Heute vor 174 Jahren: Bern wird Bundesstadt

“In den letzten Wochen vor der parlamentarischen Abstimmung Ende November 1848 entbrannte ein Duell zwischen den Rivalen Bern und Zürich. Die Wahl wurde zu einer eigentlichen Prestigefrage.
Die Neue Zürcher Zeitung machte mobil gegen Bern: „Wir denken, die wunderlieblichen Ufer des Zürchersees, mit dem romantischen der Gemisch der Zauber der Natur mit den Reizen menschlicher Kunst werden auch in Zukunft, wie bisher, weit mehr anziehen als die wilden Felsmassen des Vierwaldstättersees oder die ernste, melancholische Umgebung Berns.“ Und es gebe noch die Eisenbahn, die als Erholung genutzt werden könne.
Der Nouvelliste vaudois hingegen setzte sich für Bern ein: Es handle sich zwar um eine langweilige Stadt, wo Kälte und Nebel herrschten; ausserdem seien die Einwohner nicht sehr zuvorkommend. Aber dies diene letztlich dem Ratsbetrieb: Die Nationalräte sollten schliesslich nicht ein fröhliches Leben führen, sondern arbeiten. Bern sei glücklicherweise kein „kleines Paris“. Hier seien das Nachtleben und andere Zerstreuungsmöglich-keiten dermassen eingeschränkt, dass die Ratsherren die Sessionen möglichst rasch beenden würden, was dem Steuerzahler Geld spare.”
Quelle: Stadt Bern

Ochsenbein. Unser Verfassungsvater von 1848. Meine Einleitung zur heutigen Stadtwanderung für das GS EDA


links: Beschlussfassung zur Gründung des Bundesstaats, 1847; rechts: Aufruf zum Frauenstreik nach Rentenaltererhöhung für Frauen. Beides liegt 175 Jahre auseinander, aber nur 10 Meter von einander entfernt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren.

Am Montag nach dem letzten eidg. Abstimmungswochenende versammelten sich hier mehrere hundert Frauen, um gegen die beschlossene Erhöhung des Rentenalters zu protestieren. «Was bleibt, ist die Wut und Enttäuschung», erklärte die Wortführerin Tamara Funiciello. Dafür wurde sie anschliessend heftig kritisiert. Ihr Einspruch sei aggressiv und undemokratisch gewesen, monierten vor allem rechte Kommentatoren. Sie warfen der Nationalrätin vor, radikal gegen Volksentscheidungen zu sein.
Der Vorwurf des Radikalismus kommt heute normalerweise vom entgegen gesetzten politischen Pol. Entsprechend unterscheidet man Links- und Rechtsradikalismus.
Nicht so im 19. Jahrhundert: Der Radikalismus hat seinen Ursprung in der liberalen Freiheit- und Demokratiebewegung. Radikale Demokraten waren für die Entmachtung der Kirche im Staat und für die Einführung der republikanischen Staatsform. Und sie befürworteten das allgemeine Wahlrecht – jedemfalls für Männer.
Mitte des vorletzten Jahrhunderts waren Radikale auch in der Schweiz gegen die katholische Kirche, die in Luzern, Freiburg und Pruntrut von erzkonservativen Jesuiten angeführt wurde. Dafür waren sie auch bereit, mit Waffen zu kämpfen. Den Sonderbundskrieg von 1847, unser letzter Bürgerkrieg, gewannen sie. Davor gab es zwei paramiliärische Angriffe von Freischärlern, der zweite noch blutiger als der Bürgerkrieg.
Der Umsturz in den katholischen Kantonen formte die Grundlage der Bundesstaatsgründung. Basis war die erste selber geschriebene Verfassung, die demokratische Institutionen und elementare Grundrechte mit dem Ziel beinhaltete, wirtschaftlichen Aufschwung durch die Industrialisierung zu sichern.
Die tragende Bewegung von damals war der Freisinn, in dem sich radikale, liberale und demokratischen Strömungen zusammenfanden. Der erste Schritt der Bundesstaatsgründung gelang innert Jahresfrist. Der zweiten, die Bildung einer Nation dauerte länger, vielleicht dauert er bis heute an.
Deshalb sprechen die geistigen Nachfahren von damals meist von einer Willensnation. Verwendet wurde der Begriff prominent von alt Bundesrat Kaspar Villiger, der ein Buch dazu verfasste.
Geprägt wurde der Begriff jedoch vom französischen Historiker Ernest Renan, der ihn für eine gewollte Gemeinschaft brauchte, die sich aus Bürgern verschiedenster Ethnien, Sprachen und Konfessionen zusammensetze und durch eine Elite zusammengehalten werde.
Wie das damals kam, ist Gegenstand unserer Stadtwanderung. Dabei steht Ueli Ochsenbein, der erster Berner Bundesrat aus dem Jahre 1848, im Zentrum. Doch es geht nicht nur um ihn. Die Führung handelt von der “Stunde Null” des Bundesstaates, wie es Ochsenbeins Biograf Rolf Holenstein einmal nannte.
Einen Vorgriff auf das, was kommt, mache ich hier schon: die Radikalität der 1848er Jahre war ausgeprägter als die der protestierenden Frauen heute. Beide richteten sich gegen weisse, alte Männer. Gemeinsam ist auch, dass beide Initialzündungen hier ihren Anfang nahmen.
Der grosse Unterschied: Der Frauenstreik vom 14. Juni 2023 wurde ausschliesslich von Frauen auf dieser Bank ausgerufen, der Wille zur Staatsgründung wurde im Innern dieser Kirche vor der Kanzel ausschliesslich von Männern ausgedrückt.
Nun los!

Stadtwanderer

Die Schweizmacher

Nicht einmal die SVP hat daran gedacht, dass am 16. November 1848 – also heute vor 174 Jahren – der erste Bundesrat der Schweizerischen Eidgenossenschaft gewählt wurde.
Eine eigene Regierung zu haben, stärkte das Selbstbewusstsein des ganz jungen Staates, sodass man sich sicher genug fühlte, den Bundesvertrag von 1815 auszusetzen, den der Wiener Kongress im Geist der Restauration erlassen hatte. Das war ein eigentlicher Akt der Souveränität.


Der erste Bundesrat vom 16. November 1848

Seit dem 12. September war die selbst verfasste, erste Bundesverfassung in Kraft. Für gültig erklärt hatte sie noch die alte Tagsatzung, noch bevor sie sich auflöste.
Das neue Grundgesetz bildete die Grundlage für die Ausschreibung der ersten National- und Ständeratswahlen. Auf 20000 Einwohner gab es einen Nationalrat. Zusammen vertraten 111 Personen das Volk (im damaligen Sinne) in der großen Kammer. In der kleinen waren es 44.
Die große Mehrheit unter ihren war freisinnig mit radikalen und liberalen Auffassungen. Sie konnte den Bundesrat nach ihren Vorstellungen ausgestalten.

Das wichtigste Traktandum der ersten Session waren die Bundesratswahlen. Bern, Zürich und Waadt bekamen einen festen Sitz in der neuen Regierung. Alle anderen Kantone mussten sich die vier verbleibenden teilen. Bedient wurden dabei Solothurn, Aargau, St. Gallen und Tessin.
Alle sieben damaligen Bundesräte waren Männer. Je einer kam aus den Sprachminderheiten. Zwei waren katholisch. Aber keiner war aus einem Sonderbundskanton. Denn die wollten sich 1847 mit vom Bund lossagen, einen neuen Teilungsplan der Schweiz verfolgten und riskierten dafür auch einen Bürgerkrieg, den sie verloren. Die Hypothek überschattete die Staatsgründung.

Die Lancierung einer neuen parlamentarischen Republik in der Schweiz war die einzig bleibende Staatsgründung von 1848. Alle anderen endeten bis Sommer 1849..
Dass der Bundesstaat als Ausnahme Bestand hatte, erklären sich Fachleute heute damit, dass die Idee der Republik seit dem 17. Jahrhundert bei uns Tradition hatte, Großbritannien das Projekt unterstützte, und mit der Bundesverfassung ein Kompromiss zwischen Demokratie und Föderalismus gefunden wurde, der generellen Fortschritt und autonome Entwicklungen zuließ. Priorität hatte die staatliche Überwindung des konfessionellen Gegensatzes durch Freisetzung einer wirtschaftlichen Entwicklung, die den Anschluss an das Eisenbahnzeitalter und damit die Industrialisierung zuließ.

In einem Jahr wird die Bundesverfassung, die unsere Institutionen begründete 175 Jahre alt – Grund genug, sich dann ausführlicher zu erinnern und zu überdenken, was davon noch zeitgemäß ist.

Stadtwanderer