bieler bilinguisme auf dem prüfstand

es war eine tolle tagung. 180 vertreterInnen aus biel/biennes wirtschaft, gesellschaft und politik kamen zusammen, um sich über die zweisprachigkeit der stadt zu diskutieren. ich habe das einleitungsreferat gehalten. auch weil ich bilingue vortrage. vor allem aber, weil ich seit 12 jahren der zweisprachigkeit in der stadt biel/bienne beobachte.

biel

vor meinem referat nahm mich werner hadorn, bieler lokalpolitiker, zur seite. er hatte seinerzeit angeregt, man möge die probleme im zusammenleben einer mehrsprachigen stadt regelmässig diskutieren und beobachten und zu lernen. dafür unternahm er auch studienreisen entlang der deutsch-französischen sprachgrenze. in strassburg / strasbourg besuchte er das zentrum des bilinguisme und erörterte er mit dem direktor die möglichkeiten von beobachtungsinstrumente. der habe ihn in die bibliothek geführt, und ihm das baromètre du bilinguisme aus strassbourg gezeigt. und genau das wollte er in der folge für seine heimatstadt auch haben.

die arbeiten hierzu, die ich seit 1998 leiste, zeigen im wesentlichen drei sachen: die zweisprachigkeit ist in biel/bienne zu einem teil der stadtidentität geworden. alle indikatoren verweisen im zeitvergleich auf eine bewusstere und positiver eingestelltere bevölkerung. sie legen aber auch offen, dass die minderheit, die französischsprachigen, eine weniger vorteilhafte sichtweise auf das ganz haben als die mehrheit, die deutschsprachigen.

ich habe daraus drei these abgeleitet: erstens, ist die zweisprachigkeit der stadt für die politik und die öffentlichkeit von vorteil. zweitens, bin ich sicher, dass es ohne ohre die pflege der mehrsprachigkeit in wirtschaft und alltag viele nachteil gäbe. und drittens habe ich die bielerInnen aufgefordert, gleichzeitig stolz zu sein, dass sie ein vorzeigebeispiel sind, sich deshalb aber nicht auszuruhen und daran zu arbeiten, dass die ausstrahlung als vorbild zunimmt.

der kritische punkt ist, wie fast überall, die wirtschaft. wenn sprachliche minderheitsposition mit ökonomischer ungleichheit, sprich schlechterstellung übereinstimmt, gibt es schnell explosive problemlagen. in biel/bienne arbeitet man daran, muss man auch. die meisten firmen haben eine leitsprache, in der die dokumente verfasst werden. teilweise werde sie übersetzt, im mündlichen umgang hat sich die mehrsprachigkeit (nicht zweisprachigkeit) schon länger durchgesetzt. vorbildliche firmen bieten sprachkurse an, achten bei der postenbesetzung auch, keine diskriminerungen entlang der hauptsprache zuzunehmen.

das ist umso wichtiger, als der trend fast überall in die umgekehrte richtung geht: die segregation zwischen den sprachgruppen nimmt zu. man lebt vor allem nebeneinander, im schlechteren fall gegeneinander. das ziel müsste anders sein:. so stark wie nur möglich miteinander zu leben.

die zentrale motivation dafür ist, die horizonte zu erweitern, sprachen zu lernen, kulturen besser zu verstehen, und damit einen beitrag zur gesellschaftlichen entwicklung zu leisten. in biel/bienne ist man, habe ich an der tagung gelernt, überzeugt, nicht zuletzt deshalb nicht nur vor ort erfolge zu erzielen, sondern auch ausserhalb der stadt, auf den weltmärkten dank diesem bewusstsein wettbewerbsfähiger zu sein.

que les indicateurs montent avec le prochain sondages du baromètre du bilinguisme.

stadtwanderer

sprachgrenzschlängeln

von weitem gesehen spricht man gerne vom klaren und tiefen röstigraben. von nahem ist das ganze viele komplizierter. erfährt man beim wandern in der grenzregion oder im buch “Die Röstigrabenroute“.

26435786zjean-françois bergier, der kürzlich verstorbene doyen der schweizer historiker, war skeptisch, wenn man vom röstigraben sprach. denn ein loch entlang der sprachgrenze sah er nie. vielmehr zog er die französische metapher des vorhangs vor, in realität bestehend aus sprachen, mentalitäten und weltdeutungen. der röstigraben kam für ihn vor allem im fernsehen vor, das ihn mit seiner auf sprache und region beruhenden eigenheiten vertiefe, meinte er. für die deutschschweizerInnen wurde die französischsprachige schweiz zur romandie, obwohl genf und sitten, lausanne und fribourg, porrentruy und neuchâtel nur beschränkte gemeinsamkeiten haben. genau das gilt auch umgekehrt, wenn die französischsprachigen via fernsehen auf die deutsche schweiz schauen, und die mit dem allgegenewärtigen zürich gleichzetzen oder von den finsteren kräften aus der suisse profonde bestimmt sehen.

an dieser kritik ist einiges richtig. denn es gibt in der schweiz auch andere gegensätze als die sprachregionen. zum beispiel die der städte, ihrem umland, der berge und der täler. zum beispiel die der offenen und verschlossen kulturen. zum beispiel die der konfessionen, die kollektiv oder individuell ausgerichtet sind. zum beispiel die der schichten, die vermögend oder arm sind. überall, und auch entlang der sprachgrenzen.

der journalist christoph büchi, der viel über die verschiedenen verhältnisse in den schweizer regionen nachgedacht hat, glaubt, die alltagskulturen seien entscheidend, die sich in dialekten und kleidungen zeigten, aber auch im humor, der phantasie und der kunst äusserten. das zentrale an den sprachregionen erkennt er einzig in den grössenordnungen: die deutschsprachige schweiz hat viel mehr einwohnerInnen als alle sprachminderheiten zusammen, die ihrerseits ungleich zahlreich zusammengesetzt sind. das lässt verbreitet eine mischung aus ignoranz- dominanzgefühlen genauso wie abwehrreflexe dazu. deshalb existierten die sprachgrenzen vor allem im alltag der minderheiten.

das mag auch erklären, weshalb traditionelle sprachmischungen seit dem 20. jahrhundert vor allem auf der französischen seite am verschwinden sind. einwanderungen aus der deutschsprachigen schweiz – ein phänomen, das mit der uhrenindustrie zusammen hing – gingen wegen des rückgang an arbeitsstellen zurück. wer blieb, passte sich spätestens in der zweiten generation an, und wer das nicht wollte, bekam den politkulturellen druck der lokalen mehrheit zu spüren, wie es der neuenburger sprachforscher frédéric chiffelle ausdrückt. umgekehrt wird die sprachliche integration in der deutschsprachigen schweiz erschwert, weil man sowohl le bon allemand wie auch das patois, die standardsprache wie auch den dialekt, lernen müsste. spätestens an diesem scheitern die meisten einwandererInnen. begründet werden konnte das lange mit der suprematie des romanischen über das germanische, die sich namentlich bei den französischsprachigen mitbürgerInnen erfreute und wenig integrativ wirkte.

biel/bienne ist die einzige stadt, die ganz generell auf ihre zweisprachigkeit in der mehrsprachigen schweiz setzt, sich kulturellen einflüssen aus paris, zürich, basel und – wenn es sein muss auch bern – offen zeigt, eine verbindung zwischen juratälern und mittelland sucht, reichtum wie armut kennt und verschiedene konfessionen, nationalitäten und ideologien achtet. die stadt ist denn auch das eigentliche zentrum der sprachgrenzregion im westen der schweiz. deren vielfalt zwischen neumühle an der elsässisch-schweizerischen grenze und dem matterhorn im übergangsgebiet der schweiz zu italien kennen zu lernen, ist das ziel des sprachgrenzschlängelns, wie es philipp bachmann in seinem ebene erschienen buch im rotpunktverlag vorschlägt. 22 routen hat er ausgeheckt, die interessierte wanderer stück für stück mal dies-, mal jenseits der sprachgrenze fgehen können, die einen über berge führen und in tälern rasten lassen, die einen mal landschaften geniessen und mal auch städte im kulturmix entdecken lassen.

ich habe das buch “Die Röstigrabenroute” heute in murten gekauft, und es mit gewinn in morat gelesen, auprès du lac, wie man die dortigen gestade am murtensee nennt.

stadtwanderer

10 thesen zur zukunft des berner grossraumes

morgen erscheint in der bz ein interview mit dem stadtwanderer zum stand der metropol-diskussion im grossraum bern. für meine blogleserInnen schon mal 10 kernaussagen:

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der stadtwanderer und sein blick auf metrobern

1.
“Ich habe meinen Blick auf heutige Probleme, Potenziale und Perspektiven des Stadtraums Bern nicht im Büro ersonnen, sondern erwandert.”

2.
“Die Städte sind die Stiefkinder der Schweizer Politik. Deshalb wurde unser Land auf dem falschen Bein erwischt, als man in Europa vor ungefähr 15 Jahren begann, über städtische Grossräume als zentrale Schaltstellen des globalisierten Standortwettbewerbs zu diskutieren.

3.
“Erst als das Bundesamt für Raumentwicklung vor einem Jahr den Entwurf für ein Raumkonzept Schweiz präsentierte und Bern nur als Hauptstadtregion einstufte, erwachte man hier, weil man in Bern einen Rückgang der Bundessubventionen für Infrastrukturbauten befürchtete.”

4.
“Berns Stärke als Polit-Zentrum hat nationale Reichweite. Darauf muss man setzen und Berns Rolle national ausrichten – als Schaltstelle-Zentrale der drei schweizerischen Metropolitanräume Zürich, Basel und Genf/Lausanne.”

5.
“Eine Stadt ist in erster Linie eine kulturelle Leistung, ein Ort, an dem wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen vorangetrieben werden. Wenn die bernische Wirtschaft, die bernische Gesellschaft, die bernischen Intellektuellen es nicht für wichtig halten, Bern an die metropolitane Schweiz zu koppeln, dann braucht es das auch nicht.”

6.
“Es gibt in Bern ja schon das Haus der Kantone, wo das Lobbying für
kantonale Interessen beim Bund orchestriert wird. Ich sage: In Bern muss auch bald das Haus der Metropolen entstehen, das den metropolitanen Spirit, den Glauben an die Kraft der Stadt fördert.”

7.
“Der Kanton müsste auf die Universität einwirken, dass sie ein Institut für Städtepolitik aufbaut, das die Entwicklung der Metro-Regionen der Schweiz wissenschaftlich befeuert. Die Geografen haben das realisiert, die Verwaltungswissenschafter folgen ihnen, jetzt müssen auch die Politologen, Soziologen und Historiker die Herausforderung annehmen.”

8.
“Berns Hauptschlagader ist der Bahnhof, an den der ganze
Grossraum verkehrstechnisch gebunden ist, über den Städtekranz im Mittelland bis zu den Städten im Oberwallis. Daran muss der Bund interessiert sein.”

9.
“Die drei schweizerischen Metropolitanräume sind nach aussen orientiert und wenden sich unterschiedlichen Kulturräumen zu. Der Grossraum Bern als ihre Plattform in der Mitte des Landes kann für sie nur zum Magnet werden, wenn er auch wieder lernt, kulturell zu vermitteln.”

10.

“Ich plädiere für die Lancierung eines jährlich stattfindenden, expo-ähnlichen, aber kleineren Begegnungsfests, das alternierend in einer der Städte in Bern Städtekranz veranstaltet wird.”

ich freue mich darauf, mir die metro-region bern der zukunft als stadtwanderer zu erschliessen.

stadtwanderer

den berner jura ziehen lassen!

statt auf seine urbanen zentren blicke der kanton bern wieder einmal in den peripheren jura, kritisiert stephan von bergen, zeitpunkt-redaktor bei der berner zeitung. mit seinem plädoyer für eine rasche erledigung der jura-frage wird er staub aufwirbeln, der über dem kanton liegt: was ist für die zukunft des kantons, seiner regionen und zentren wichtig, und was muss deshalb priorität haben?

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idylle berner jura täuscht, die vom wiener kongress 1815 verordnete zugehörigkeit des ehemaligen fürstbistums bröckelt weiter und sorgt in bern für unsicherheit.

die fakten vorne weg: anfangs mai 2009 präsentierte assemblée interjurassienne ihren bericht zur politischen zukunft des juras und empfahl zwei szenarien, die beide auf änderungen des jetzigen status’ des berner juras hinauslaufen. biel/bienne reagierte nervös, sah es doch eine grundlage der zweisprachigkeit schwinden. das hatte auch auswirkungen auf den kanton und seine städte, der man bernisch-defensiv begegnete. anders reagierte der kanton neuenburg, der eine fusion des kantons neuenburg mit dem erweiterten kanton jura in der welschen presse vorschlug. dieser aber drängt es nicht in die höhen und tiefen des gebirgszuges, denn er orientiert sich lieber nach basel hin.

stephan von berger hält das alles aus berner sicht für einen nebenschauplatz. gestärkt, nicht geschwächt werden müsse die achse bern-biel. das habe priorität. verbessern müssten die zentren die zusammenarbeit mit den umliegenden städten. solothurn, neuenburg, fribourg stünden da zuoberst auf der liste. und schliesslich müssten sich auch die vorortsgemeinden nicht mehr von ihrer kernstadt abgrenzen, sondern mit ihr an den gemeinsamen stärken arbeiten.

denn nur so, schreibt stephan von bergen in der samstagsausgabe der bz, entstehe die hauptstadtregion bern, die in der lage sei, national so attraktiv zu sein, dass sie sich als politische schaltzentrale der metropolregionen zürich, basel und arc lémanique empfehlen könne.

sich auf nebenschauplätzen aufzuhalten, sei falsch, folgert der umtriebige redaktor der berner zeitung mit einem klaren wink an die kantonsbehörden. eine rasche volksabstimmung über kantonsgrenzen tue not. denn, so von bergens argument, wirtschaftliche und gesellschaftliche dynamiken würden nicht an den kantonsgrenzen von 1815 halt machen. das würde auch im berner jura gelten, bleibe biel/bienne doch das zentrum der arbeit und der freizeit für die menschen im südjura. und der kanton könnte sich, wenn es den berner jura wegziehe, von finanziellen verpflichtungen befreien und frei werdende ressourcen in die förderung der eigenen zentren lenken.

ein gedankengang, der den etwas unsicher wirkenden kanton bern einmal mehr provozieren dürfte, in sich aber nicht unschlüssig ist!

stadtwanderer

die voraussetzungen alltäglicher illusionen

zwar wurde das bewegte bild mit dem kino erfunden. die projektion farbiger bilder ist indessen älter. das museum neuhaus in biel/bienne weist in seiner sonderausstellung zur technik der illusion auf die spur: die zauberlaterne!


pietro scandolas welt der illusionen aus der zauberlaterne (fotos: stadtwanderer)

pietro scandola ist historiker. früher schrieb er in bern die universitätsgeschichte. ich kenne ihn noch aus dieser zeit. jetzt arbeitet er als leiter des museums/du musée neuhaus. sein neues thema ist die mediengeschichte. ganz überraschend habe ich ihn da wieder getroffen.

die gegenwärtige sonderausstellung heisst “die technik der illusion“. sie könnte auch “illusionen dank technik” heissen, denn es geht darum, wie träume unsere welt beherrschen und was die voraussetzungen dafür sind. entscheidend, so die these der ausstellung, sind die bewegten bilder, die man seit der wende vom 19. zum 20. jahrhundert auf den kinoleinwände sehen kann.

die zauberlaterne als kino vor dem kino
den historiker scandola interessiert es natürlich, was vor dem kino war. pietro sagt: “das kino war nicht eine erfindung der projektion farbiger bilder; es war nur eine perfektion. angefangen hat alles in der mitte des 17. jahrhunderts mit der zauberlaterne.”

dieses gerät bestand ursprünglich aus einer rauchenden petrollampe, aufgerüstet mit einer kanal, der das licht auf eine wand warf. in den kanal konnte man glasscheiben einfügen, auf die man bilder gemalt hatte. am anfang war alles statisch, dann entwickelte man techniken, wie man mehrere scheiben einfügen konnte und so auch dynamik in die projektion kam.

nochmals pietro: “wir haben internet, dvd, video und fernsehen. und wir haben farbbilder. sie sind die voraussetzungen der produktion von illusionen. der mensch des 19. jahrhunderts und davor hatte nichts davon. vielleicht waren die kirchenfenster die einzigen farbigen bilder, die man in seinem leben je gesehen hatte.

da musste die erfindung der zauberlaterne faszinieren. märchen wie rotkäppchen und der wolf waren bei den kindern beliebt. jetzt konnte man sie sehen. auch pinocchio, und erst noch, wie sein nase anschwoll. doch diente die erfindung nicht nur der unterhaltung, sie nützte auch der aufklärung kindern: was geschieht, wenn man ein geschwisterchen bekommt, liess sich so illusionieren: es fliegt der storch aufs dach, und er lässt das kindlein den kamin hinunter. und schon ist das brüderchen oder schwesterchen da!

die grossangelegte sonderausstellung

in der gross angelegten ausstellung kommen freaks der filmmaschinen oder der fotoapparaturen auf ihre rechnung. aber auch all jene, die sich erklären lassen, wie stark wir seit dem 20. jahrhundert in einer projektionswelt leben, werden begeistert sein. nicht zu vergessen sollte man die kinder, denn für sie gibt es an sonntagen ein spezielles programm, bei dem sie auf verschiedenste arten spielerisch auf den ernst des unernsten teils im leben vorbereitet werden.

ein tolles erlebnis für jung und alt, und auch für mich, das mir pietro scandola heute perfekt bilingue in biel/bienne geboten hat. ganz real übrigen …

stadtwanderer

von hundertstelsekunden und hunderten von jahren

den st. martinsturm in st. imier schmückt eine überdimensionierte uhr. sie steht gleichsam für die arbeit, die man in der stadt im suzetal findet. den turm selber nennt man im volksmund tour de la reine berthe, selbst wenn die anspielung auf die burgundische königin weit hergeholt ist. was solls, sagen sich die leute im erguel, denn sie haben gelernt, nach ihren eigenen uhren zu leben.

wer st. imier hört, denkt unweigerlich an uhrenindustrie. seit 1700 als erwerbszweig in der heimarbeit von st. imier bekannt, entwickelte sich diese branche im suzetal ab mitte des 19. jahrhunderts zur arbeitsteiligen fabrikarbeit. firmen wie tag-heuer, longines und breitling entstanden in st. imier oder produzieren unverändert vor ort. das hatte die bevölkerung bis zur wende zum 20. jahrhundert fast verzehnfacht. 8000 menschen lebten damals in st. imier; und das rasche wachstum des ortes sieht man dem schnell angelegten, geometrisch geordneten stadtgrundriss heute noch an, selbst wenn die bevölkerungszahl nach zwei uhrenkrisen um fast die hälfte zurückgegangen ist.

die stadt der anarchistischen internationalen
die historisch strassenschilder in st. imier erinnern an die umstände, unter dehnen die rasche instustrialisierung im juratal erfolgte. immer wieder stösst man dabei auf das massive alkoholproblem, das die familien beschäftigte. sozialreformen waren nötig, um die präzisionsarbeit in der uhrenindustrie zu gewährleisten. auf der infotafel am hotel central stösst man entsprechend auf niemand geringern als auf den russischen sozialrevolutionär mikael bakunin, der 1872 in st. imier die gegen karl marx gerichtete, anarchistische internationale der frühen arbeiterbewegung begründete.

dass bakunin mit seinem antiautoritären sozialismus im berner jura auf zuspruch stiess, sonst aber kaum erfolg hatte, hat einiges mit den verworrenen staatsverhältnissen in der gegend zu tun:

die stadt des basler bischofs

999 erhielt der basler bischof das kloster moutier-grandval von letzten burgundischen könig rudolf iii. geschenkt; damit wurde er im jura nicht nur zum obersten seelsorgern, sondern auch zum grössten grundherren. auch das kloster st. imier gehörte ihm fortan. bis 1792 blieb er als fürstbischof des kaiserreiches formell weltlicher herrscher, im jura wie in st. imier. erst napoléon bonaparte bereitete dem anachronismus ein ende, schlug das aufgelöste fürstbistum zu frankreich, bevor es, auf dem wiener kongress, als teil des kantons bern eidgenössisch wurde.

der basler bischof herrschte in den südlichen juratäler nicht direkt. zur verwaltung der weltlichen güter liess er neben dem kloster von st. imier eine burg bauen. das burgundische adelsgeschlecht d’arguel betraute er mit deren verwaltung. selbst wenn sie dem suzetal den bis heute gebräuchlichen namen “erguel” gegeben haben, ihren bischöflichen dienst quittiertem sie bereits ende des 13. jahrhunderts. darauf hin übergab der bischof seiner stadt biel 1335 das erguel zur verwaltung. doch hielt auch das nur bis zur reformation. denn von da an nahm die grosse unübersichtlichkeit ihren lauf.

die stadt der unklaren rechtsverhältnisse
die durchsetzung der reformation brauchte im erguel 80 jahre. 1610, als man soweit war, galt weder das wort des katholikenführers, der nach porrentruy geflüchtet war, viel, noch das der reformiertenführer in biel. das enteignete kloster hatte zwischenzeitlich im eidgenössischen solothurn zuflucht gefunden, und militärisch hatte man sich der erfolgreichen stadt bern angeschlossen. dank uhrenindustrie, vom neuenburgischen la chaux-de-fonds her eingeführt, war man seit dem 18. jahrhundert zudem in der lage, regelmässig gegen die herrschaft des basler fürstbischofes zu rebellieren, – und sich nach gewohnheitsrecht selber zu verwalten.

1815 verfügten die grossen aus österreich, russland und preussen, dass man in erguel und in st. imier schweizerisch werden sollte. zu bern hatte der süden konfessionell und militärisch beziehungen aufgebaut. mit der industrialisierung hatte auch die einwanderung aus bern eingesetzt. das alles fehlte dem nördlichen teil des ehemaligen fürstbistums, der katholisch geblieben, und wirtschaftlich rückständig geblieben war. in den volksabstimmungen zur gründung des kantons jura 1979 votierte man denn auch entsprechend, sodass man trotz ausgeprägt eigener politische logik in st. imier heute immer noch lieber mit berner als jura kennzeichen durch die stadt autofährt.

ein eigenes studium der verhältnisse wert
es ist tatsächlich so: dank uhren wie longines aus st. imier kann man bei ski- oder autorennen jeden ablauf der unmittelbarsten gegenwart in tausend teile gliedern, um zu bestimmen, wer sieger und wer verlierer ist. um die politische kultur der stadt st. imier zu begreifen, muss man sich schon kräftig hinknien. denn sonst versteht man das unikum im berner jura nicht.

lohnen tut es sich auf jedenfall, sagt der

stadtwanderer

rideau de roesti – röschtigraben

fast kein abstimmungswochenende vergeht, ohne dass die frage nach den sprachkulturellen unterschieden in den abstimmungsergebnissen gestellt wird. eine ausstellung des bieler museums schwab geht nun den vielfältigen erscheinungsweisen, aber auch den tieferen ursachen des röschtigrabens nach, – bleibt aber auf halbem weg stehen. ein report von der vernissage.


hochgespielt: den “röschtgraben” kann man nicht mal übersetzen, den auf französisch sei er ein vorhang, le rideau de rösti, suggeriert die ausstellung

die problematik

die kultur der modernen direkten demokratie in der schweiz entwickelte sich in den letzten 175 jahren auf kantonaler und nationaler ebene schrittweise. sie ist historisch gesehen “jung”. die kultur des eidgenössischen bewusstseins entstand seit dem 14. jahrhundert mit dem starken hang zu regionaler autonomie. geschichtlich betrachtet ist sie von “mittlerem” alter. die grundlagen aber, die sich an einem abstimmungstag mit sprachregionalen gräben äussern, sind allesamt älter: sie stammen aus der konfrontation von gallo- resp. raetoromanischer und germanischer kultur, die im 5. bis 7. jahrhundert begann und bis heute dauert.

am ende der römischen herrschaft auf dem gebiet der heutigen schweiz, an der wende vom 4. zum 5. jahrhundert, wanderten nacheinander burgunder, alemannen und langobarden ein. sie integrierten sich sehr unterschiedlich in die vorherrschende römisch-keltisch resp. römisch-raetische kultur. bei den burgunden kam dies einem recht raschen aufgabe des germanentums zugunsten der römischen tradition gleich. bei den langobarden verlief der prozess viel langsamer, aber weitgehend vollständig. nur bei den alemannen versagte fast vollständig. sie entwickelten sich in opposition zur mediteran-lateinischen welt weiter.

doch genau diese alemannische kultur ist die basis, auf der die alte eidgenossenschaft im spätmittelalter entstand: als rechtsform, um den lokalen handel auf nicht-adelige art und weise zu sichern, als stadt- und landkultur, die es so nur in der reichsprovinz gab, als militärischer zweckverband, nicht als politischer staat und später als selbstverständnis der protestantischen zentrem gegen die katholischen umländer. doch die herrschaft der alten eidgenossenschaft beschränkte sich nicht nur auf die deutschsprachigen gebiete. sie erstreckte sich auch auf teile jener regionen, die sich in der französischen resp. italienischen kultur entwickelt hatten, hielt sie jedoch als untertanengebiete.

erst mit dem fall der alten eidgenossenschaft unter französisch revolutionärem druck entwickelte sich das selbtverständnis der mehrsprachigen schweiz, das ein produkt des frühen 19. jahrhundert ist und von der freisinnigen grossfamilie im modernen bundesstaat als eine der unverwechselbaren identitäten des sonderfall schweiz gepflegt wurde. mit dem zerfall der fdp seit den 90er jahren des 20. jahrhunderts wieder zum problem wurde.


relativiert: der röstigraben vor dem hintergrund der weltpolitik, karikatur aus der ausstellung

die einladung

ein perfekt zweisprachiges buch von laurent flütsch, das als katalog des musée romain de lausanne-vidy entstanden ist, und den titel „rideau de rösti – röschtigraben“ trägt, geht genau diesem problem mit vielfältigen zeugen ihrer zeit nach:

. zunächst mit karikaturen, die fast alle aus der gegenwart stammen, das heisst, die publizistische verarbeitung rideaus de rösti namentlich in der romandie vorführen,
. dann mit volkskundlichen übersichten, speziell aus den 50er jahren des 20. jahrhunderts, die eine bilanz der alltagskultur dies- und jenseits des saane/sarine ziehen,
. ferner mit ein paar exzerpten aus der zeit des jungen bundesstaates, die den aufbau und zerfall zeitgenössischer eidgenössischer kultur am beispiel des frankens positiv und des ersten weltkrieges negativ aufzeigen, und
. und schliesslich mit archäologischer funden aus der zeit vor der kartoffel, die sich speziell mit der regionalen verbreitung von töpferwaren, alltagskleidern und beschäftigen.

momentan zu sehen ist die wanderausstellung, die auf dem buch flütschs basiert, in der zweisprachigen stadt biel/bienne, genauer gesagt im dortigen museum schwab. sie wurde am wochenende eröffnet und bietet den interessierten verschiedene zugänge zum gleichlautenden polit-kulinarischen thema: einmal als quiz im eingang, das sich mit der entwicklung des bilinguaalismus in der uhrenmetropole beschäftigt, vor allem aber als führung durch den (engen) röschtigraben, sinnbildlich als furche in der landschaft dargestellt: links bekommt man jeweils die französischsprachige perspektive vorgeführt, und rechts kann man sich das gleiche aus deutschschweizericher optik ansehen. der trick der ausstellung dabei ist verblüffend: es beginnt nur vordergründig mit den verschiedenen sprachen, es endet am schluss einer jede erläuterung bei der sichtweise der anderen sprachregion. das verbindet, wo auch immer man anfängt!

selber habe ich mich als freiburger mehrfach in dieser ausstellung wieder gefunden. manchmal habe ich mit über meine eigenen unkenntnissen gewundert. so beim alemannischen grittibänz, den es bis in die frühe nachkriegszeit in der romandie nicht gab, und der als beleg für eine eher barbarische kultur der alemannen vorgeführt wird; so beim arbeitsverkehr, der in der lateinischen schweiz signifikant höher mit dem privatwagen geleistet wird, und als zeichen des materialistischen bewusstseins in der romandie gilt; und so bei der nusstorte und dem birewegge, die, wie mir nicht präsent war, ihre ursprünge in den verschiedenen sprachregionen haben. besonders angesprochen gefühlt habe ich mich als historiker aber, als es in der ausstellung die vorgeschichte der sprachregionen ging, den zahlreichen wanderbewegungen, aus denen im schweizerischen mittelland seit langem ein gemisch aus verbindenden und trennenden alltagskulturen entstanden sind.


perfekt bilingue: der ausstellungskatalog der edition infolio

die bewertung

trotz diesem lob für das spezielle projekt, sei mir eine enttäuschung am ende der ausstellung und der buchlektüre erlaubt: eine durchgehende geschichte der beziehungen zwischen den räumen, die heute zentral zur schweiz, europäisch gesehen aber immer zu den rändern verschiedener grosskulturen gehörten, bekommt man leider nicht. nur zu gerne hätte man am schluss der vorführung eine erläuternde übersicht über die 7500 jahren nachbarschaft, die in der ausstellung und im buch angesprochen werden, die einem die wechselhaften phasen des zusammenlebens mit höhen und tiefen sichtbar gemacht hätte.

sicher wäre es hierfür nötig gewesen, die zeit vom 8. bis 18. jahrhundert nach christus, die weitgehend ausgeblendet wird, mehr informationen und eindrücke vermittelt zu erhalten. denn genau in dieser zeit vollzieht sich die unterschiedliche ethnisierung der mittellandgesellschaft, beginnt die ausbildung der sprachgebiete und setzt ihre verfestigung durch kirchen, staat, schulen und medien ein, bis napoléon dem anachronimus der deutschschweizerischen herrschaft über „die lateiner“ ein jähes ende bereitete.

damit bleibt die zentrale frage offen, was denn, trotz des evidenten röschtigrabens, die schweiz bis heute zusammenhält? ist es die immerwährende herrschaft über die alpen? sind es die verdienstmöglichkeiten vom soldwesen von damals bis zum bankenplatz von heute? oder ist es die drohende marginalisierung der drei randregionen, wenn sie in ihren umliegenden sprachkulturen aufgehen würden?

vielleicht ergibt sich die antwort hierauf auch nicht intellektuell. dann wäre die ausstellung nur der magnet, um anschliessend in die stadt biel/bienne zu gehen, gleihc zwei restaurants zu besuchen, das eine mal eine rösti, angerührt mit öl, das andere mal eine röschti, gemacht mit butter, zu bestellen, und sich mit der jeweiligen bevölkerung in seiner und ihrer sprache über das zusammenleben am berühmten vorhang/graben zu unterhalten. denn auch das bildet!

stadtwanderer

biel/bienner ausstellung

ausstellungskatalog:
laurent flütsch: rideau de rösti – röschtigraben. infolio édition CH, gollion 2006, 2. auflage.

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