. gemeint ist damit, dass bern längst mehr als die altstadt ist, und ihr architektonischer stil gerade in den letzten 20 jahren kreativ weiterentwickelt worden ist.

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berner architekten seien selten über bern hinaus gekommen, sagt man. in bern seien sie durch ein reges politisches klima stets gefördert worden, und in zürich haben sich die entwicklungschancen durch die eth und fachpublikationen vergrössert.

die ausnahme sei die halensiedlung in herenschwanden, die 1960 vom atelier 5 gebaut wurde und national einen neuen stil mit verdichtetem bauen im grünen eingeleitet hatte. doch das ist nur die bekannteste der zahlreichen ausnahmen, schreibt werner huber. denn auf der suche nach weiteren sind die architekturkritiker vom “hochparterre” in bern auf 84 beispiele guter und interessanter architektur gestossen.

berichtet wird in ihrem nachschlagewerk nach quartieren vor allem über innovationen im jüngeren wohnungsbau, aber auch von prägenden bauten aus dem letzten hundert jahren. das ganze ist in einer allgemeinen sprache gehalten und so reich bebildert, dass man es fast schon als populäres wanderbuch durch bern betrachten kann.

in der tat: der baldachin, die welle, der bundesplatz, der bärenpark, das zentrum paul klee, das westside haben in den letzten jahren einen markanten und vielfältigen gegenpunkt zum magnet altstadt gesetzt, der durch seine einheitlichkeit bernisches bauverständnis prägte. doch nicht nur das: neue siedlungen sind im gefolge des tscharnergutes aus dem jahre 1959 beispielsweise in brünnen, schönberg ost und weissenstein entstanden. und ein areal wie das der ehemaligen wander-fabrik ist architektonisch massiv verändert worden. ohne dass man das bisher genügend gewürdigt hätte!

bern ist nicht nur grösser als in unseren köpfen, es ist auch vielfältiger als in unserer vorstellung, füge ich dem bonmont des stadtwanderer-kollegen loderer bei und empfehle das blättern im buch mit 216 seiten und 130 abbildung zum anhaltenden und kurzweiligen vergnügen für leute, die gerne immer wieder auf neues stossen!

stadtwanderer

unser schwarzenegger

in schwarzenegg ist es ruhig. die berge rings herum sind sanft. ein echo erwartet man da vergebens. und der zulgbach liegt zu weit unten im tal, sodass man sein plätschern ins aaretal nicht hört. wäre da nicht das postauto, das einmal die stunde auf dem plateau hält, würde man sich ganz im abseits wähnen.

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schwarzenegg heute, mit dem bären, wo vater ochsenbein wirt war, und dem bauernhaus, wo ulrich aufwuchs, bevor er in bern als begründer der modernen schweiz geschichte schreiben sollte (fotos: stadtwanderer)

das leben von ulrich ochsenbein

trotzdem ist man eigentlich mitten in der schweiz. denn das stattlichste bauernhaus am kirchplatz auf dem höchsten hügel von schwarzenegg trägt das schild, das mich ins berner oberland gelockt hat. es markiert das geburtshaus von ulrich ochsenbein, “dem tagsatzungspräsident, dem divisionär im sonderbundskrieg und dem ersten berner bundesrat”.

die liste der titel hätte man fast beliebig verlängern können, denn ochsenbein (1811-1890) war auch berner regierungsrat und vorsitzender verfassungskommssion, welche die erste bundesverfassung ausarbeitete. er wurde auch zum ersten nationalratspräsidenten der schweizerischen eidgenossenschaft gewählt, und er setzte durch, dass bern und nicht zürich bundesstadt wurde. in jedem anderen land ginge das glatt als staatsgründer durch.

der kleine ulrich wuchs die ersten sieben jahre seines lebens in schwarzenegg auf. sein vater war wirt im bären, wo man auch pferde wechselte, wenn man von reformierten thun ins katholische luzern wollte. das ferne ziel der reisen scheint den jungen ochsenbein geprägt zu haben. denn der spätere fürsprecher machte in der regenerationszeit militärische und politische karriere und avancierte zum radikalsten scharfmacher gegen die jesuiten an der reusstadt.

dass der kämpfer ochsenbein höchst persönlich die freischärler nach luzern führte, warf man ihm vor, als er statt henri dufour general im sonderbundeskrieg werden wollte. immerhin, als mitglied der folgenreichen ersten bundesratsequipe übernahm er das militärdepartement, führte 1849 die allgemeine wehrpflicht für junge schweizer ein und gab damit dem militärwesen in der schweiz seinen schliff.

doch im jungen staate schweiz begann, sollte bald ein jähes ende finden. 1854 geriet er in der eigenen partei zwischen die fronten, wurde als nationalrat nicht wiedergewählt, sodass er als erster bundesrat überhaupt bei der wiederfall durchfiel. enttäuscht schloss sich ochsenbein kaiser napoléon III. an. der machte ihn zunächst zum brigadegeneral über die fremdenlegion, und im deutsch-französischen krieg von 1870/71 wurde ochsenbein gar divisionär und platzhalter in bourg-en-bresse und lons-le-saunier. mit dem vermögen, das er so machte, liess er sich in der folge als gutsherr im seeland nieder. erneut versuchte er, in die politik einzusteigen, nun auf seiter der bernischen konservativen, was ihm aber misslang.

die biografie zu ulrich ochsenbein

die erste umfassende biografie über ulrich ochsenbein hat der journalist rolf holenstein vor wenigen tagen vorgelegt. 374 briefe, die im nachlass lagen und von keinem historiker beachtet wurden, dienten ihm als neue bewertungsgrundlage. denn anders als es der volksmund will, zeichnet holenstein weder ein heldenportrait, noch beteiligt er sich am bashing, das über ochsenbein noch zu lebzeiten hereingebrochen war.

denn bei seinem versuch, politisch wieder fuss zu fassen, durchlitt der vormalige volksheld eine eigentliche rufmordkampagne. zu allem übel kam hinzu, dass er seine frau emily mit dem eigenen gewehr erschoss, was ihm den rest an ehre kostete. ochsenbein – diese mischung aus tatkräftigem staatsmann und rücksichtlosem terminator – fiel danach das grosse schwarze loch des historischen vergessens.

wer einen schönen herbsttag geniessen will, dem kann ich nur empfehlen, in thun das postauto in die voralpen zu nehmen, um auf dem kirchplatz unter einem baum aus früheren zeiten angesichts des geburtshauses unseres schwarzeneggers das spannende buch von holenstein zu lesen und sich zu fragen, ob die rehabilitierung des erfinders der modernen schweiz gelingen wird oder nicht.

stadtwanderer

menschenrechte sind wichtiger als religionen

zu allererst bin ich humanistin. dann araberin, schliesslich muslimin. und bei alledem bin ich frau. das sagt elham manea, erfolgreiche buchautorin über sich selber. und fordert eine aufklärung im islam, mit der die menschenrechte über die religion und ihre gesetze gestellt werden sollen.

0001853349_0001_170geboren wurde elham manea im jemen, studiert hat sie in kuweit, zur doktorin der politikwissenschaft wurde sie in den usa. in washington lernte sie auch ihren mann kennen, mit dem sie seit einigen jahren in bern lebt. tagsüber arbeitet manea an der universität zürich als dozentin, abends schreibt sie bücher. oder liest daraus.

der humanistische islam ist ihr grosses thema. am anfang, erzählt sie bei einer lesung in der bibliothek in hinterkappelen, wollten nicht einmal ihre verwandten mit ihr darüber sprechen. doch jetzt ist alles ganz anderes. manea vesteht sich als teil einer bewegung für einen aufgeklärten islam, der namentlich unter intellektuellen in europa und in den usa anhängerInnen gefunden hat. einmal jährlich trifft man sich in berlin zu einer konferenz, um die gemeinsamen positionen zu diskutieren.

ich will nicht mehr schweigen“, heisst ihr buch selbstbewusst, aus dem sie auf einladung der reformierten kirchgemeinde wohlen berichtet. entstanden ist es als aufschrei über die ermordnung des filmemachers theo van gogh, der sich kritisch mit dem islam in den niederlanden auseinander gesetzt hat.

schnell wird klar, was sache ist: die menschenrechte stehen im zentrum ihrer lebensauffassung. sie gelten universell. ihre geburtsstunde sei sehr wohl in europa, in der französischen revolution. doch sind sie in der heutige gültigen form durch die uno erkämpft worden. sie müssen überall durchgesetzt werden.

die menschenrechte lassen sich mit dem islam vereinen, sagt manea in bewusster abgrenzung zu vielen, die religionen unverändert über das universelle recht stellen. die schweizerin grenzt sich auch vehement gegen professor christian giordano ab, der vor jahresfrist vorschlug, für immigrantInnen muslimischen glaubens die scharia zuzulassen. in ihrer lesung erzählt sie deshalb auch das beispiel, wie die kanadische regierung 2004 genau das einführen wollte und wie sie die absicht nach protesten vor allem von musliminnen zurücknahm.

ihr humanistischer islam hilft manea auch, ganz praktische fragen zu beantworten. kopftücher für kinder sind falsch. bei erwachsenen gibt sie eine differenzierte antwort. frauen müssen das recht haben, sich selber für oder gegen das kopftuch zu entscheiden, ohne zwang ihres mannes oder erwartungen der familien. selber tritt sie ohne auf und findet, musliminnen in öffentlichen ämtern in der schweiz sollten das hier auch so handhaben.

die schweiz fordert sie auf, die menschenrechte hier und überall zu verteidigen. wo toleranz zu gleichgültigkeit führt, erreicht sie genau das gegenteil von dem, was sie will, fördert sie parallelgesellschaften, lässt feindbilder zu und spielt sie den religiösen extremisten in die hände, rüttelt manea die über 100 interessierten zuhörerInnen auf. eine stunde hören sie ihrer leisen stimme und ihren dezidierten worten staunend zu, bevor sie sich mit einem warmen applaus bei der buchautorin bedanken.

den stadtwanderer erinnert sich, auch schon stadtführungen zum thema des interreligiösen zusammenlebens gemacht zu haben und zum genau gleichen schluss gekommen zu sein. menschenrechte sind das einzig universelle, was wir haben, wenn wir in aller verschiedenheit aufgeklärt zusammenleben wollen. sie hochzuhalten ist die aufgabe unserer zeit.

stadtwanderer
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