europa-, asyl-, ausländer- und sicherheitsfragen: mit jedem neuen themenzyklus werden wir etwas binnenorientierter

im jargon der sozialforscher heisst sie “zeitrafferkarte”. denn sie zeigt den weg der schweiz zwischen 1974 und 2012 – nicht physisch, aber psychisch. ein kommentar zu zu themensyklen wie europa, asyl, ausländerInnen und sicherheit, mit denen die schweiz seit der ewr-abstimmung binnenorientierter wurde.

begonnen hat alles in den 70er jahren im konservativen, binnenorientierten südosten der psychologischen landkarte der schweiz. der kalte krieg bestimmte die weltanschauung, die bürgerliche schweiz politik und wirtschaft. einzig die jugend rebellierte, wollte ausbrechen, eine andere welt kennen lernen, ein anderes leben führe.
die 80er und 90er jahre brachten den wechsel: weg von der innenperspektive, hin zur aussenperspektive, weg von der tradition, hin zur neu entdeckten moderne. städtisches leben löste als leitwert das ländliche ab. multikulti avancierte auch hierzulande zum inbegriff für kommende kultur.


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gemäss dem psychologischen klima der schweiz war 2001 der eigentliche höhepunkt in dieser entwicklung, zu der es aber immer mehr gegenbewegungen gab. der weg bis 2007 war nicht gradlinig, seither geht es aber zurück in den osten, ja südosten – aus dem man gekommen war.
sicher, so konservativ wie in den 70er jahren ist die schweiz heute, wegen frauen in der politik, nicht mehr. doch in der binnenorientierung ist sie wieder fast am gleichen ort wie damals.

man kann den befund zum psychologischen weg der schweiz teilen oder auch kritisieren. im detail wird sie auch für mich fragen auf. was die grossen linien betrifft, macht sie für mich durchaus sinn.

was für die analyse des konsums seine berechtigung hat, kann man auch politischer formulieren. die jahre seit der ewr-abstimmung 1992 haben uns vier vorrangige und ungelöste themenzyklen aufgezeigt: zuerst die europa-frage, dann die asylfrage, weiters die ausländerfrage und zuletzt die frage der sicherheit im innern.


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in allen vier fällen entstanden neue, erhöhte erwartungen an die politik, die sie ungleich gut einzulösen vermochte.

vergleichsweise gut gelang dies der schweiz in der europa-frage. 1994 leitete man die verhandlungen zu bilateralen verträgen ein. 1999 fanden diese beiseitig gefeierten abschluss. im jahr 2000 sagte die schweiz ja zu den „bilateralen“, zwischen 2005 und 2009 bestätigte sich zentrale dossiers in ihrer weiterentwicklung. mit der grundsätzlichen entscheidung im jahr 2000 gelang es, die brisanz des problems mit der eu zu brechen; mit dem uno-beitritt trat gleiches auf globaler ebene ein.

ähnliches lässt sich zum asylbereich sagen. die svp-asylinitiative katapultierte 2002 die problematik noch nach oben. das parlament nahm sich dem thema an, der neu zusammengesetzte bundesrat trug das seinige bei. mit dem neuen asylrecht, über das 2006 abgestimmt wurde, kam die wende. denn die verschärftung trug zur beruhigung der situation bei – wenigstens für einige jahre.

aufgekommen ist mit der ausländerfrage ein dritter themenzyklus. die annahme gleich zweierr volksinitiativen ist ein unübersehbares signal für eine krisensituation: zuerst kam das ja zum minarettverbot, dann zur ausschaffung kriminell gewordener ausländerInnen. zu einer beruhigung in der ausländerfrage ist es danach aber kaum gekommen, denn mit der personfreizügigkeit ist eine weiteres debattenthema in diesem bereich entstanden: trotz zustimmung in der volksentscheidung, themen lohndumping, steigende mieten und bodenpreise in wachstumsgebieten sind nicht verschwunden, vielmehr haben sie unter dem motto “wie weiter mit der 8-millionen-schweiz?” ein neues stichwort zur migration gesetzt.

damit verbunden ist die sicherheitsfrage, mehr auf das innere der schweiz als auf das äussere bezogen. auch hier: zwei angenommene volksinitiativen zeigen veränderungen im empfinden der schweizerInnen auf. die verwahrungsinitiative für nicht therapierbare gewaltverbrecher war eine art frühwarnung hierfür; die unverjährbarkeitsinitiativen für pronografische straftaten an kindern machte in aller form deutlich, dass es in einer sich rasch ändernden welt immer mehr lücken im gesetz gibt.


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volksabstimmungen haben in diesen vier zyklen unterschiedliche wirkungen gehabt. in den beiden ersten markierten sie das ende einer entwicklung: dank politischen reformen in der europa- und asylfrage verringerte sich die öffentliche aufmerksamkeit für probleme, denn die politik zeigte sich in der lage, diese rechtzeitig aufzunehmen und einer reform zuzuführen.
seither haben sich die verhältnisse umgekehrt: volksabstimmungen werden immer deutlicher durch volksinitiativen bestimmt, die verdrängte probleme aufzeigen und in der abstimmung angenommen werden, noch bevor sich die etablierte politik ihnen beschäftigen konnten oder wollte. reformunfähigkeit regiert die jüngste zeit, mindestens in öffentlich relevanten themen, sodass man sagen kann: angenommene volksinitiativen haben neue themen- und problemzyklen richtig gehend befeuert.

meines erachtens passt das gut zum aufgezeigten weg der schweiz in sachen psychologischem klima. denn mit jedem neuen zyklus beschäftigt sich die schweiz einen schritt mehr mit sich selber, wird sie durch das, was in der welt geschieht angestachelt, sucht sie aber die lösung nicht in kooperationen, eher ein alleingängen. vorbei sind die zeiten, als man wie etwa nach dem ewr nein versucht hat, den abstand zwischen sich und den anderen zu verringern. gekommen sind die zeiten, in denen man sich stück für stück auf sich selber zurückzieht, und angesichts sichtbar werdender schwächen seine stärken verteidigt – für sich, nicht mit anderen.

stadtwanderer

die werte der schweizerischen europa-politik

untersuchungen des forschungsinstituts gfs.bern auf der basis der vox-analysen eidg. volksabstimmungen zeigen regelmässig wertepolarisierungen im stimmverhalten der schweizer stimmberechtigten, wenn es um fragen der europäischen integration geht. vorlagen, die mehrheitfähig sind, folgen einer regel. hier das rezept.

zustimmung nach wertmustern zu eu-vorlagen in der schweiz, die mehrheitlich angenommen wurden

quelle: vox-datenbank, eigene analysen von gfs.bern

die europa-frage ist einer der bereiche, der in der schweiz stark von werthaltungen geprägte entscheidungen fällt: tradition/moderne, aber auch binnen-/aussenorientierung gehören zu den gegensatzpaaren, die regelmässig zur beschreibung der pole in der eu-debatte verwendet werden. die hauptergebnisse unserer werteanalyse von volksentscheidungen auf der grundlage der vox-studien legt nahe, nicht nur von zwei polen, eher von drei mustern auszugehen. die drei typisierten haltungen nennen wie die binnenorientierten konservativen, die modernen schweizerInnen und die modernem aussenorientierten.

menschen, die zur ersten pruppe zählen, wollen von der öffnung der schweiz an sich nichts wissen; sie hängen der vergangenheit an; institutionell lehnen sie experimente ab. bürgerInnen mit dem zweiten muster fühlen sich schweizerischen traditionen ebenfalls verpflichtet; für neuerungen beim staat oder der armee sind sie aber offen; schliesslich befürworten sie internationale kooperationen der schweiz. letzteres ist bei personen entscheidend, die wir der dritten gruppen zuordnen; sie bevorzugen ein generelles internationales engagement; sie unterstützen ein europa-kompatibles politisches system, und sie haben sich von den altschweizerischen tugenden verabschiedet.

die langzeitbeobachtung der trends in den drei wertmustern zeigt, dass keines dieser wertmuster alleine mehrheitsfähig ist. in den 00er jahren des 21. jahrhunderts hat die präsenz modern-aussenorientierter werte etwas abgenommen, bleibt mit 35 prozent aber die gewichtigste gruppe. etwas zugenommen hat der binnenorientierte konservatismus, mit 34 prozent anteil wahl- und stimmberechtigter an zweiter stelle stehend; praktisch stabil geblieben ist die proportion der modernen schweizerinnen, die 31 prozent ausmacht.

das entscheidende bei volksabstimmungen besteht darin, ob die ja- oder nein-position eine wertesynthese eingehen kann, und so mehrheitsfähig wird. auswertungen auf der genannten basis belegen, dass die schweizerische eu-politik der letzten 12 jahre erfolg hatte, weil sie von den aussen- wie binnenorientierten modernistInnen mehrheitlich getragen war. die bilateralen I erzeugten spitzenwerte in beiden gruppen, bei der osthilfe waren die werte am tiefsten, aber immer noch klar mehrheitlich. das ist bei den binnenorientierten konservativen klar anders, denn sie haben allen abstimmungsvorlagen in der eu-frage von den bilateralen bis zum definitivum bei der personenfreizügigkeit verworfen. osthilfe und die schengen/dublin-abkommen polarisierten dabei am meisten, mit höchstwerte im nein-anteil von gegen 80 prozent.

der vorteil solcher untersuchungten besteht darin, zustimmung und ablehnung der behördlichen eu-politik in der schweiz nicht alleine auf nutzen-überlegungen zu machen, und sie auch nicht einfach als funktion des parteipôlitischen konfliktmuster zu sehen. letzteres verdeckt namentlich die innerparteiliche opposition, etwa bei den wählerInnen von fdp und cvp, die konservativer und binnenorientierter als ihre parteispitzen sind, aber auch von teilen der sp und der gps, die für einen eu-beitritt einstehen und auch gegen die bilateralen votieren können.

was nun heisst das alles für die zukunft? abstimmungsvorlagen, welche nur die werte der aussenorientierten modernistInnen ansprechen, scheitern. das hat 2001 die initiative “ja zu europa” erlebt, aus dem geist des abgelehnten ewr-beitritts geboren; sie brachte es auf 24 prozent zustimmung, wurde also nicht einmal von allen aussenorientierten unterstützt. konkreter: jede weitere eu-beitrittsabstimmung muss mit dieser polarisierung rechnen. umgekehrtes kennen wir auch: volksinitiativen, klar aus der positionen der konservativen binnenorientierung gestartet, scheitern ebenfalls. den auns-initiativen für den ausbau des staatsvertragsreferendums wegen dem eu-beitritt ist es 1997 und 2012 so ergangen. sie kamen ebenfalls auf ein viertel der stimmen, mobilisierten also nicht einmal das ganze (werte)potenzial.

obwohl bürgerInnen mit werthaltungen, die wir dem schweizer modernismus zuordnen, die zahlenmässig kleinste gruppe sind, kommt ihnen die massgebliche brückenfunktion in eu-entscheidungen zu. solange sie die behördliche europapolitik befürworten, ist diese mehrheitsfähig. sollte dies einmal nicht mehr der fall sein, dürfte es auch zu einer kehrwendung kommen. neuralgisch sind am ehesten souveränitätsfragen, aber auch die aufbauhilfe im ausland gehört dazu; wenn der nutzen der kooperation für die schweiz gegeben ist, fällt die zustimmung jedoch regelmässig positiv aus, genauso wie zum bilateralismus, der seit dem jahr 2000 die beziehungen der schweiz zur europäischen union prägt.

namentlich wenn letzteres aufgekündigt werden sollte, ist damit zu rechnen, dass die debatte über den multilateralen ansatz und die eu-mitgliedschaft auf der einen isolationismus und abseitsstehen auf der anderen seite zu neuen wertepolitisierung in der schweizer stimmbürgerschaft führen dürfte.

stadtwanderer

der erste, der es wusste, aber der letzte, der es merkte

6. dezember 1992: volksabstimmung zum bundesbeschluss über den europäischen wirtschaftsraum, wie man die ewr-entscheidung offiziell nannte. ein wenig erinnerungsarbeit.

nach tagen der spannung mit einem ausserordentlichen abstimmungskampf war es soweit: die schweiz stimmte über ihren beitritt zum ewr ab. im aussenland wunderte man sich ein wenig, denn solche entscheidungen fällt in der regel die regierung, um sich in der folge die zustimmung im parlament zu holen. ganz anders hierzulande: das volk und die kantone legten nach ausführlicher information durch die behörden und kontroversen, ausgetragen durch die verschiedenen verbände und parteien, verbindlich fest, ob der ewr-vertrag in der schweiz gültigkeit haben würde oder nicht.


rene felber, 1992 bundespräsident, gibt seine stimme zum ewr-beitritt der schweiz ab.

gemeinsam mit dem gfs-forschungsinstitut (wie unser institut damals noch hiess) führte ich bei der entscheidung über den ewr erstmals die srg-hochrechnung durch. die grundlage dafür war damals noch bescheiden: die computer brachten wir selber mit. das programm hatte mein kollege peter spichiger in freiwilligenarbeit entwickelt. die idee, wie man das machen könnte, hatte ich einige jahre zuvor an der uni entwickelt gehabt.

radio und fernsehen berichteten darüber – mit vorsicht: denn das fernsehen hatte viel früher schon eine tv-serie (die „die sechs kummerbuben“) eingekauft gehabt, die sie regelmässig am sonntagsnachmittag ausstrahlte. so war es auch am 6. dezember 1992. deshalb hiess die vorgabe an unser team „eile mit weile“. vor 14 uhr 30 durften wir nichts aussagekräftiges haben – um jegliche programmkolission zu vermeiden.

die large anforderung war an diesem tag unser glück, denn gerechnet wurde im technikraum des tv-studios. die platzverhältnisse waren sehr eng, und es kamen dauernd leute rein und gingen ebenso schnell wieder raus. da passierte es: ein fernsehmitarbeiter stolperte über das stromkabel – und weg war die ganze enerige. betroffen war auch unser compi und mit ihm das hochrechnungsprogramm. eine sicherheitskopie hatten wir nicht dabei; es blieb nur, dass mein kollege eilends ins seefeld radelte, um das original auf seinem arbeitsgerät zuhause kopieren zu gehen, damit wir die panne nach dem absturz beheben konnten.

dank den „kummerbuben“ haben die zuschauerInnen davon nichts mitbekommen. nichts erfuhren sie auch von einer ominösen umfrage, im allerletzten moment gemacht und den tv-gewaltigen zugestellt, wonach es ein positiver volksmehr geben würde. gesehen haben wir vom hochrechnungsteam das dokument nie, erfahren haben wir es dennoch. zu gut hätte das vermutete ergebnis zu den verbreiteten erwartung gepasst, wonach der ewr-beitritt am ständemehr scheitere, das volk aber mehrheitlich dafür sein werde. doch wollten das alles partout nicht zum hochrechnungsergebnis passen, das sich an diesem frühen nachmittag abgezeichnete. denn demnach würde es einen nein von volk und ständen bedeute.

als die ersten effektiven kantonsergebnisse eintrafen, war es rasch klar: der beitritt der schweiz zum ewr war gescheitert! das vorläufige endergebnis der bundeskanzlei zeigte 16 kantone im nein, 7 im ja; eine klare sache also. beim volksmehr war es effektiv knapp: 50,3 prozent dagegen und 49,7 prozent dafür. ausgesprochen hoch war die stimmbeteiligung, die mit 78.7 prozent einen rekordwert für die nachkriegszeit erreichte.

gut in erinnerung ist mir, wie gegen abend christoph blocher das tv-studio betrat, um eine erste erklärung als abstimmungssieger abzugeben. geblieben ist mir der moment, weil sein kommentar präzise die stilbildende regel vorweg nahm, die nach 1992 von der „neuen“ svp so oft praktiziert werden sollte: fixiere den schuldigen, nicht das problem! jede verantwortung, das nein verursacht zu haben, wies der zürcher nationalrat weit von sich; vielmehr machte er sofort den bundesrat für die abstimmungsniederlage verantwortlich, da er schlecht verhandelt habe und dem volk einen kolonialvertrag verkaufen wollte, sodass es nötig gewesen sei, konsequent nein zu sagen. denn bei einem ja, wäre die schweiz im nu in der eu gewesen.


medienkonferenz des bundesrates nach dem abgelehnten ewr-beitritt der schweiz, 6. dezember 1992

der bundesrat reagierte an diesem abend betreten. dem vernehmen nach waren flavio cotti von der tessiner cvp, rene felber von der neuenburger sp, jean-pascal delamuraz von der waadtländer fdp und auch adolph ogi von der berner svp in der landesregierung für einen eu-beitritt eingetreten. der appenzeller arnold koller (von der cvp), der luzerner kaspar villiger (von der fdp) seien für den ewr, aber gegen einen folgeschritt mit dem eu-beitritt gewesen, munkelte man. wo der solothurner otto stich (von der sp) stand, wusste man auch halböffentlich nicht so genau; für den eu beitritt war er aber mit sicherheit nicht gewesen.

am abend spät verlies ich das tv-studio, um in zürich in einem hotel zu übernachten – denn für den montag waren erste analysen angesagt. als ich im lift in meine zimmeretage fuhr, sagte ich zu mir: „das ist ja nein!“ den ganzen tag hatte ich als analytiker funktioniert, war als einer der ersten im bilde, was kommen sollte. doch sollte ich es als einer der letzten merken, was geschehen war. erst als ich meine rolle niedergelegt hatte, begann ich zu begreifen, dass die schweiz am 6. dezember 1992 nicht beigetreten war.

stadtwanderer

frühere artikel zum ewr-entscheid und seinen folgen:

auf dem stadtwanderer:
20 jahre nach dem nein zum ewr – was ist daraus geworden?
die vox-analyse des landwanderers
stell dir vor, es ist europatag, und einer denkt dran
lachen, selbst lächeln tut der schweizer europapolitik gut
die schweiz, der diskurs und der zusammenhalt
nom de dieu!
mauluege …
auf der such nach sternstunden der schweizer geschichte
finale! – finale? – finale!
das unvollendete werk des konservativen revolutionärs
was ist das für eine zeit, in der wir leben?
meinen autonomen nachvollzug nachvollziehen

auf Zoon Politicion:
Mit Aktionismus ins Abseits
20 Jahre Institutsleiter am gfs.bern
20 Jahre Hochrechnungen zu Volksabstimmungen
Sackgasse Bilaterale?
Die Geburt der Opposition am 6. Dezember 1992
Immer wieder dieser Röschtigraben!
Spaltungen der Schweiz bei Volksabstimmungen systematisch untersucht

20 jahre nach dem nein zum ewr – was ist daraus geworden?

zofingen, freitag abend: das gasthaus raben hat zu. dennoch finde die letzte veranstaltung der örtlichen historischen gesellschaft 2002 statt. geladen bin ich, um fast auf den tag genau 20 jahre nach der ewr-abstimung zu referieren.


kleine runde nach dem vortragsabend

gut 50 personen sind gekommen, vor allem geschichtsinteressierte, aber auch bürger und bürgerInnen, denen die res publica wichtig ist. bevor ich reden konnte, wurde der tagesschau-beitrag vom januar 1993 gezeigt, der die ergebnisse der vox-analyse zur genannten volksentscheidung zusammenfasste. das klaren stände-nein (16 von 23 kantonen dagegen), vor allem das knappen volks-nein (50,3% dagegen) liess sich in 5 konfliktlinien aufteilen: vom misstrauen in den bundesrat war die rede, vom röschtigraben, von unterschiedlichen werten in städten und auf dem land, von den divergierenden einschätzungen zwischen den bildungsschichten und der polarisierung des parteiensystems. am schluss darf ich einschätzen, ob das ergebnis verbindlich sei oder ob es zu einer zweiten volksabstimmung komme.

aus der distanz von 20 jahren ist namentlich die wirkungsgeschichte dieser zäsur der schweizerischen politlandschaft einfacher nachzuzeichnen. drei blickwinkel hatte ich mir für meinen vortrag vorgenommen: den politischen, auf das programm, das aus dem 6. dezember 1992 entstand; den politologischen, auf die entstehung einer neuen, mächtigen konfliktlinie in der schweizer politik gerichtet; und den zeitgeschichtlichen, dargestellt im spiegel von stellungnahmen prominenter historiker zum ewr-entscheid.

stichworte zum programm der schweiz nach 1992 waren die volksinitiativen der auns, welche die eröffnung von beitrittsverhandlungen für eine eu-mitgliedschaft von einem vorgängig positiven abstimmungsergebnis abhängig machen wollte, aber auch die der bewegung „geboren am 7. dezember 1992“, die einen sofortige eu-beitritt verlangte. beide scheiterten in der volksabstimmung klar, mit je einem viertel zustimmung. 1994 begann mit der verhandlungen für bilaterale verträge mit der eu die phase zwei, die im jahr 2000 mit der 67prozentigen zustimmung des volkes zu den biilateralen verträgen endete. Seither ist ein komplexes vertragswert entstanden, das innen politisch zwischen 2005 und 2009 dreifach mit volkentscheidungen abgesichert wurde. in der heutigen phase drei ist aussenpolitisch vor allem die frage der institutionellen regelungen und damit der rechtssicherheit hängig; innenpolitisch drängen probleme mit dem freizügigkeitsabkommen am meisten.

mein zweiter teil folgte der idee, dass sich die schweiz nach dem ewr-nein zunächst nach aussen öffnete, progessiver wurde, in dem urbane, vernetzte schichten an bedeutung für politik und kultur gewannen. indes, das klima kippte spätestens 2006 mit der abstimmung über das neue asylgesetz und wird seither wieder vermehrt durch werte der abgrenzung und des konservatismus geprägt. themen wie europa- oder asylfragen konnten mit volksabstimmungen entschärft werden, während namenlich die ausländer- und sicherheitsfragen durch ebensolche volksentscheidungen von der verwahrungs- bis zur ausschaffungsinititive angeheizt wurden. polarisiert wurde so zwischen urbanen und ruralen räumen mit rotgrünen parteien, die in den grossen städten und der svp, die in den ländlichen gegenden den ton angeben. erschüttert wurde auch die bisher stabile zusammensetzung des bundesrates, sodass die konkordanzfrage mehrfach aufgeworfen wurde. beantowrtet wurde diese bis jetzt dahingehend, dass wir uns auf dem weg zu einem europäischen normalfall befinden, aufgrund von direkter demokratie, förderalismus und relativer autonomie der regierung gegnber dem parlament jedoch weit entfernt bleibt, vom britischen vorbild eine demokatie mit regierung und opposition.

diese bilanz erlaubte es mir zur zeitgeschichtlichen würdigung der ewr-entscheidung und ihren folgen durch historiker zu wechseln. christoph mörgerli zitierte ich, weil er geschichte mit geschichten verwechsle, wenn er seine eigene entlassung an der uni zum signal hochsitiliere, dass eu-gegner im öffentlichen dienst nichts mehr zu suchen hätten. jakob tanner erwähnte ich, weil er meint, die schweiz habe im 20. Jahrhundert den traum geträumt, den sie in den nächten der weltkriege gehabt habe, aus dem sie nun stück für stück erwachen müsse. thomas maissen kam als liberaler skeptiker zu wort, wonach jede grundsätzliche veränderung in der schweiz aufgrund der zentralen machtverteilung als verlust von souveränität und anwachsender frembestimmung erschienen müsse, was zum immobilisimus führe. schliesslich verwies ich auf den cvp-nahen historiker urs altermatt, der während seiner abschiedrede an der universität freiburg davon sprach, das sich europa verschweizere – und das ohne mithilfe der schweiz, um dieses paradoxon zum anlass zu nehmen, für einen neue euorpadebatte in unserem land zu plädieren.

selber habe ich mich in den 20 jahren gewandelt. in den 90ern war ich eher gegner der bilateralen, nicht zuletzt wegen des damit verbundenen “autonomen nachvollzugs” der eu-gesetzgebung. wenn ich heute die bilateralen befürworte, dann deshalb, weil auf diesem weg die schweizer wirtschaft die essenz dessen bekommen hat, die sie seinerzeit mit dem ewr-beitritt anstrebte. die politik wiederum kann darauf verweisen, ein projekt formuliert zu haben, dass dem ewr-nein rechnung trägt und damit den populistischen protest gegen die europapolitik entkräftete. einen eu-beitritt sehe an vielen denkbaren hürden in der schweiz scheitern; ein nachträgliches mitmachen im ewr würde wohl die gleiche ständemehrsproblematik kennen wie damals. das ziel, in einem föderalistischen und demokratischen europa dabei zu sein, sollten wir nicht aufgeben, denn die akzeptanz bilateraler lösungen nimmt gerade unter den eu-mitgliedstaaten ab, der weg dazu ist aber noch nicht gefunden.

das publikum in zofingen dankte für auslegeordnung, analysen und wertungen, sodass wir im geschlossenen raben am stammtisch im verkleinerten kreis zu gemeinsamen bier übergehen konnten.

stadtwanderer

die freiburger eidgenossen von 1225

die ältesten eidgenossen kommen nicht aus der urschweiz, sondern aus freiburg, schreibt georges andrey, freiburger historiker, in seinem eben erschienen buch über die suisse romande.

nein, es geht nicht noch einmal um die frage, wann die eidgenossenschaft gegründet wurde. 1307 sagte der humanist aegidius tschudi im 16. jahrhundert, 1291 schob wilhelm oechsli am ende des 19. jahrhunderts nach und prägte damit das bis heute gültige datum. es geht auch nicht um die frage, ob sich damals eidgenossen verbündeten, oder ob gleichzeitig die eidgenossenschaft entstand. seit längerem negiert man letzteres. die prominenteste stimme hierzu stammt von thomas maissen, der die beendigung des alten zürichkrieges im frieden von 1450 als den moment erkennt, mit dem aus den lockeren bündnissen die eidgenossenschaft entstand, deren mitgliedschaft forthin exklusiv war.

doch geht es um die entstehung eidgenössischer bündnisse. denn da beanspruchten die innerschweizer die ersten gewesen zu sein. zuerst bekam uri vom kaiser einen freiheitsbrief, dann schwyz, schliesslich auch unterwalden. zusammen bildete man, ab 1291 die (innerschweizer) eidgenossenschaft, der sich im 14. jahrhundert luzern, zürich und bern mit verbündeten anschliessen sollte.

ich habe auf im stadtwanderer-blog schon mehrfach geschrieben, dass zwischen bern und freiburg ab 1243 eine vertragliche verbindung bestand, die vergleichbar, aber älter ist. nun schreibt georges andery, der freiburger historiker, in seinem neuesten buch über die geschichte der suisse romande, dass man das anders sehen müsse. das zentrum sei nicht in bern, vielmehr freiburg gewesen. denn freiburg bildete schon 1225 ein bündnis mit payerne; 1239 folgte eines mit avanches, und 1243 kam das besagte mit bern hinzu, womit freiburg eine kleine metropole im burgundischen geworden war, stark genug um dem mächtigen bischof von lausanne und dem savoyischen adel auf dem plateau zu widerstehen.

„comburgeosie“ nannte man diese bündnisse. geschlossen wurden sie zu verteidigungszwecken; man nutzte sie auch, um sich gegenseitig das marktrecht zu sichern. initiiert wurden sie um rechtssicherheit zu schaffen, namentlich in zeiten, in denen das königliche resp. kaiserliche recht nicht mehr sicher war. grund hierfür war das beginnende zerwürfnis zwischen kaiser friedrich ii. und papst honorius iii., ausgelöst durch die eroberungen friedrichs an der ostsee, in denen er ohne zustimmung des kirchenherren den deutschorden mit der mission betraute. der rest ist bekannt. friedrich regierte wie ein römischer kaiser über das mittelmeer; vom papst wurde er als ketzer mehrfach gebannt. im norden versagte friedrichs sohn heinrich, bis er vom eigenen vater als könig abgesetzt wurde. jetzt kümmerten sich die städte mittelalterlichen typs um die kostanz des rechts – mit comburgeosien eben.

zwar lagen payerne, avanches, freiburg und bern auf burgundischem boden. sie alle verdankten ihre existenz oder neugründung dem kaiser und seinen vasallen. sie traf der zerfall der kaiserlichen macht hart, und sie haben die idee der städtebündnisse aus oberitalien ins burgundische gebracht. damit gingen sie weiter als die innerschweizer eidgenossen, die auf kaiserliche privilegien aus waren, um sich gegen den lokalen adel, besonders die habsburger, zu wehren, denn die garantieren von höchster stelle sollten von übergriffen schützen.

sicher, georeges andrey ist als historiker nicht unbestritten. sein letztes buch zur schweizer geschichte (“l’historie de la suisse pour les nuls”) wirbelte namentlich in der westschweiz die historikerzunft gehörig auf. denn der freiburger kann gut schreiben, rehabilitierte damit die politische geschichtsschreibung gegenüber der sozialwissenschaftlichen, nimmt aber wertungen vor, die insbesondere den historikern in lausanne nicht gefallen. unabhängig davon, meines erachtes lohnt es sich, die geschichte von schwurbündnissen, die zur eidgenossenschaft führten, wie andrey es vorschlägt, neu zu bedenken, selbst wenn sie nicht von dauer waren. abgesehen davon, dass es ganz reizvoll ist zu hören, dass diese nicht nur landschaften entstanden, sondern durch städte, sagt sich der

stadtwanderer