berns geschichte für die gegenwart neu erzählt

stephan von bergen, historiker und journalist, bringt historische erkenntnisse immer wieder unters volk – mit unkonventionellen artikeln und positionen. seit heute figuriert er als autor einer mehrteiligen kantonsgeschichte, in der er sich mit vergangenheit und gegenwart, mit glanz und gloria, aber auch mit destastern und defiziten des berner standes auseinander setzt.

470gdas berner kornhaus aus dem 18. jahrhundert: der inbegriff des autarkiedenken in der alten republik, dessen grundlage mit der industrialisierung und dem eisenbahnbau so heftig unterminiert wurde.

“Das heute noch wirksame Erbe aus dem Alten Bern ist schillernd”, schreibt autor stephan von bergen. “Dazu gehören eine Staatsgläubigkeit und ein boderständiger, bäuerlicher Geist. Das immer noch virulente gegenseitige Ressentiment zwischen dem Land und der einst dominierenden Stadt Bern. Die Brückenfunktion zwischen der Deutschschweiz und der Romandie, die Bern erobert hatte. Und eine Berner Mentalität, die Vorsicht mit Unbeweglichkeit, ein Gefühl von Grösse mit privinzieller Selbstgerechtigkeit und Nüchternheit mit Gemütlichkeit paart.”

mit seiner neu erzählten berner geschichte nimmt er den faden aus der bemerkenswerten dissertation von stefan altorfer-ong, die bern im 18. jahrhundert einen überflussstaat nannte. dank abwesenheit von kriegen und aufständen etablierte sich die berner republik zum vorbild für erfolg. allerdings, so der neue star unter den berner historikern, gelang das nur als trittbrettfahrerin. bern finanzierte kriege, lieferte söldner, und die heerführer wie auch die rückkehrer verdienten damit ihr geld.

kaufleute, unternehmer und beamte gab es in der heimat kaum. obwohl die stadt von brugg bis nyon reichte, lebten nur mitte des 18. jahrhunderts nur 336’000 menschen in der republik, davon drei prozent in der mittelalterlichen stadt. viel der heute noch stehenden häuser in der altstadt stammen aus dieser zeit, der den kollektivgeist der städtischen oberschicht zum ausdruck brachte. über allem wachten das münster und die reformierte kirche, unter sich waren die oligarchen gleich, gegenüber anderen erhaben, während das land politisch ausgeschlossen blieb, wirtschaftlich aber geförderte wurde, solange man für die landwirtschaft produzierte.

1747 traf der grosse rat eine wichtige entscheidung. die führenden patrizier im zentrum sollten gesamthaft die tätigkeiten als kaufleute und industrielle unter- resp. sie ganz den minderwertigen untertanen in deer peripherie überlassen. “Staatswirtschaftlich und agrarisch, nicht privatwirtschaftlich und unternehmerisch”, fasst der berner geschichtsprofessor andré holenstein die tragende bernische mentalität zusammen. die begründung war einfach: vom getreidebau profitierte man doppelt – als einnahmequelle der republik und als sicherheit gegen hungersnöte. das kornhaus in bern, aber auch in burgdorf und langenthal war der eigentliche inbegriff des bernischen staatswesen.

alt bern entschied sich gegen die frühindustrialisierung. diese überliess man der ostschweiz, in der sich die textilindustrie ausgebreitet hatte. das brachte exporteinnahmen, mit denen man getreide aus dem süddeutschen raum importierte. entstanden ist so eine bürgerliche schicht, die ganz anders auf die industrialisierung reagierte als die berner patrizier, die in ihren autarkie-, unabhängigkeits- und souvernitätsvorstellungen verharrten, bis sie durch die französischen truppen gestürzt wurden, ohne dass eine bürgerliche schicht die entwicklung in wirtschaft und politik nahtlos hätte vorantreiben können.

immerhin kann man beifügen, die liberale und radikale bewegung der 1830er jahre gab dem risikoscheuen staat ein neue gepräge. der freisinn von 1848 entwickelte nicht nur die schweiz, auch bern bis zum ersten weltkrieg auf einer industriellen grundlage, wie beispielsweise der elektrifizierung, die in ihrer frühzeit europäisch führend war. der freisinn zerbrach mit dem ersten weltkrieg, mit dem die arbeiterbewegung einerseits, die bauern und gewerbler anderseits das bürgertum herausforderten, gemeinsam jedoch wieder einem protektionistischen staatsverhalten auftrieb gaben.

heute sind svp und sp die grössten politischen kräfte im kanton bern. bei den anstehenden ständeratswahlen treten sie mit vehemenz gegeneinander an. adrian amstutz, der rechte mann auf dem land, steht ursula wyss, der linken frau aus der stadt gegenüber. und wieder geht es um öffnung oder nicht. die konservativen sind national gestimmt, vereinfacht heisst das gegen die eu, derweil die modernistInnen international denken, wirtschaftlich offen und politisch vernetzt bleiben möchten. vom mittelstand der kleinen und mittleren zentren, der den freisinn zwischen 1890 und 1920 so stark machte, ist bei dieser ausmarchung kaum mehr etwas zu spüren. ihre kandidatin fiel schon in er ersten runde aus der wahl.

stephan von bergen bedauert das. denn amstutz kritisiert er als vorschnellen antietatisten, der so tue, als könne man einen schweren tanker mit ein paar markigen worten in eine andere richtung lenken. und ursula wyss hält er vor, zu genügsam zu sein, weil ihre klientel von der gemütlichkeit des bernischen kahns profitiere.

mal sehen, wer lotse oder lotsin wird, und ob sie oder er das schiff mit schlagseite neuen schub verleihen kann.

stadtwanderer

über die grenzen des wachstums denkt man nach, wenn man wachstum hinter sich hat.

der umweltsurvey 2007, erstellt von der eth zürich, ist die wohl umfassendste, aktuelle standortbestimmungen zum umweltbewusstsein in der schweiz. ich habe ihn mir genauer angesehen, um mehr über die gesetzmässigkeiten zu erfahren, unter welchen bedingungen wir uns der naturprobleme bewusst werden und was seine zukunft des umweltbewusstseins ist. (m)eine kleine umweltgeschichte – dritter teil.

41H23CGPXTL._SL500_AA300_epochemachender bericht des club of rome – zwischenzeitlich mit dem umweltsurvey schweiz hinsichtlich seiner wirkungen hierzulande untersucht.

umweltbewusstsein, sagen die autoren des jüngsten umweltberichts unter dem soziologen andreas diekmann, ist eine einstellung, bestehend aus einer verstandesmässigen und einer gefühlsmässigen komponente. es geht um angst oder empörung, aber auch um kenntnisse von zusammenhängen zu umweltfragen, die zu bewertungen führen.

die umweltsoziologien schlugen schon in den 90er jahren vor, umweltbewertungen anhand dreier indikatoren zu festzustellen: erstens, der bereitschaft zu einschränkungen des lebensstandards, zweitens der zustimmung zem vorwurf, die politik tue zu wenig für die umwelt, und drittens der akzeptanz von arbeitsplatzverlusten zugunsten von umweltfortschritten. ihre untersuchungen hierzu zeigen im zeitvergleich, dass die beiden ersten meinungen mehrheitlich geteilt werden und zeitlich stabil sind, während letzteres nur eine minderheit gut findet, die über die zeit hinweg eher abnimmt.

emotional stabilisiert werden solche bewertungen durch verbreitete gefühle wie der angst, auf eine umweltkatastrophe zuzusteuern und der sorge, den kindern eine verschlechterte umwelt zu hinterlassen. beides ist verbreitet, während das empörungspotenzial durch medienberichte einiges geringer ausfällt. das geht einher mit wahrnehmungen der grenzen des wachstums, aber auch der vermutung, die anderen mitmenschen würde zu wenig für die umwelt tun.

in ihrer umfassenden analyse des wandels des umweltbewusstseins unter schweizerInnen schreiben die autoren des umweltsurveys: “Die Grundeinstellung zum Umweltproblem, die affektive Komponete, ist relativ stabil geblieben. Gewandelt haben sich aber Einstellungen über Zusammenhänge und die Bereitschaft, finanzielle Einschränkungen zugunsten der Umwelt zu leisten. Bedingungsloser Optimismus gegenüber der Wissenschaft als Lösung der Umweltprobleme ist ebenso wie der Pessimismus zu den schädlichen Auswirkungen des Wirtschaftswachstums einer pragmatisch-nüchternen Betrachtungsweise gewichen.”

in ihren vertiefenden ausführungen weise die forscher auf weiterhin vorhandene unterschiede des umweltbewusstseins im links/rechts-spektrum, aber auch zwischen frauen und männern hin. sie halten auch beschränkt unterschiedliche vorstellungen nach bildungsschichten fest. die sprachregionalen eigenheiten, die in den 90er jahren noch wichtig waren, sind weitgehend verschwunden.

das spannendste an der gegenwartsanalyse zum ökodenken sind die zusammenhänge mit anderen einstellungen: die soziologen weisen nach, dass umweltbewusstsein die entscheidungen zu umweltpolitischen forderungen recht stark beeinflusst, aber einen nur mässigen einfluss auf das umweltverhalten hat. dieses wird nicht nur durch innere faktoren der menschen besitmmt, auch durch äussere, sprich angebote und anreize. die wichtigste erkenntnis zur gegenwart betrifft aber die faktoren, die neues umweltbewusstsein fördern. der forscher schluss ist hier, dass weiteres umweltwissen keine weiteres umweltbewusstsein mehr herstellt. oder anders gesagt: wir sind, informationsmässig gesättigt, wenn es darum geht, wie wir über die umweltprobleme denken. es kann nur gezeigt werden, dass das umweltwissen beschränkt positiven einfluss auf das umweltverhalten hat.

oder plakativ gesagt: energiewerte und bio-kennzeichungen auf produkten haben die grösseren chancen, unser handeln zu verändern, als eine infokampagne zur biodiversität. diese wiederum darf kein volkshochschulkurs sein, der nur wissen vermittelt; sie muss betroffenheiten schaffen, das heisst uns bewusst machen, was die gefahr ist, dass wir unsere meinungen ändern.

übrigens: die hier besprochene untersuchung zum umweltbewusstsein im wandel der eth zürich spricht davon, dass das umweltbewusstsein in der schweiz global gesehen wohl am höchsten ist. es folgen nationen wie japan, die niederlande, dänemark und finnland. generell kann man festhalten: die höhe des wohlstands ist ein guter indikator für die ausbreitung von umweltbewusstsein. in den worten der soziologen: weil die restriktionen einer veränderung zugunsten von natur, tier und mensch, am gerinsten sind.

das sollten sich die ökologInnen merken, wenn sie eine vollangriff auf den wohlstand machen. ökonomisches wachstum ist nicht nicht das einzige, was lebensqualität schafft, füge ich bei. es ist aber eine voraussetzung dafür, dass man über die grenzen des wachstums nachzudenken beginnt.

stadtwanderer

die umweltbewegung: von der neuen sozialen bewegung zum teil der globalen mediengesellschaft

in den 80er jahren entstand die umweltbewegung als der teil der neuen sozialen bewegung. die abgrenzung zu den gewerkschaften als alter sozialer bewegung war entscheidend. heute entkoppeln sich das lokale und globale zusehends, und die umweltaktivitäten werden zum teil der globalen mediengesellschaft. (m)eine kleine umweltgeschichte – zweiter teil.

am 1. august 1983 sammelte die nationalspende für das baumsterben. ein paar gebiete in der schweiz seien von diesem problem betroffen, sagte man mir anderntags erklärten mitarbeiterInnen einer eidgenössischen forschungsanstalt, unsere wälder seien schwer krank. der wald sterbe.

jetzt malten kinder malten bilder mit sterbenden bäumen, umgefallenen wäldern, verendeter natur. die apokalypse war kein zukunftsthema mehr, sie fand plötzlich in der ist-zeit statt. die erschreckten eltern diskutierten, ob sie etwas falsch gemacht hatten, aufs autofahren verzichten sollten, inskünftig den oev benutzen müssten.

diese gesellschaftliche debatte erreichte rasch die politik. im herbst ‘83 standen parlamentswahlen an. und die beratungen des umweltschutzgesetzes waren in der schlussphase. menschen, tiere und pflanzen sollten damit geschützt werden. lebensräume sollten vor schädlichen oder lästigen einwirkungen bewahrt werden. die fruchtbarkeit namentlich des bodens sollte wieder gefördert werden. das wirkte die nachricht vom waldsterben wie eine bombe.

am 7. oktober 1983, rechtzeitig vor den wahlen, verabschiedete man das umweltschutzgesetz. damit wurde auch die verbandsbeschwerde auf eine neue basis gestellt. in den 60er jahren eingeführt, entwickelte sich das instrument zum dreh- und angelpunkt der interventionsmöglichkeiten für umweltverbände.

in meinen kursen zur schweizer politik am medienausbildungszentrum in luzern diskutierten wir zwischen 1986 und 1990 das fallbeispiel regelmässig. agenda setting, ein begriff des amerikanischen medienforschers bernhard cohen, leitete unsere debatten zu aktiver medienöffentlichkeit und institutioneller politik. anders als in früheren wirkungsuntersuchungen, unterschied cohen zwischem dem, was die medienrezipienten denken, und worüber wir denken. ersteres lasse sich durch medien kam beeinflussen, zweiteres schon.

das passte zum zeitgeist. journalistInnen verstanden sich als speerspitze im wertewandel. aufmerksam machen auf das, was ist, aber verkannt wird, war die verbreitete losung. 1987 propagierten ein dutzend prominente medienschaffende, politikerInnen und professorInnen die “hoffnungswahl” in buchform. in allen fortschrittlichen parteien sollten die ökologisch ausgerichteten, bisherigen und neuen bewerberInnen gefördert werden.

das ergebnis der nationalratswahl hinterliess eine perplexe avantgarde. zwar legten die grünen wie schon 1983 zu, doch gab die autopartei, bis dahin unbekannt, erstmals gegensteuer. die rechtskurve wirkte sich bin in meine kurs aus. die studierenden wollten jetzt mehr über die migrationsfrage erfahren als über die ökoproblematik.

das alles war symptomatisch: die umweltfrage wurde in den 80er jahren zur partei. grüne und rote nahmen sie willig auf, provozierten damit aber eine antietatistische gegenreaktion. die autopartei forderte freie fahrt für freie bürger. die automobilindustrie kritisiert das waldsterben, die bürgerlichen parteien setzten unverändert auf wirtschaftswachstum, und unterschieden zwischen technischem und ideologischem umweltschutz. zwischenzeitlich spricht man schon von verwaldung des schweizer mittellandes.

heftig politisiert wurde die verbandsbeschwerde der umweltverbände 20 jahre nach ihrer etablierung im umweltschutzrechtes. 2004 kam es zum eklat, als der zürcher vcs nach einem volksentscheid zu einem sportstadion mit einkaufszentrum eine exemplarsiche verbandsbeschwerde durchzog. das war gewagt, denn der volkswille ist den schweizern heilig. die ökoaktivistInnen wurden öffentlich als ökofundis beschimpft. die svp nahm den ball auf und setze im verbund mit den bürgerlichen parteien im parlament eine einschränkung des verbandsbeschwerderechts durch.

mit dem sogenannten schabernak aus den 80er jahren aufräumen wollte die fdp des kantons zürich. sie lancierte eine nationale volksinitiative, um das verbandsbeschwerderecht weitgehend zu kappen. vorgeworfen wurde den umweltorganisationen, zu bauverhinderen geworden zu sein. diese verwiesen darauf, dass die mehrheit ihrer beschwerden ganz oder teilweise gutgeheissen werde. das stimmvolk stellte sich schliesslich auf ihre seite. 2008 sagten 66 prozent der stimmenden in der volksabstimmg nein, alle kantone waren dagegen.

doch hat sich der kampf um die umwelt auf die globale ebene verlagert. internationale organisationen analysieren den zustand der luft, des bodes und des wassers. sie legen werte und ziele der politik fest. sie entwickeln programme des handelns. globale akteure nehmen relevanten einfluss auf das, was in der klimapolitik geschieht. al gore war der gegenspieler von georges w. bush. die erdölindustrie ficht gegen die greentech-branche. und die weltweiten medien entscheiden, ob wisenschaftssymposien oder uno-konferenz erfolg haben oder nicht.

in den 80er jahren entwickelte sich die neuen sozialen bewegungen in abgrenzung zu den alten sozialen bewegungen. heute mutiert die umweltbewegung vom lokalen akteur zum globalen netzwerk, die spezialistInnen der medienarbeit hat, lobbying in der uno und in der stadt betreibt, und grassrouts-aktionen im richtigen moment mobilisieren kann.

nicht zu unrecht spricht man in diesem zusammenhang von emergenz. denn es ist nicht mehr die kinderzeichnung aus betroffenheit, die mobilsiert, sondern das globale strategiepapier, das lenkt. umweltprobleme sind vielerorts real, ihre verhandlung entsteht aber aus der medienweltgesellschaft heraus. dabei sind die ergebnisse immer weniger vorhersehbar, entfalten sie sich aus der aktion selber heraus. den lokalen aktivistInnen hilft das gegelegentlich, gelegentlich schadet es ihnen.

stadtwanderer

mein baum. mein ärger. meine analyse.

im entscheidenden moment kannte ich ihn noch nicht. als ich seine bücher las, wurde mir klar, warum trotz vielen enttäuschungen meinen affinitäten zu ökologischen umstellungen bewahren werde. (m)eine kleine umweltgeschichte, erster teil.

buchs_agstandort meines baumes, bevor er dem autobahnzubringen weichen musste.

ronald inglehart ist ein lebender amerikanischer sozialforscher. er wirkt als professor für politikwissenschaft an der university of michigan – einem eldorado für empirische forschung.

sein erstes bekanntes buch trägt den namen “the silent revolution”, 1977 auf englisch erschienen und in unzählige sprachen übersetzt. eine der zeitgenössischen ruhigen revolutionen ist für inglehard der wertwandel im übergang von industriellen zu postindustriellen gesellschaften. postuliert wurde, dass materialistische durch postmaterialistische werthaltungen abgelöst würden.

wenn in einer gesellschaft bedürfnisse nach versorgung und sicherheit gewährleistet seien, entwickelten die menschen neue ansprüche, las ich da: solche der anerkennung und der selbstverwirklichung.

prägend sei nicht, was man habe, sondern was man nicht habe. denn danach strebe man. das gelte vor allem für das, was man in der jugendzeit nicht gehabt habe. das präge das weltbild, die werthaltungen des individuum – ein leben lang. wenn es die werte eine ganzen altersgruppe bestimme, liessen die mangelgefühle in den formativen jahren eine neue generation entstehen.

bei mir war es, was ich nicht mehr hatte: meinen baum! auf den ich als junge unzählige male geklettert war. er stand neben dem friedhof bei dem wir in buchs, aargau, wohnten.

als man beschloss, einen zubringer zur neu gebauten autobahn zu erstellen, nahm man auf gar nichts rücksicht. weder auf den friedhof, noch auf meinen baum. dieser wurde mit motorengehäul gefällt, genauso wie die grabesruhe für immer verschwand.

ich war ausser mir, zuerst wütend, dann traurig. denn mit dem baum entsorgte man auch einen teil der jugenderinnerungen. mein versteck in der astgabel, meine heimat in einsamen momenten, mein abenteurplatz, wo sich die gleichaltrigen an schulfreien nachmittagen rauften.

ich war knapp zwanzig, als man für eine volksinitiative unterschriften sammelte. in meiner erinnerung hiess das begehren “demokratie im nationalstrassenbau”. offiziell hatte die sache eine umständlicheren namen: volksinitiative «für die vermehrte Mitbestimmung der Bundesversammlung und des Schweizervolkes im Nationalstrassenbau» steht im amtsblatt. verlangt wurde, dass die politik, ja die bürgerInnen in sachen strassenplanung mehr zu sagen bekommen sollte. das wurde umgehend zu meinem programm.

an der uni hörte ich kurz danach vom wertkonflikt, der mit neuen sozialen bewegungen aufbreche. zu diesen zählte der dozent die umweltbewegungen. und ihre wichtigste analyse, die ich den soziologie-veranstaltungen kennen lernte, war die untersuchung von inglehart.

das alles machte mir mut. vielleicht war ich ja nicht der einzige, der sich innerlich empört, wenn man bäume fällt. vielleicht hatten andere in meinem alter ähnliche erlebnisse gehabt. vielleicht, so hoffte ich, seien wir viele.

inglehard zählte jüngere menschen und höhere bildungsschichten zu den vorreitern des postmaterialistischen wertwandels. er ging davon aus, sie würden immer mehr werden, wenn dank wohlstand versorgung und sicherheit für immer mehr menschen gewährleistet werden könnten. das verhiess gutes. denn es würden sich mit sicherheit immer mehr menschen finden, die auf der suche nach einem anderen leben seien.

der 26. februar 1978 brachte dann eine gewaltige ernüchterung. meine initiative, an die ich so geglaubt hatte, weil sie wenigstens nachträglich ein wenig für umweltgerechtigkeit sorgen würde, wurde an diesem sonntag versenkt. keine 39 prozent dachten so wie ich. kein kanton war dafür. im aargau war man sogar überdurchschnittlich stark dagegen.

seither weiss ich: die postmaterialistInnen sind eine fordernde minderheit, machen keine mehrheit aus. ob die postmaterialistInnen je in der mehrheit sein werden, glaube ich nicht, bezweifelt heute auch die sozialforschung.

erfolg haben sie nur, wenn sie das naturempfinden breiter kreise miteinbeziehen. zum beispiel beim schutz der hochmoore oder beim alpenquerenden verkehr.

denn die berge sind und bleiben für viele ein tabu. aus ehrfurcht, aus angst, aus freude, aus stolz. im mittelland ist davon nicht geblieben. es wächst die zivilisation in die natur hinaus. und wenn sich aktive umweltschützerInnen quer legen, ernten sie nur kopfschütteln.

mehrheit ist mehrheit, weiss ich nur zu gut. seit der lektüre der bücher von ronald inglehart weiss ich aber auch, dass ich mein leben lang aufrecht zu meiner minderheitsmeinung stehen werde.

stadtwanderer

geniale intervention

das laute handyphonieren im öffentlichen raum ist schon so oft beklagt worden ohne wirkung zu zeigen. jetzt erlebte ich eine geniale intervention, die wirkung zeigt.

es war laut heute abend im postauto. nicht, dass alle übermässig gesprochen hätten. nein, eine junge frau handyphonierte ungeniert vor sich hin.

wie meist in solchen situationen ging es um belangloses. man sprach über den sonntagsbraten bei den eltern und organisierte das zügeln am monatsende.

mehr vom inhalt blieb mir nicht. jedoch erinnere ich mich gut, dass die lautstärke typisch unanständig war.

dann griff sich der postautochauffeurs ans herz und mahnte via mikrophon: “Bitte sprechen Sie nicht so laut, jemand ist am Telefon.”

augenblicklich war es ruhig im poschi. die junge dame verringerte ihre stimme hörbar, die anderen nickten wortlos zu ihrer erleichertung. genial die wirkung der blosstellung, dachte ich mir.

die szene erinnerte mich unweigerlich an einen auftritt in berlin. es war die ethik-kommission des deutschen bundestages. ich sprach in einem workshop über die stammzellenforschung in der schweiz.

mitten in der verhandlung ertönte ein handy. schon das nervte. mehr noch ging mir und anderen auf den kecks, dass die angerufene person abnahm, ohne den saal zu verlassen und seelenruhig zu verhandeln begann.

hans-jochen vogel, der ehemalige spd-justizminister, eine alter, weiser mann, der auf dem podium sass, fackelte nicht lange. zum ungebeten sprechenden sagte er mit bestimmter stimme: “soll ich den raum verlassen? ich störe so ungerne!”

nun halte ich fest: in beiden situationen machte die intervention betroffen. sie wirkte. das unheil verstummt.

ich werde sie mir merken, und ich werde sie anwenden, wenn ich mich das nächste mal in dieser sache die haare raufe!

stadtwanderer

regiert die angst?

ich bin ein grenzgänger, in sachen sprachen, siedlungsarten und nationalitäten. das prokoll eine begegnung mit meinem taxichauffeur aus asien.

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in seiner heimat hat mein taxi-chauffeur mathematik studiert. er engagierte sich in der volkspartei für die junge demokratie. doch dann kam es zum militärputsch. als aktivist der opposition musste er fliehen. zwar würden weiterhin wahlen abgehalten, und es wäre gut, er könnte mitbestimmen. doch die führung seiner parteie werden regelmässig von den wahlen ausgeschlossen.

nach europa kam mein gewährsmann via deutschland. dort traf er einen landsmann, der in der schweiz vorläufige aufnahmen bekommen hatte. beide waren allein und beschlossen, hierzulande als politische flüchtlinge asyl zu beantragen. sie hatten erfolg. seither leben sie in der agglo von bern, und gehen geregelten arbeiten nach.

taxifahren gefalle ihm, erzählt er mir gerne. man könne radio hören und zeitungen lesen, und man treffe immer wieder auf interessante menschen. einmal, nach einem interview von mir in einer lokalzeitung, sprach er mich an. ich sei doch der politexperte, versicherte er sich vorher noch. dann legte er mit fragen los.

ihn beschäftigt heute, was bei den wahlen im herbst geschieht. die volkspartei in seiner heimat und hier seien nicht das gleiche. beide wollte mehr demokratie, das sei gut. hier bedeute das aber, dass man gegen ausländer sei. er wolle niemanden kritisieren, glaube aber, ein wahlsieg der svp sei schlecht für ihn und seine landsleute.

ich bleibe zurückhaltend. der wind habe gedreht, dführe ich aus. die konservativen seien im kommen. mit ihnen gewinne das nationale wieder an bedeutung, und es steige die ausgrenzung von fremdem.

mein gegenüber nickt. doch ist er noch nicht zufrieden.

was können wir nun?, will er wissen. die wahlen wolle er nicht beeinflussen, er wisse, dass er auch hier keinen politischen rechte habe. das heisst aber nicht, dass er sich nicht sorgen mache, was hier geschehe.

ich finde, das beste sei, wenn sich menschen mischen. ausländer sollten zu schweizer mehr kontakte haben, und umgekehrt. was man im alltag erlebe, zähle am meisten. alle studien, die in den letzten 40 jahren dazu gemacht worden seien, würden darauf verweisen.
organisierte kontakte seien gegenüber behörden sinnvoll. vor allem in den städten, aber auch auf dem land, wo es ausländerInnen habe, könne man so zahlreiche probleme auf informellem wege lösen. das sei sogar gut schweizerisch.
schliessich kommen wir auf die medien zu sprechen. denn sie formen unsere bilder im grossen. wer sich nicht wehre, habe schon verloren. und wer verloren haben, bekomme immer heftiger auf’s dach. medienarbeit sei eine art schutzwall gegen diskriminierungen, sind wir uns einig.

das problem sei, schliesse ich, dass man, wenn einem etwas nicht passe, negatives vor positives stelle, differenziertheit zugunsten schematisierungen verschwinden und einzelfälle zum allgemeinen erhoben würden.

damit kommen wir auf die jüngsten abstimmungen zu sprechen. vor allem die ausschaffungsinitiative. er habe gelesen, es habe am meisten zustimmung gegeben, wo es am wenigsten ausländer habe. mein taxichauffeur will wissen: regiert da nicht einfach die angst? ich bestätige, denn die analyse könnte von mir sein. da habe sich der stadt/land-graben schon vor monaten manifestiert. denn auf dem land gäbe es viel weniger ausländer, doch habe fürchte man sich da am meisten.

nicht nur vor ausländern, auch vor den städteren.

was würde wohl geschehen, wenn sich nicht nur die landleute, für einmal wenigstens auch die ausländerInnen politische äussern dürften?, beende ich das gespräch. da käme wohl noch ein weiterer graben zum vorschein.

wir werden den faden sicher wieder aufnehmen.

stadtwanderer

die vox-analyse des landwanderers

eine tolle diskussion, die am sonntag mit dem aufgerissenen güllengraben entstanden ist. der stadtwanderer ist zum landwanderer geworden, und hat seine eigene vox-analyse zum abstimmungssonntag gemacht.

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je mehr rot drauf, desto mehr schweizerkreuz drin! gemeindekarte der abstimmung zur waffen-initiative

“angefangen hat es, wie bei so vielen anderen sachen, mit der abstimmung über den ewr. die schweiz solle dem eu-vorhof betreten, entschied der bundesrat. doch die stimmbürger/innen machten nicht mit. die traditionalisten waren gegen die modernisten. die alten gegen die jungen. die einfachen leute gegen die studierten. und das landvolk gegen die städte.”

“die städter verstehen uns nicht. sie wollten die bilateralen, den uno-beitritt, die personenfreizügigkeit, die abkommen von weiss ich wo, und sie waren bereit, den ehemaligen ostblockstaaten von unserem geld zu schicken. immer bekamen sie vom fehlgeleiteten souverän recht, denn die städter furchteten, von der eu drangsaliert zu werden.”

“städtische unsitten muss man heute als sogannte zeichen des fortschritts ertragen, mutterschaftsgelder bezahlen, schwule väter akzeptieren und kindstötungen vor der geburt zulassen. alles nur wegen den städtern!”

“als es um die ausländer ging, revanchierten wir uns erstmals. von denen wimmelte es ja in der stadt. und da sollten sie nur bleiben. erleichterte einbügerungen für secondos überall – sicher nicht. minarette auf dem dorfplatz – garantiert ohne uns. und gesetzesbrecher durchfüttern – undenkbar. sorry, ihr städter, die gehören ins flugzeug und weg damit.”

“wir sind stolz auf unsere tiefen steuern. denn wir haushalten sparsam. dulden keine bürokratie. und auswärtige einsprachen brauchen wir schon gar nicht. denn für umweltschutz sind nicht die, die naturnah leben, sondern die, die auf ihrem überdimensionierten ökologischen fussabruck steht.”

“natürlich, für die arbeit, da muss man in die stadt, und bezahlt man sich heute schon dumm und dämlich, egal ob automobilist und zugfahrer. genau dafür soll man bald noch mehr blächen müssen, meint die leuthard. wie gummistiefel riechen, weiss sie ja schon. und ihr wahlkampfspezi erfährt es, wenn er noch einmal sagt, wer auf dem land lebe, sei ein subventionsfetischist.”

“da lese man doch einmal die schriften vom famosen bundesamt für raumplanung. konzentration der investitionen auf die infrastruktur in den zentren. die leute aus dem lokalen zeughaus können ein lied davon singen. die bauern auch. überhaupt, die hasst man in den denkfabriken der städter. der föderalismus ist passé, steht über dem pult des direktors von avenir suisse.”

“jawohl, jetzt ist tradition suisse ist angesagt! genau darum lassen wir uns von joe lang und der galladé nicht entwaffnen. nicht einmal die untertanen der alten orte mussten ihr gewehre abgeben. und ihre lokalen sitten und bräuche wurden toleriert. selbst das haben uns die stadtdiktatoren heute weggenommen. um es in brüssel gegen mamom einzutauschen, was sie uns zwar nicht sagen, wir aber schon lange wissen.”

“wir haben es ihnen mit der münze heimgezahlt, mit der sie uns so lange über den tisch gezogen haben. jetz ist fertig, schuss!”

landwanderer

in mühleberg und oltigen mit vögeln, grafen und frühlingshafter energie unterwegs

ich war heute auf der winterexkursion mit dem vogelschutzverein wohlen. besucht haben wir den landstrich zwischen mühleberg und oltigen an der aare. wenn es um mönchgrasmücken oder nonnenkneifer ging, konnte ich nicht immer mithalten. dafür komponierte ich in der herrlichen frühlingsatmosphäre eine kleine rede, die ich vor dem güggelisloch, dem sagenumworbenen unterirdischen zugang zur verschwundenen burg, über oltigen hielt. hier die leicht ausgeschmückte widergabe.

meine damen und herren!

morgen wird mich mühleberg am wohlensee beschäftigen, heute geht es uns um oltigen, der stelle zu unseren füssen.

sie alle haben sicher schon von troia gehört. in der heutigen türkei gelegen, gehört der untergang der stadt zu den tragischen momenten der weltgeschichte. denn die menschen glaubten immer, mit städten jene form von sozialgebilden geschaffen zu haben, die stets überleben werde. wenn dem einmal nicht so war, war das nicht nur ein desaster, es liess auch die wildesten geschichten über den grund und den ort entstehen.

das wäre eigentlich auch bei oltingen an der aare der fall. unter uns liegt ein dorf mit heute 67 einwohnern. oltigen. an stelle des dorfes stand einst eine stadt – im mittelalterlichen sinne. sicher, troia war wichtiger als oltigen. doch zwischen dem 11. und 15. jahrhundert konnte sich der ort mit neuenburg durchaus messen.

flüsse sind kulturhistorisch gesehen etwas vom spannendsten. immer schon waren sie verkehrswege. manchmal trennten die flüsse die länder beidseits, manchmal verbanden sie sie. mit unserer eisen- und autobahn schweiz kennen wir fast nur noch letzteres; ersteres ist uns fremd geworden. doch man muss daran erinnern, wenn man die bedeutung der aare ermessen will.

als sich zu beginn des 5. jahrhunderts nach christus die römer nördlich der alpen zurückzogen, fluteten verschiedene bevölkerungsgruppen in ihre ehemaliges herrschaftsgebiet. in unserer gegend muss man von zwei völkern sprechen, den burgundiones oder burgundern, und den alemanii oder alemannen. die burgunder waren ebenso wie ihre nachbarn germanen. doch wollten sie unbedingt römer werden. sie nahmen ihre sprache an. sie konvertierten zum katholizismus. sie liebten den wein, und sie unterhielten die römerstädte mit ihren bischöfen weiter. die alemannen waren das pure gegenteil davon. sie behielten ihr idiom, sie blieben arianer, und sie tranken weiterhin bier. die städte mochten sie nicht. sie mieden sie, oder sie zerstörten sie. zu zweiten der römer war aventicum, das heutige avanches, eine stadt mit 20’000 einwohnern; 610 ging sie nach einem alemannensturm unter.

konstanz, die einzige bischofsstadt im alemannischen, die im mittelalter mit basel, genf, lausanne, sion oder chur stand halten konnte, war von hier aus weit weg. das galt auch für die stellvertreterklöster in st. gallen und zürich. nur das schwäbische entwickelte sich in ihnen mehr, während sich auf der seite der aare, auf der wir jetzt stehen ein völkchen mit viel eigenbrötlertum herausbildete. christianisiert wurde die bevölkerung erst im 10. jahrhundert, – durch burgundische klöster.

getrennt wurden die burgunder und der alemannen durch die aare. seit dem 9. jahrhundert war sie nicht nur eine kulturgrenze, auch eine politische grenze. wo das der fall war, brauchte es stets herrschaftszentren. befestigungen, sitze von adeligen, orte der versorgung, zentren der verwaltung. oltigen bot sich da an. unmittelbar unterhalb des zusammenflusses von saane und aare gelegen, war die stelle verkehrstechnisch günstig. der hohe felssporn attraktivierte die lage noch. er verschaffte zu jeder zeit aussicht, und bot damit sicherheit. schliesslich, olitgen heisst bis heute riviera von radelfingen, weil es so sonnenbeschienen ist.

oltigen ist einer ältesten brückenköpfe über die aare. eine feste brücke gab es nie, fähren schon. in oltigen herrschte seit dem 11. jahrhundert ein graf, der phasenweise sehr mächtig war. burkhart, der berühmteste von ihnen, wurde bischof in lausanne, gefolgsmann des kaisers. seine grösste wohltat: er liess das mittelalterliche städtchen avenches wieder aufbauen. seit dem 12. jahrhundert waren die oltiger herren nur noch provinzgrafen. genauso wie murten hielten man aber zu den savoyern und ihren vasallen in der gegend.

eine der mächtigsten erschütterungen der mittelalterlichen welt war die pest. 1348 wütete sie erstmals im mittelland, sie raffte wohl einen drittel der menschen weg. wer schutz versprochen hatte und diesen im entscheidenden moment nicht gewähren konnte, stand jetzt auf der anklagebank. so die kirche – und so der adel. die bauern rebellierten gegen klöster und grafen, denn sie wollten nicht mehr leibeigend sein und abgaben zahlen müssen.

den zwist, der auch in oltigen ausgebrochen war, nutzte das benachbarte bern. offiziell vermittelte man, faktisch betrieb man den sturz der burgunder, dem grossen thema des 15. jahrhundert. denn bern, die zähringerstadt, die parallel zu oltigen entstanden, aber ganz in der schwäbisch-zähringische tradition und in den herrschaftsbereich des deutschen königs eingebunden war, bildete das eigentliche gegenstück zum burgunderstädtchen an der aare.

1410 kam es in oltigen zum entscheidenden aufstand. bern half den aufständischen. als man sich durchgesetzt hatte, schleiften die sieger burg und stadt. der letzte graf, hugo von mömpelgard, wurde vertrieben; die verhasste konkurrenz aus dem aarestädtchen ganz zerstört. 1412 verlor savoyen alle rechte auf oltigen, seither ist man hier bernisch, zuerst stadt-, dann kantonsbernisch. in die kirche ging man nach wohlen, zu gericht musste man nach zollikofen.

heute spricht man in diesem zusammenhang gern von bauernbefreiung. ich nenne es eher herrschaftswechsel. denn die stadt bern, 1415 zum königlichen stand erhoben und mit allen rechte über leben und tod, fackelte damals nicht lang. damit man keine gefängnisse bauen musste, in denen man fremde durchfuttern musste, präferierte man bei eroberungen die zerstörung, für die angegriffenen bedeutete das flucht oder tod. und was man nicht erobern konnte, kaufte man auf dem aufstieg zum grössten stadtstaat nördlich der alpen zusammen.

als folge davon setzte sich auch diesseits der aare die kultur der alemannen durch. 1476 wurde der landstreifen, der bis murten reichte von eidgenössischen truppen erobert, und er wurde unter bernisch-freiburgische herrschaft gestellt. die kultur wurde zwangsweise (re)germanisiert. wer in bern vorsprechen wollte, musste deutsch sprechen können, die andern hörte und verstand man nicht. 1536 griffen die berner bis vor die tor genfs aus, und vertrieben die savoyer aus der gegend. was bernisch wurde, wurde auch reformiert. man war nun reformierte untertanen der eidgenossenschaft, die gefälligste berndeutsch sprechen sollten. erst napoléon bonaparte räumte damit auf, machte die untertanen zu bürgern, die besetzten gebiete zu gleichberechtigten kantonen und schuf damit eine der grundlagen für das friedliche und erspriesliche zusammenleben heute.

oltigen hat davon nicht wirklich profitiert. die stadt ist abgegangen, wie das etwas verharmlosen heisst. selbst die erinnerung ist aus der geschichte gestrichen worden. sie lebt nur noch in mythen weiter, die im internet weiter leben. das gibt dem ort doch noch eine hauch von troia.

sicher, die kulturelle trennung durch den fluss ist heute weitgehend überwunden. wirklicher verkehrsweg ist die aare aber nicht mehr, sie dient hier seit der industrialisierung der stromproduktion aus dem benachbarten mühleberg. davon morgen mehr.

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der populismus der populisten

spaziergang über mittag. das wetter war so wunderbar. vorbei ist die deprophase aus dem januar. beschwingt nahm ich die weltwoche von heute in der hand. henner kleinewefers, vormals professor für oekonomie, versucht sich darin als als populismus-analyst. ich widerspreche.

populi8in einem gehe ich mit dem emeritierten freiburger ökonomen einig. der verdacht der marxistischen politanalysen, der populismus führe per staatsstreich automatisch zu bonapartismus und der ebenso zwangsläufig zu faschismus ist historisch gesprochen widersinnig. ich gehe noch weiter: die unterstellte entwicklung verstellt sogar den blick auf das, was den populismus heute sozialwissenschaftlich so interessant macht.

treffend analysiert wird der populismus der gegenwart meines erachtens durch hans-jürgen puhle, frankfurter historiker und politologe. er spricht von einem neuen design-populismus in der mediendemokratie. das ist ein neuartigker politikstil, der sich auch in etablieren demokratien gut eingenistet hat, ohne diese ausser kraft zu setzen.

vordergründige symptome dafür sind die politische sehnsucht nach leadership und das madiale verlangen nach führungszentrierter politik. so werden spitzenpolitikerInnen zu dominatorInnen öffentlicher debatten, und es paart sich ein ideologischer fundamentalismus mit einer pragmatischen behandlung des augenblicks. zu der gehört ein kräftiger schuss an kontinuierlicher medialer empörung, um in stimmung zu kommen, die alles abweichende stigmatisiert, ja ausgrenzt.

die politologischen analysen, die mit diesem verständnis in jüngster zeit betrieben worden sind, fördern fünf eigenschaften des gegenwärtigen populismus’ zu tage:

. erstens, traditionelle parteien, interessenbezogene verbände und der staat verlieren an bedeutung, was zur propagierung zivilgesellschaftlicher alternativen durch populisten führt.
. zweitens, mobilisiert wird von populisten gegen die globalisierung, verstanden als machtkartell, begründet durch neoliberale politik, gelegentlich auch gepaart mit linke sukkurs.
. drittens, gefeiert wird durch populisten ein antimodernismus, mit dem man sympathien unter den verliererInnen in aktuellen transformationsprozessen sammelt.
. viertens, überlebensfähig sind catch-all parties, die den zusammenhalt ihrer vielschichtigen anhängerschaft gewährleisten, indem sie permanent den nerv der zeit suchen, treffen und inszenieren.
. fünftes, auswirkungen hat dies namentlich auf die campaigning-politik, die mit neuen medien getrieben wird, von der glaubwürdigkeit zentraler führungspersonen lebt, welche die sachfragen vorgeben, die zu behandeln sind.

populismus ist nicht unbedingt an eine politische ideologie gebunden. in europa zeigt er eine nähe zu rechten parteien, namentlich in lateinamerika findet sich das umgekehrte. da kommt die politologische analyse der ökonomischen wieder näher. anders als diese versteht sie populismus aber nicht als autochtone bewegung politisch enttäuschter mittelständler gegen die eliten. vielmehr sieht sie darin eine bewusste mobilisierungstrategie der massen durch führungsstarke persönlichkeiten – in politischen ämtern oder auch ausserhalb -, um legitimiert durch das einen magischen bezug auf das volk auch in umbruchphase die eigenen interessen durchsetzen zu können.

der populismus ist also vor allem ein populismus der populisten. das schreibt die weltwoche selbstredend nicht. sonst müsste sie sich ja hinterfragen.

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wie die wahlen 2011 ausgehen …

… weiss niemand. mit gutem grund: denn wahlergebnisse sind das produkt aus kurz- und langfristigen einflüssen auf die wahlentscheidungen. erstere werden immer schwieriger vorauszusehen. man kennt nur ihr profil, nicht aber das gewicht der komponenten.

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mein analyseschema, wie ich die wahlentscheidungen analysiere. links sind die lang-, rechts die kurzfristigen determinanten.

das wahlsystem ist in der schweiz seit 90 jahren konstant. die kantone bilden unverändert die wahlkreise. und die generellen konfliktlinien im parteiensystem sind nicht einfach verschwunden, aber aufgeweicht.

bei der cvp wirkt die tradition noch am meisten. eine mehrheit ihrer wählenden hat eltern, die cvp (oder kk) wählten. bei allen anderen parteien ist dieser anteil unter 50 prozent. oder anders gesagt, die meisten parteien müssen heute die wählenden dort finden, wo sie heute sind, nicht, wo ihre familie war.

insbesondere die medien, teilweise auch die schulen und die gleichaltrigen sind an die stelle der familiären sozialisation gerückt. parteibindungen prägt der schuluntericht, seine verarbeitung unter gleichaltrigen, die generationen mit einem spezifischen medienkonsum entstehen lassen.

lange glaubte man, die themen des wahlkampfes seien alleine entscheidend. die ökonomen unter den wahlanalytikern lobten die vernünftige entscheidung. man wähle, wer einem programmatisch am nächsten stehe. das damit verbundene menschenbild wurde heftig kritisiert. wählerInnen seien keine informationsverarbeitungsmaschienen; sie würden sich auch aufgrund ihres tierischen instinkts entscheiden, sagen namentlich psychologInnen.

das gilt namentlich gegenüber personen: im kleinen wahlkreis, wo man sich kennt; im grossen wahlkreis, wo die werbung auf gefühle gegenüber kandidatInnen setzt; und gesamtschweizerisch – oder wenigstens sprachregional – wo nationale medienstars, präsidentInnen und neuerdings wahlkampfleiter die parteiimages formen.

damit wird politisch realität durch medienrealitäten überlagert. diese behandelt parteien wie produkte, deren schwächen neuigkeitswert hat: der zwist im parteivorstand, das geld in kampagnen, die macht über die lokalpresse. die parteien nervt es, immer mehr mit ihrem fremdbild konfronitert zu sein, weshalb sie zur direktkommunikation via youtube greifen, oder werbung schalten, wo sie ein positives umfeld bekommen. das alles kostet geld, und wer es für wahlen ausgibt, gerät in verruf. die negativspirale scheint auswegslos.

angesichts der veränderungen in den parteistärken sind auch schweizer parlamentswahlen zu indirekten bundesratswahlen geworden. die machtfragen werden wieder unverholen gestellt: soll die schweiz ein neues regierungssystem erhalten mit verringerter konkordanz, ist zum beliebten expertenthema geworden. wer zurücktreten soll, ist die hauptfrage der sonntagspresse. und zwischenzeitlich interessiert die bürgerschaft wieder, welche parteien regierungswürdig sind – und welche nicht.

mobilisierungsstrategien sind heute wichtiger als den einen oder die andere wechselwählerIn zu gewinnen. profitiert hat davon die svp, die lange auf polarisierung gegen links setzte, heute eher hegemonial agiert. chancen haben auch neuen parteien, die ohne lange geschichte, dafür mit grosser frische auftreten können. so sind die wichtigsten regierungsstützen gegenwärtig in der defensive. nutzen könnten die aufgezeigten mechanismen jedoch alle, wenn sie selber auf langfristige themenarbeit setzen würden, kurzfristige interventionsgabe zeigten, und ihre politik mit erkennbaren werten und glaubwürdigen personen kommunizieren könnten.

die zentrale frage in heutigen wahlkämpfen lautet: wer ist der treiber, wer sind die getriebenen? die höchste schule ist es, als partei oder kandidatIn massgeblich zu bewegen. die zweithöchste ist es, was auch immer geschieht, es zu seinem eigenen vorteil deuten zu können. ganz nach dem motto: das ziel aller wahlkämpfe ist es, selber im zentrum zu stehen.

womit wir von den langfristigen stabilisatoren zu den ganz kurzfristigen destabilisatoren der wahlentscheidung gewandert wären.

stadtwanderer

wie 2007 der svp-wahlkampf alles dominierte, das wichtigste aber unterschätzte

das parteiensystem der schweiz nationalisieren sich, dozierte politologe pascal sciarini 2007 bei jeder gelegenheit. wenn ein genfer professor das sagt, dann muss es stimmen. denn normalerweise hört man argumente aus der rhone-stadt, in der romandie oder auf jeden fall in genf sei alles anders als in der schweiz.

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symptomatisch für die wahlen 2007: alle blicke sind auf die svp, ihre themen, ihre repräsentanten gerichtet.

die nationalisierung der parteien war bei den letzten wahlen jedoch ungleich weit fortgeschritten. die cvp, aber auch die fdp verharrten weitgehend in ihren föderalistischen strukturen. sie gaben entsprechend den uneinheitlichsten eindruck ab. sp und grüne waren in den städte gut koordiniert, auf dem land aber kaum präsent.

am radikalsten ausgefallen ist die nationalisierung bei der svp. sie hat keine wirklichen hochburgen mehr, vielmehr hat sie die schweiz zu ihrer hochburg gemacht. die situation in den kantonalparteien bleibt zwar divergent, doch die vorgaben macht die nationale partei. “wir führen die partei wie eine marke: einheitlich, wertorientiert, mit erkennbarer emotion”, heisst es regelmässig aus dem nationalen parteisekretariat.

mit erfolg: in allen kantonalen parlamenten kam die svp 2007 auf 23 prozent der sitze. im nationalrat steigerte sie sich auf 32 prozent. oder anders: bei nationalen wahlen ist die partei erfolgreicher als bei kantonalen. vor allem wegen ihrer neu entdeckten mobilisierungskraft.

das hat mit campaigning zu tun: damit ist nicht einfach eine superkampagne gemeint, sondern der permanente wahlkampf. campaigning beschreibt das kommunikative verfolgen von konstant gehaltenen zielen, selbst wenn die relevanten arenen wechseln. campaigning ist es, was einer partei ein unverwechselbares gesicht gibt, in ausgewählten themen, mit wiederkehrenden repräsentantInnen und mit einer übergeordneten ideologie.

das war lange auch bei der svp nicht der fall. 1991 noch unterschied sie sich organisatorisch nicht von den anderen parteien. seither ist eine partei neuen typs entstanden. die svp entwickelte sich zur gut geführten wählerorganisation, die koordiniert zielgruppenspezifische ansprachen vornimmt: mal geht es um das “volk”, dann um “landwirte” und “gewerbetreibende”, schliesslich um “frauen, die sich von muslimen bedrängt” oder um “akadamiker, die durch deutsche konkurrenziert werden”.

das geht nicht ohne medien: die bleiben in ihrem selbstverständnis svp-kritisch, entwickelten aber verschiedene svp-affinitäten: der auttritt ihrer protagonisten sichert quoten, ihre streitkultur schafft anschlusskommunikation, und ihre themen tendieren dazu, die vorrangigen des wahlkampfes zu sein. zudem weiss die svp mit ereignissen wie dem geheimplan medienhypes zu schaffen, die dann werberisch verstärkt werden. und so gilt: wer mit der svp ist, ist auch ein wenig beim gewinner!

2007 führte die erste partei der schweiz vor, was das alles heisst: mit dem berühmt gewordenen schäfchenplakat setzte man das thema der ausländer, die kriminell seien und ausgeschafft gehörten, und mit dem motto “svp wählen – blocher stärken” stimmte sie das land auf die scheinbare hauptfrage des wahlkampfes ein.

einen fehler machte die svp 2007 bekanntermassen: am schluss glaubte sie selber an die von ihr geschaffene mediale kunstwelt. ihr wahlerfolg im nationalrat, beschränkt auch im ständerat, bestärkte sie, nicht nur die wahlsiegerin zu sein, sondern auch jedwelche vorgaben machen kann. das war ein trugschluss, denn es gab eine mehrheit auch ohne die svp. und diese formierte sich, als alle an die volkswahl christoph blocher glaubten, jedoch übersahen, dass es die 246 frisch gewählten parlamentarierInnen sind, welche den bundesrat wählen.

wie 2003 die machtfrage gestellt und bisher nicht wirklich beantwortet wurde

19. oktober 2003, 19 uhr 30: in der tagesschau des schweizer fernsehens kommentiert ueli maurer, svp-präsident, den neuerlichen sieg seiner partei bei den nationalratswahlen. er forderte einen zweiten sitz für die svp – damit hatte man gerechnet. der solle durch einen vertreter der neuen svp-linie eingenommen werden – auch das hatte man erwartet. ihr einziger kandidat sei christoph blocher – da waren fast alle überrascht!

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wahlsieger 2003 unter der bundeskuppel: svp und fdp – die übersehen, dass die parlamentswahlen keinen rechtsruck, vielmehr die bisher grösste bi-polarisierung zwischen den polparteien brachten.

ich stand unmittelbar neben maurer, als er die folgenreiche ankündigung machte. der svp-präsident wirkte ausgesprochen konzentriert, ja, restlos überzeugt, zum grössten coup in seiner parteikarriere anzusetzen. kein augenzwinkern war da, das auch nur den leisesten zweifel offen liess, das er scheitern könnte.

die mediale ankündigung der verlangten sitzverschiebung schlug wie eine welle ein, denn die svp wollte nicht nur führende kraft im bundesrat werden. sie missachtete auch das verbreitete wahlverfahren, das sich mit doppelkandidaturen bei bundesratswahlen eingebürgert hatte. und sie riskierte, den bisher zugkräftigsten oppositionsführer innerhalb der partei durch integration in eine kollegialbehörde zu verlieren.

ich gebe zu: lange hatte ich das christoph blocher nicht zugetraut, denn ich rechnete mit einem identitätsverlust für ihn und seine partei. dann schwenkte ich, glaubte fest, dass er die regeln der politischen kunst beachten würde; denn als unternehmer verhielt er sich insgesamt vernünftig. heute stelle ich fest: ich habe mich zweimal getäuscht. christoph blocher blieb im wesentlichen christoph blocher; dafür blieb er jedoch nicht lange bundesrat.

angesichts der dramatischen ereignisse übersah man das effektive wahlresultat der parlamentswahlen 2003 ein wenig. die bi-polarisierung der parteienlandschaft hatte ihren höhepunkt erreicht: die svp legte 4,1 prozent zu, doch grüne und sp gewannen ähnlich viel hinzu – wenn auch nur gemeinsam. wahlverliererinnen waren die fdp, die cvp und einige der kleinparteien. und: im ständerat geschah genau gegenteiliges. die sp machte am meisten sitze vorwärts, die svp wurde hier nur kleiner sieger. bezahlt hat die rechnung in der kantonsvertretung nicht die cvp, dafür voll die fdp.

die scharfe polarität zwischen links und rechts hatte mobilisiert, wie schon lange nicht mehr, und die ansprache neuer wählerInnen durch die polparteien hatte das parteispektrum auseinanderstreben lassen. die fdp kippte, rückte vom zentrum nach mitte/rechts, und propagierte schliesslich hansruedi merz als eigenen br-kandidaten. um ihre institutionelle macht zu wahren, unterstützte sie mehrheitlich die kandidatur blochers für den bundesrat. die cvp wehrte sich, einen sitz in der landesregierung. am ende gerieten sich joseph deiss und ruth metzler hinter den kulissen in die haare, und die tage der jungen appenzellerin im bundesrat waren gezählt.

2003 wurde die machtfrage gestellt, wie es in der schweizer politik unüblich war. die veränderungen in gesellschaft, politikultur und parteiensystem legitimierten dies, wurden aber zu belastungsprobe für die konkordanz. von zauberformel mag ich seither nicht mehr sprechen, nur noch von formel. wie konsenssuche kann überhaupt nicht mehr die rede sein, nur noch von wechselnden allianzen, um eine mehrheit zu haben. ob das eine zeitgemässe anpassung des regierungssystems der schweiz ist, die zu neuer stabilität führt, oder aber nur ein zwischenschritt in einer gründlichen transformation des bundesrates und des parlaments ist, weiss ich nicht wirklich.

auch ueli maurer und seine svp, die am 19. oktober 2003 so klar kommunizierten, als sie ihre eigeninteressen im auge hatten, blieben die antwort schuldig, ob sie eine schweiz mit einer verwässerten allparteien-regierung wollen, wo nur noch wählerInnen-anteile zählen, oder eine regierungs- und oppositionssystem mit einer bürgerlichen mehrheit unter ihrer politischen führung.

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wie die territorialstrategie der svp 1999 fast unbemerkt aufgeht

“17 Prozent” lautete die prognose von filippo leutenegger, dem damaligen chefredaktor des schweizer fernsehens, am vorabend der nationalratswahlen 1999. das wäre ein plus von 2-3 prozent gewesen; er hätte die chance bestanden, dass die svp die cvp überholen und sich hinter der sp und fdp auf dem dritten platz einreihen würde.

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kartei des parteipolitischen wandels: die roten vierecke symbolisieren die wählerInnen-gewinne der svp bei den nationalratswahlen der 90er jahre

es kam anders: die svp legte 1999 um 7,6 prozentpunkte zu – was die grösste veränderung war (und ist), die es je in der schweizer wahlgeschichte unter proporzbedingungen auf nationaler ebene gegeben hat(te) – und die svp avancierte mit ihren 22,5 prozent erstmals in ihrer historie (es-aequo mit der sp) zur wählerstärksten partei der schweiz.

mit der einverleibung der kleinen freiheitspartei und der marginalen schweizer demokraten in die neue svp hatte man allgemein gerechnet; nicht aber damit, dass die aufstrebende partei namhaft in die hochburgen der fdp und die stammlande der cvp vordrängen würde. das ganze hatte system, territorilastrategie genannt.

demnach griff die svp, ausgehend von ihren regionen, wo sie schon stark war, die ehemals politischen verbündeten frontal an. das war für die berner und waadtländer noch ganz ungtewohnt, und in den regierungstreuen gebieten verlor die svp sogar. doch legte sie in zürich planmässig kräftig zu, und sie machte in luzern, basel, genf und st. gallen grosse fortschritte. bis heute wirkt das erfolgrezept von 1999 vielerots noch nach.

das wahlergebnis von 1999 überraschte im übrigen auch mich. ja, die veränderungen waren viel grösser, als es die svp selber angenommen hatte. am wahlabend brachte sie wenig geordnet die forderung auf, im bundesrat gestärkt zu werden. franz steinegger, der damalige fdp-präsident, für den der feind in der svp steckte, konterte dies schon während der sonntäglichen elephantenrunde so vehement, dass kein programm daraus werden konnte – vorerst nicht.

dass wir analytiker und kommentatoren allesamt zu ungenau hingeschaut hatten, was sich in den regionen tat, hatte nicht zuletzt mit der neuen mediensituation zu tun. roger schawinksi war mitten im wahlkampf 1999 mit seinem telezüri auf sendung gegangen, was für eine heidenaufregung sorgte. entbrannt war aber nicht die suche nach zuschauer und zuschauerinnen, entfesselt wurde der hahnenkampf unter den chefredaktoren der bisherigen durch die wette, wer christoph blocher mit einer relevanten aussage zur zauberformel zuerst auf dem sender hat.

diese rahmenbedinung ist nicht ohne nebengeräusche eben erst entschärft worden. zum guten, wie ich finde!

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wie der rücktritt von otto stich den wahlkampf 1995 neu aufmischte

1995 steuerte der streit zwischen verkehrsminister adolph ogi und finanzminister otto stich seinem höhepunkt zu. denn der berner svp-bundesrat warb aus regionalpolitischen überlegung für zwei neat-transversalen, derweil das sp-regierungsmitglied die finanzierung von zwei tunnels für eine schwere belastung für den öffentlichen haushalt hielt.

detailder perfekt inszenierte wechsel von otto stich zu moritz leuenberger im bundesrat bescherte der sp den grössten wählerInnen-zuwachs seit einführung des prozorzwahlrechtes.

am 31. august kam es zur überraschende wende. otto stich kündigte seinen rücktritt aus der bundesregierung an. das war auch gleichzeitig die geburt des event-marketings. denn mit dem ausscheiden eines ihrer bundesräte mitten im nationalratswahlkampf überraschte die sp nicht nur die gesamte politische konkurrenz. die traf, kann hatte sie den ersten hammerschlag getroffen, gleich ein zweiter. die auf alles bestens vorbereitete sp-präsident peter bodenmann präsentierte in der folge7 denkbare nachfolger für otto stich, mit denen man sich hinfort medial auseinandersetzen musste, womit man unfreiwillig deren wahlkampf und den der sp oben drein betrieb.

man weiss es: nie gewann die sp seit einführung des proporzwahlrechtes für den nationalrat einen so grossen wählerInnen-anteil hinzu wie 1995. und die plus 3,3 prozentpunkte sind bis heute der sp-rekord geblieben.

das hat das szenario “bundesratsrücktritt im wahlkampf” berühmt gemacht. 1999 kopierte es die cvp und rette so die vorläufig letzte erfolgreich doppelvertretung im bundesrat. doch löste diese nachahmung auch politische gegenreaktionen aus. bundesratsrücktritt im wahljahr sind seither verpönt. die cleverste schlussfolgerung hat die svp darauf gezogen: sie setzt seither auf den wahlsieg, der sie im bundesrat stärken oder ihre vertretung sichern soll. 2003 brachte diese christoph blocher in die bundesregierung, 2007 täuschte sich seine partei nach dem wahlsieg jedoch, den sitz ihres stars mit dem wahlergebnis gesichert zu haben.

wie überraschend das perfekt vorbereitete neue momentum im wahlkampf 1995 war, lässt sich aus folgender remineszenz ableiten: radio drs vermeldet am 31. august in den 14 uhr nachrichten den rücktritt von otto stich als primeur. als die zuständige redaktorin die info, die sie kurz davor erhalten hatte, durch die bundeskanzlei verifizieren liess, dementierte diese zuerst. man sei eben noch in der bundesratssitzung vertreten gewesen; keine spuren von rücktrittsdiskussion seien erkennbar gewesen. nur wenig später kam dann die überraschende bestätigung aus dem bundeshaus. stich habe ganz am ende der sitzung sein rücktrittsschreiben verlesen – womit alles seinen lauf nahm.

seither nennt man das ereignismanagement. ausgangspunkt ist eine stark verdichtete handlungsabfolge, die medialisiert eine erwartungshaltung kreiiert, dass jetzt etwas entscheidendes geschieht. weil medien solche situationen lieben, gibt es spin-doctors (in parteien, in pr-agenturen, aber auch in medien selber), die solche geschichten drehen, damit kontinuierliche aufmerksamkeit erheischen und aber einer gewissen dauer ihrer kampagne meinungsbildend wirken.

überigens: die neat wurde gebaut, stichs nachfolger moritz leuenberger musste allerdings viele zusätzliche mittel auftreiben, um beide ogi-röhren finanzieren zu können. und im wahlkampf 2011 spekuliert man wieder, die viel kritisierte bundespräsidentin micheline calmy-rey könnte im september 2011 zurücktreten, um den sp-wahlkampf zu beflügeln. damals hatt die partei die 18.5 prozent wählerInnen-anteil aufzupolieren; diesmal wären es die 19,5 aus der letzten wahl!

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wie 1991 so manches ins rutschen kam

der 1. januar 1992 begann für mich schlecht. ich rutsche am morgen auf dem winterlichen glatteis aus und brach mir die rechte hand. meine schlussarbeiten als forschungsassistent und lehrbeauftragter an der uni bern musste ich dann mit links machen. dazu zählte auch die vox-analyse zu den nationalratswahlen 1991. gemeinsam mit sibylle hardmeier war ich mandatiert, die untersuchung zu machen und den bericht dazu schreiben. das wurde dann auch publiziert.

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Jürg Scherrer, erster Nationalrat der Autopartei aus dem Kanton Bern, und letztes Exekutiv-Mitglied der gleichen Partei in Biel/Bienne, heute Ehrenpräsident der Partei, die 1991 ihren höhepunkt hatte

meine persönliche erinnerung an die wahlen 1991 wird durch die autopartei geprägt. sechse jahre zuvor gegründet, kannte die neue rechtspartei 1991 ihren höhepunkte. im nationalrat kam sie auf 8 sitze. mit ihr hatte eine populistische partei neuen typs erstmals wirklichen erfolg. denn man unterschied sich von den schweizer demokraten, die ein zu kleinbürgerliches bild abgaben und einseitig auf migrationsfragen eingeschworen waren. dem versuchte man mit der autopartei etwas neues entgegen zu setzen, ging es doch um eine allgemeinere staatskritik, namentlich um beklagte einschränkungen rechtlicher und belastungen finanzieller natur. zum inbegriff des neuen freiheitsdenken avanciert der autofahren, das schönste für den unabhängigen mann, von der polizei schikaniert und vom steuervogt in beschlag genommen. es entstand auch eine neue feindbildpolitik, das auf den ebenso erstarkten grünen (“latzhosenträger” und “ökofuzis”) aufbaute.

man weiss es, die autopartei ist heute bedeutungslos. vor zwei jahren verlor sie mit dem abgang von jürg scherrer in biel-bienne ihr letztes exekutivmandat. ihr niedergang setzte jedoch schon mit der ewr-abstimmung 1992 ein, denn die svp machte es sich von nun an zur aufgabe, irritierte eu-gegner im eigenen land zu sammeln und öffnete mit der kampagne hierzu dem populismus den weg in eine regierungspartei. zahlreiche autoparteiler traten in der folge zur svp über, die verbliebenen begründeten sich als freiheitspartei neu, kannten aber keinen wirklichen erfolg mehr.

auch mein aufstieg als wahlforscher (und nicht-autofahrer) ist mit der autopartei verbunden. denn mit ihrem auftreten nahm auch das interesse an solchen phänomenen zu, und die nachfrage nach analysen wuchs im in- wie auch im ausland. ein referat mit dem titel “Linke und Grüne an die Wand nageln und mit dem Flammenwerfer drüber” – dem martialischen zitat von fraktionschef michael dreher, das der sonntagsblick publik gemacht hatte – verschaffte mir einladungen von bern bis wien. interessiert waren bürgerlicher parteien, die sich vom populistischen stil abgrenzen wollten, aber auch stiftungen, die sich mit den frühen erscheinungen des neuartigen phänomens in ganz europa ursächlich auseinander setzten.

meine kleine retrospektive auf zurückliegende wahlen macht mir heute deutlich, wie erheblich der politkulterelle, politkommunikative, aber auch politthematische wandel ist, der 1991 seinen ersten grossen politischen sieg feierte, danach transformiert anwuchs und uns heute so prägt.

ach ja, noch eines verbindet mit mich mit der autopartei von damals. am hirschengraben 5, wo ich seit mitte der 90er jahre arbeite, war vormals das parteilokal der ap-bundespartei. und im parteilokal, wo einst michael dreher ein und aus ging, machte ich die jüngste präsentation des wahlbarometers, das unter dem titel erschien: “Die SVP ritzt die 30 Prozent Marke”.

wahrlich 1991/92 bin nicht nur ich beim anstossen auf neue jahr ausgerutscht; die ganze parteienlandschaft der schweiz kam ins rutschen.

meine erinnerung an die wahlen 1975 und was daraus für 2011 wurde

meine mitarbeiterInnen feiern heute mit mir meine 25 jahre beim gfs. was mich erwartet weiss ich nicht. vielleicht etwas mit ein rückblick auf wahlen, oder gar eine vorausschau auf den oktober, denn 2011 stehen diesbezüglich wichtige entscheidungen an. woran ich mich in diesem zusammenhang aber erinnere, davon kann ich sehr wohl schon vor der kleinen interenen feier berichten.

das wahlergebnis 1975 überraschte: sp und cvp gewannen, während fdp und svp verloren. letztere lag erstmals (und letztmals!) unter 10 prozent, der damaligen eintrittsschwelle in den bundesrat. das resultat löste heftige diskussione aus. modellrechnungen zeigten: eine koalition aus sp, cvp und ldu hätte die mehrheit im national- und ständerat gehabt, und so eine neue bundesratszusammensetzung ermöglichen können.

3-300x196raimund germann, analytiker der wahlen 1975, bei denen erstmals ein politologe den rahmen der zau- berformel als quintessenz der politischen ent- scheidfinung in der schweiz durchbrach

die diskussion riss der zürcher tages-anzeiger an. theoretischer wortführer war der politologe raimund germann, der später das idheap als weiterbildungsstätte für bundesbeamtinnen in lausanne begründete. er war überzeugt, ein system der alternanz würde mehr zum fortschritt in der schweizer politik beiträgen als das der konkordanz. damit stand er jedoch weitgehend alleine. unter den zeitgeschichtlern und politologen widersprachen ihm urs altermatt und leonhard neidhard, wie germann alle der cvp nahe stehend, viel schweizerischer geprägter als germann. so wurde schon damals auf die konkordanzzwänge verwiesen, die sich aus den volksrechten ergeben würden, und auf die notwendigkeit der bündelung von kräften in einem staat, der sich einem kulturell stark fragmentierten umfeld gegenübersehe.

nun wurde mir aber gerade im rückblick auf die thesen von germann bewusst, dass sie es waren, die mich beflügelten, mich systematischer mit schweizer politik auseinander zu setzen. die parteien erschienen mir nützlich, um interessen durchzusetzen. befreiend wirkten sie aber nicht, denn die fdp dominierte alles, und sie dultet ausserhalb des von ihr definierten konsenses nichts.

in der zwischenzeit hat sich zahlreiches geändert. der landesring der unabhägigen ist von der politischen bühne verschwunden. cvp und sp gewinnen keine wahlen nicht mehr. die svp muss nicht mehr zitieren, ob sie 10 prozent-schwelle überschreitet oder nicht. die konkordanzkritik wiederum ist allgemeinwärtig geworden. kaum stehen wahlen an, finden die hintergrundsspalten der schweizer medien hier ihr vorrangig behandeltes thema. der konkordanz hat das alles nichts genützt. sie ist kein staatsprogramm mehr, eher eine flüchtige mischung aus kooperation, polarisierung und zweckallianzen.

auch ich habe mich verändert. gewachsen ist die einsicht in den sinn der konkordanz. dieser regierungskultur geht vielleicht das spektakulär ab, und sie tendierte dazu, konflikte zu verdrängen. doch ist sie auf dauer angelegt, und auf ausgleich in einem eher zusammegewürfelten staat. zugenommen hat auch meine feststellung, dass die realität heute vom ideal stark abweicht. letztlich haben wir anomische zustände: übergeordnete ziele und gelebt werde fallen längst auseinander.

da wird man sensibler, wenn namhafte tenöre der schweizer politik zum ende der konkordanz aufrufen. so hanspeter kriesi, der führende zürcher politologe, der diese woche via nzz angesichts der harschen polarisierung zur ordnung aufrief und der serbelden sp empfahl, ihre identität im jungbrunnen der opposition neu zu definieren. und so auch die weltwoche, die heute die streitkultur über jeden klee lobt, nicht weil sie lösungen bringt, aber die verhasste käseglocke über der schweizer politik sprengen soll.

doch frage ich mich, wohin wollen wir: die heutige politkultur zum massstab aller dinge nehmen und das regierungssystem anpassen, oder das politsystem aus sich heraus verstehen, und nach den anforderungen an regierungsparteien fragen?

beides hat unterschiedliche konsequenzen: im ersten fall soll die stärkste partei die regierungsverantwortung im innern und nach aussen übernehmen, – was auch immer dabei heraus kommt. im zweiten fall heisst es, nach koalitionen zu suchen, sie nicht nur macht wollen, sondern auch politik betreiben wollen.

seit 1986 bin ich nun beim gfs als politforscher angestellt. seit 1987 beteilige ich mich an der diskussion von nationalen wahlen, seit 1999 mache ich einen wichtigen teil der analysen selber. das wird auch 2011 der fall sein.

doch selten hatte ich so stark das gefühl, diesmal stehe ein richtungsentscheid an: denn der erfahrungsraum, den ich mir in einem vierteljahrhundert aneigenen konnte, ist so gross wie noch nie, und doch erscheint er mir angesichts des erwartungshorizontes, der sich gegenwärtig auftut, viel zu klein, um wirklich zu erahnen, was alles geschehen könnte, letztlich aber auch, was effektiv wird.

mal schauen, ob mir meine jungen mitstreiterInnen beim gfs.bern, heute abend weiter helfen können!

stadtwanderer

religiöse minderheiten in der direkten demokratie

gut ein jahr nach der schweizerischen volksabstimmung zum minarettsverbot legt ein politologisches forschungsteam der uni bern ein umfassendes werk zum generellen verhältnis von direkter demokratie und religiösen minderheiten vor. eine kurzzusammenfassung.

101209_minarett.indd“Minderheiten, die selbst über keine politischen Rechte verfügen, einem anderen Kulturkreis als die Bevölkerungsmehrheit angehören oder sich erst sein Kurzem im Land aufhalten, bedürfen eines besonderes Rechtsschutzes vor Volksentscheiden.” mit diesem satz schliesst adrian vatter, herausgeber des neues werkes zur religiösen minderheiten in der direkten demokratie, das eben erschienen ist, ab. zusammen mit sechs mitarbeiterinnen seines instituts hat er für den schweizerischen nationalfonds einige jahre dazu geforscht. entstanden sind dabei verschiedene berichte; folgen sollen noch mehrere doktorarbeiten. ihnen gemeinsam ist, dass sie nicht den volksentscheid zur minarettsinitiative kritisieren, wie das gerade nach der abstimmung üblich war, sich aber generelle gedanken machen, wie die rechte religöser minderheiten in der direkten demokratie gewahrt werden können.

in geraffter form präsentiert werden die ergebnisse des projekes im buch “Vom Schächt- zum Minarettverbot“. darin versammelt sind dreizehn aufsätze, welche zentrale wendepunkte in der geschichte religiöser abstimmungen nachzeichnen. die historie über 163 jahre geschichte widmet sich einem zentralen punkt der schweizerischen verfassungsgeschichte: der tatsache nämlich, dass das schweizerische grundgesetz nur für bürgerInnen christlichen glauben geschaffen wurde, und konfessionelle diskriminierungen erst in einem langwierigen prozess zugunsten einer konfessionelle neutralität zurückgedrängt wurden.

die zentrale sozialwissenschaftliche these vatters ist es, dass volksabstimmungen über minderheiten immer auch ausdruck von nähe- und distanzverhältnissen sind. je konvergenter sich beispielsweise religiöse gemeinschaften gegenüber stehen, desto eher ist die mehrheit bereit, der minderheit rechte zuzugestehen und umgekehrt. daran sollte man gesellschaftlich arbeiten, bevor die rechtstellung verändert wird, denn privilegien aus der sicht der mehrheit können schnell verwehrt werden, wenn sie ungeliebte gesellschaftsgruppen betreffen. abstrafungen via volksabstimmung bringen jedoch nichts, sodass die autoren erwägen, über minderheitenrechte via umfassende revisionen abstimmen zu lassen.

anstösse von aussen, politischer laizismus der politik und ähnliches stehen am anfang der abschaffung religiöser diskriminierungen in der bundes- und in den kantosnverfassungen, hält vatter fest. er zeichnet nach, dass in solchen prozessen die immer voraus gegangen sind, wirtschaftliche gleichstellungen einfacher zu haben waren, und kulturelle themen vermehrt zu konflikten geführt haben. was gegenüber katholiken und juden im föderalistischen kleinklein der schweiz schrittweise gelang, scheiterte indessen bisher gegenüber muslimen – auf kantonaler wie auch auf nationaler ebene.

das buch erweist sich als besonders nützlich, wo es gesellschaftliche konflikte herausarbeitet, die religiösen volksabstimmungen zurgrunde liegen, wo wiederkehrende argumentationsmuster aufgespürt werden, mit denen die rechte von minderheiten eingeschränkt werden, wo die ausgleichenden behördenstrategien und ihre politische unterstützungen nachgezeichnet werden, und wo problemlose resp. problematische vorlageninhalte und ihre politischen mobilisierungspotenziale aufgezeigt werden.

wenn man den bericht durchgeht, ist unübersehbar, dass volksentscheide zu religiösen minoritäten der letzten 160 Jahre eine sammlung von verzögerungs-, ablehnungs- und verschärfungsbeschlüssen sind, wie es die autoren in ihren eigenen worten sagen. doch das buch belehrt einen auch eines anderen. vatter und sein team wollen die direkte demokratie nicht abschaffen, so wie dies alexis de tocqueville wegen des potenzials als mehrheitstyrannei im 19. jahrhundert forderte. die verfechter gut funktionierender institutionen sind nämlich überzeugt, dass es nicht auf die einzelne enscheidung ankommt, sondern auf das design von entscheidungsverfahren. so empfehlen sie der politik die pflege der politische (vermittlungs)kultur und die etablierung verfassungsmässiger regelungen des minderheitenschutzes. zudem fordern sie verantwortungsvolle behörden und medien, gerade in religiösen fragen.

denn konfessionelle fragen sind nicht primäre themen der politik, doch so wichtige sekundäre, dass diese besondere aufmerksamkeit verdienen. denn ohne die versinkt man rasch in religiösen streitereien. die schweiz hat das zu ihrem vorteilt gelernt. jetzt wünscht man sich nicht nur zurückblickende übersichten hierzu, sondern auch vorausschauende handlungsanleitungen, damit konflikte wie jener bei der minarettsinititive nicht verdrängt, aber vermieden werden können.

stadtwanderer