das zweites vatikanisches konzil in meiner bilanz

72 jahre alt wie klara obermüller bin ich ja eindeutig noch nicht. doch fand ich mich in ihrem lebenweltlichen artikel in der heutigen “nzz am sonntag” zum zweiten vatikanischen konzil sehr wohl wieder, ohne ihren verhaltenen optimismus zur reformfähigkeit zu teilen. ein stück biografie-arbeit!

50 jahre nach der eröffnung des zweiten vatikanischen konzils, gemeinhin mit den begriffen humanismus und ökumene verbunden, zieht journalistin klara obermüller, zwischenzeitlich ehrendoktorin der theologie an der universität zürich, ihre bilanz zur erneuerungsbewegung der katholischen kirche. mitbekommen habe ich diese namentlich über die synode 72, dem schweizerischen ableger der 1965 beendeten grossen versammlung in rom. denn die veränderungen waren sichtbar: die messe wurde neu “zum volk gelesen”, und sie war auf deutsch. im religionsunterricht behandelten wir schüler und schülerinnen auch andere religionen, so das evangelische glaubensbekenntnis, aber auch der buddhismus und des islam kamen kurz zur sprache. schliesslich erlebten wir jungs als messdiener, wie frauen zum vorteil aller aufgaben in der kirchgemeide übernahmen, ja selbst laien aus der bibel lesen durften oder predigten hielten. ein wenig hoffnung keimte da durchaus auf. ja, selbst einen teil meines erwachenden politischen interesses wurde in der kirchenbibliothek geweckt, die dem geist der öffnung folgend, auch über andere theologische verständnisse innerhalb der katholischen kirche bücher ausstellte, als ich direkt kennen gelernt hatte. dom helder camaras bücher über die befreiungstheologie in brasilien fanden sich in diesen jahren regelmässig ganz oben auf meiner leseliste.

in der katholischen kirche halten konnte mich der „grosse sprung nach vorne“, wie klara obermüller das konzil heute nennt, dennoch nicht. die lektüre von gotthold ephraim lessings „nathan der weise“ mit dem toleranzgebot der aufkläerung während des gymnasiums radikalisierte meine auffassung von religion; das folgende studium der soziologie, auch der religionssoziologie, bestärkte mich darin, dass religion keine tradierung von wahrheit ist, sondern, ganz bewusst im plural genannt, konfessionen zu den kulturellen phänomenen von gesellschaften gehören, die weltweit mühe haben, mit den entwicklungen der aufgeklärten moderne schritt zu halten. denn menschenrechte, demokratie und gewissensfreiheit gehören nicht zu den stärken der konfessionen, insbesondere nicht der katholischen kirche, die letzlich unverrückt auf der unfehlbarkeit des papstes, auf der hierarchie der institution und dem gehorsam ihrer mitglieder basiert.

wirklich überrascht war ich in den jahren seit der synode 72 nicht, mehr von den rücktritten vom zweiten vatikanischen konzil mitbekommen zu haben, als von diesem selber. papst paul vi. stand für mich von beginn weg hierfür; ganz anders als sein früh verstorbener vorgänger papst johannes xxiii. höchst kontrovers geführte diskussionen über das verbot der pille in der schule sind mir in bester jugenderinnerung, geformt durch spätere debatten über das lehrverbot für en schweizer reformtheologen hans küng 1979 und jüngst besiegelt durch die unverständlichen äusserungen des heutigen papstes benedikt xvi. zur minderwertigkeit der evangelischen kirchen.

klara obermüller fasste in ihrem interessanten artikel (leider nicht online) über das werden und vergehen der erneuerungsbewegung gekonnt zusammen. die lektüre war für mich ein wenig biografiearbeit, mit der mir wieder einmal klar wurde, von wo ich glaubensmässig komme, aber auch wohin das leben mich getragen hat. die so entstandene distanz zur früheren nähe zur katholischen kirche ist es denn auch, welche mich gegenüber obermüllers schluss skeptisch stimmt. es mag sein, dass es eine neue „initiative kirche von unten“ gibt, welche die zurückgekehrte erstarrung aufbrechen möchte – und bis in die schweiz anhängerInnen findet. deutlicher als das sehe ich aber, dass die katholische kirche bis heute arg an dem leidet, was trotz aufbruch in den 60er jahren nicht gelöst werden konnte: am priestermangel, an der verhinderung der frauenordination und am unverrückbaren pflichtzölibat – an dem man selbst über den freitod von pfarrherren, die mit ihrer eigenen kirche in konflikt geraten sind, festhält.

stadtwanderer

bern ohnmächtig

ich war heute an einer veranstaltung von stattland – dem verein für historische stadtführungen in bern. seit 20 jahren gibt es ihn, und jedes jahr werden ein bis zwei neue themenwanderungen angeboten. was ich heute hörte, hat mich arg enttäuscht.

angeschlossen habe ich mir der führung „Bern mächtig“, bei der über die ursprünge des stadtstaates berichtet werden sollte. doch schon der start war verpatzt, denn die stadtführerin kam 20 minuten zu spät. dann leistete sich die ausgebildete geografin einige historische fehlleistungen: das kaiserreich zu zeiten der stadtgründung nannte sie „heiliges römisches reich deutscher nationen“ – schon „deutscher nation“ ist für das 12. jahrhundert unsinnig, und im plural wird der spätere titel noch unpassender, fast schon ideologisch. weiter bezeichnete sie den berner schultheiss als eine art bürgermeister – ein amt für das die berner patrizier von damals nur hohn und spott übrig gehabt hätten. schliesslich stilisierte sie die berner zünfte zu mächtigen organen berns, ohne zu erwähnen, dass sie, ganz anders als etwa in zürich, in bern seit 1373 verboten waren und nur noch als gesellschaften ohne politische aufgaben funktionierten.

“schade, schade!”, sage ich da, dass so wenig erzählt wurde, was hätte interessieren können. beispielsweise hat die doktorarbeit von stefan altorfer, vor zwei jahren erschienen, mehrfach lobend besprochen und in jeder besseren buchhandlung der stadt erhältlich, viel neues und erhellendes gerade zum stadtstaat bern vorgestellt. genau das wäre es wert, in eine themenführung durch das alte bern umgesetzt zu werden. denn mit dem berner stadtstaat entstand, ausgehend vom salzhandel eine art staatsunternehmertum, das auf milizarmee setze, um ausgaben zu vermeiden und es lange schicklich erscheinen liess, auf überbordende repräsentation zu verzichten, um steuernarm privates kapital anzuhäufen, das bis heute eher träge ist.

man mag mir vorwerfen, zu hart zu sein! ich bin aber überzeugt, dass angesichts der medialen ankündigung, über die ursprünge des stadtstaates zu berichten, folgendes keinesfalls sein darf: auf die höchst berechtigte publikumsfrage, wie es mit den angriffen auf bern zum beispiel seitens freiburg in der geschichte stand, meinte unser reiseleiterin kurzerhand, das wisse sie nicht. dabei steht ausgerechnet das gefecht vom dornbühl im jahre 1298, wo die berner über die freiburger obsiegten, für den anfang der territorialentwicklung aus der engen mittelalterlichen stadt auf das weite land hinaus – und die antwort hätte anlass gegeben, die geschichte, um die es eigentlich gegangen wäre, auszurollen.

die anekdoten während der stadtführung, etwa zum ehgraben als jauchgrube hinter dem mittelalterlichen haus, zur sozialen stockwerkgliederung im traditionellen gewerbebetrieb oder zum münsterscheisser, der aus rache der steinmetzer für entgangenen lohn die passanten mit seinem hintern beehrt, gefielen durchaus. über den stadtstaat, seine ursprünge, seine entwicklungen und seine (problematische) umgestaltung in den kanton bern erfuhr man an diesem abend indessen wenig.

statt “bern mächtig” vorzustellen, musste bern an diesem abend ohnmächtig zusehen, wie es einmal mehr missverstanden wird. wie gesagt, ein wenig enttäuschend war das meiste schon. und nicht repräsentativ für viele der anderen themenwanderungen von stattland.

stadtwanderer

vor dem weltkongress für moderne direkte demokratie

gestern abend eröffnete ich die herbstsaison des stadtwanderns bei herrlichstem wetter. meine gäste kamen aus uruguay, dem land, das 2012 die vierte weltkonferenz für moderne direkte demokratie beherbergen wird.


meine gäste aus lateinamerika – nach der stadtwanderung im berner cafe fédéral

während meiner führung arbeitete ich zwei verschiedene ursprünge der schweizerischen direkten demokratie heraus: die landsgemeinden einerseits, eine germanische institution, die auf dem versammlungsgedanken der wehrhaften männer basiert, die im kollektiv über recht, krieg und frieden und grundsätze der religion entscheiden; die volksabstimmungen anderseits, eingeführt während der helvetischen republik, welche die herrschaft des französischen militärs durch bürgersupport sichern sollte.

für den ersten typ verwies ich auf konflikte, die sich aus der einführung der reformation beispielsweise in bern ergaben. so verwarf die landsgemeinde nach 1528 mehrfach den geforderten anschluss an die neue kirchenherrschaft, ohne dass sie damit letztlich erfolgreich gewesen wäre, denn die stadt schickte, als sie vom widerspruch genug hatte, ihre truppen ins oberland. das plebiszit von 1802, das der helvetischen verfassung autorität hätte verschaffen sollen, aber nur dank manipulativer auszählung angenommen wurde, diente mir, um den zweiten typ zu illustrieren.
im modernen sinne kennt die schweiz geregelte direktdemokratische entscheidungsstrukturen seit den 1830er jahren auf der kantonsebene, und seit 1874, erweitert 1891 auf der bundesebene. durchgesetzt haben sich dabei die referenden über gesetzesentscheidungen und volksinitiativen, meist als partielle änderung der verfassung konzipiert.

1848 wurde zudem das obligatorische referendum für neue verfassungen auf bundesebene mit dem doppelten mehr von volk und ständen eingeführt. erstmals einer kleinen revision unterzogen wurde die bundesverfassung 1866, unter anderem um vergessene bestandteile im bestehenden grundgesetz nachzutragen, vor allem aber, um dem französischen druck entgegen zu kommen, der jüdischen bevölkerung die verwehrten grundrechte zukommen zu lassen.

genau diese feststellung mobilisierte das interesse meines interpreten vom englischen ins spanische ganz besonders. denn david altman stammt selber aus einer jüdischen familie. heute ist eher professor für demokratietheorie und –praxis an der katholischen universität von santiago, der chilenischen hauptstadt. ein buch über direkte demokratie auf der ganzen welt hat ihn bei spezialistInnen bekannt gemacht. zu seinen gegenwärtigen forschungen zählt, eine neue typologie zur einteilung der demokratien zu entwickeln. denn die klassischen basieren zu vereinfachend auf der zweiteilung von präsidentiellem und parlamentarischen regierungsweise.

schweizer politikwissenschafterInnen wissen seit längerem um die unzulänglichkeit solcher typologien. denn sie berücksichtigen zum beispiel wenig, ob ein staat zentralistisch oder förderalistisch aufgebaut ist; vor allem vernachlässigen sie aber den grad an direkter bürgerInnen-mitsprache bei regierungsentscheidungen.

mein gestriger schlussauftritt auf dem bundeshaus inspirierte mich zu folgender anregung hierzu: denn das schweizerische politsystem ist letztlich ein mischtyp, eher, aber nicht ganz dem parlamentarischen typ zuzuordnen, mit der ersten eigenheit allerdings, von kollektivregierung geleitet zu sein, die wegen des kollegialsystem seinen zwang zur kooperation unter den relevanten politischen kräften etabliert hat, dafür aber recht unabhängig vom parlament und den dort vorherrschenden parteien entscheidungen treffen kann. die zweite eigenheit betrifft die ausgebaute, moderne abstimmungsdemokratie, mit der die bürgerInnen ihrerseits, sich unabhängig von parlament und regierung einbringen, die verfassung recht flexibel neuen gegebenheiten anpassen und missliebige gesetzesentscheidungen kippen können.

was in der schweiz eine lange weile gedauert hat, bis es sich voll entwickelt hatte, vollzieht uruguay vielleicht viel schneller. bis in die 80er jahre eine militärdiktatur, hat das land den übergang zur demokratie geschafft. zudem ist man dabei mit direktdemokatischen instrumenten zu experimentieren. nicht zufällig treffen sich die spezialistInnen hierzu im november 2012 in montevideo, um zum vierten mal gemeinsam über theorie und praxis politischer systeme mit volkabstimmungen nachzudenken.

stadtwanderer

schäfchen, würste und predigten

gestern war der eidgenössische dank-, buss- und bettag. ich war in den bergen, um zu dienen. bald werde ich auch predigen!


blasmusik gelterkinden auf der schafmatt

840 meter hoch ist die schafmatt an der stelle, wo das berghaus der aarauer naturfreunde steht. der weg der drei kantone führt hier vorbei, denn auf engstem raum grenzen auf den hügelzügen des juras der aargau, solothurn und basellandschaft aneinander. so sind benachbarte orte wie oltingen im baselbiet, lostorf gehört zum solothurnischen und die barmelweid ist bereits aargauisch.

begegnet sind sich an diesem sonntag auch wandersleute. das herrliche wetter lockte sie zahlreich in die berge, das helle herbstlicht bot eine einmalige aussichten in die weite, und der leise wind sorgte für milde abkühlung – vor allem für alle jene, die sich etwas viel zugemutet hatte.
selber war ich schon am morgen auf der schafmatt – wie auch an anderen jahren, wenn der dank-, buss- und bettag ansteht. denn an diesem eidgenössischen feiertag bin ich für die grillsachen zuständig. bratwürste vom kalb und cervelats von verschiedenen tieren gehen meterweise durch meine hände, landen auf den heissen lamellen des grills, bevor sie, für 4.50 oder 5.50 mit etwas brot und senf von hungrigen passantInnen erworben werden.

noch ehe etwas zu essen und trinken serviert wurde, gabt es geistige nahrung. wie es sich für den feiertag gehört, wurde ein feldgottesdienst unter freiem himmel angehalten. Ein gottesmann hielt die predigt, umrahmt von der blasmusik gelterkinden. diesmal war die ansprache dem grundeinkommen gewidmet. der pfarrer schlug, ohne lange zu fackeln, eine direkt brücke von der bedingungslosen liebe gottes für alle menschen zum bedingungslosen einkommen aller bewohnerInnen. ob arm, ob reich, alle sollen es gemäss der vision einer gruppen von initiativen erneuerern bekommen, um ungerechtigkeiten zu beseitigen: zwischen jenen, die arbeit haben, und jenen, denen genau das fehlt, aber auch zwischen jenen, die arbeiten müssen, und jenen, für die das nicht nötig ist.

120 würste habe ich an diesem mittag abgesetzt. egal ob mit oder ohne (grund)einkommen – meine kundschaft war erfreut, schon als sie den rauch aufsteigen sah, den geschmack des leicht angebrannten roch und als sie eine gut gegrillte wurst in empfang nehmen konnte.

getuschelt wurde unter den männern und frauen, ob ich der mit der fliege sei, obwohl ich in hosenträgern (und ohne macherl) bediente. wer seinen mut bündelte und mich danach fragte, bekam eine einfache und zustimmende antwort. das verdoppelte die freude über die wurst bisweilen geradeaus.

mich gefreut hat die anfrage des pfarrers, ob ich auch einmal eine predigt halten wolle. ohne zu überlegen, auf was ich mich da einlasse, sagte ich zu.denn ich kenne verschiedenste formen der rede, des lobgesangs und der kritik. doch gepredigt habe ich noch nie. und so bin ich jetzt noch ganz stolz, spontan zugesagt zu haben.

wann und wo das alles sein wird, weiss ich noch nicht. berichten werde ich aber fast sicher davon. genauso wie von diesem wunderbaren sonntag auf der schafmatt, ganz ohne matte schafe!

stadtwanderer

warum wir den 1. august und nicht den 12. september als gründung des schweizerischen eidgenossenschaft feiern

warum die schweiz ihren heutigen geburtstag nicht auch heute feiert, wollte followerin christine fivian wissen. hier meine schnellantwort.


fassade des bundeshauses in bern – mit 2 gründungsdaten: 1291, das mythologische, und 1848, das verfassungsrechtliche

mit den geburtstagen von staaten ist es so eine sache. sie sind, verkürzt gesagt, ein kind der nationalstaaten des 19. jahrhunderts, die sich damit nach eigenem gutdünken selber inszenieren.

die geburt der schweizerischen eidgenossenschaft in form des bundesstaates war ein schmerzhafter prozess. vereint wurden damit die souveränen kantone, die 1815 am wiener kongress von den europäischen grossmächten in einem losen staatenbund zusammengeführt worden waren. die erneuerung setzte um 1830 mit dem aufbruch der liberalen kantone ein, die sich erneuerten und so die basis schufen, die bestehende konservative mehrheit in der tagsatzung abzulösen.

friedlich geschah dies nicht. nötig war der sonderbundskrieg von 1847, der die basis für den modernen staat von 1848 legte. erforderlich war auch, sich eine gemeinsame verfassung zu geben, welche die bisherigen gesetzeswerke ablösen sollte. auch das ging nicht ohne brüche vonstatten, denn die sonderbundskantone lehnten die neue bundesverfassung in ihrer überwiegenden zahl ab. die gemässigteren unter ihnen waren bereit, den entscheid der mehrheit zu akzeptieren, während sich die hardliner dem widersetzen. freiwillig wären uri, schwyz, ob- un dnidwalden dem bundesstaat nie beigetreten.

am 12. september 1848 bewilligte die tagsatzung die bundesverfassung, und sie löste sich in der folge auf. gewählt wurden national- und ständerat, bundesrat und bundesgericht. mit der wahl konstituierten sind auch bund und kantone, womit die fünf neuen institutionen, welche die verfassung vorsah, entstanden, die bis heute massgeblich das gesicht der schweizerischen eidgenosschaft prägen.

in der sprache der zeitgenossen könnte man sagen, mit dem 12. september 1848 wurde der startschuss gegeben die bislang souveränen kantone zu fusioniert. weniger eindeutig ist, wann sie auch zusammenwuchsen. das geschah, wie bei kulturellen fragen so oft, schrittweise – wenn überhaupt. der konflikt zwischen liberalen und konservativen, der die staatsgründung von 1848 geprägt hatte, wurde politisch 1891 geregelt. beide streitparteien fanden sich zum ersten grossen nationalen fest zusammen, der vorläuferfeier des 1. august. die opposiiton von damals erhielten das lange geforderte recht auf partialrevision der bundesverfassung – das heutige initiativrecht. und die sie wurden mit einem vertreter in den bundesrat aufgenommen. dafür mussten sie sich aus ihrem katholisch-konservativen ghetto heraus bewegen und zum teil der (bürgerlichen) schweiz werden.

symbolisch vollzogen wurde dies, indem man die gründungssymbole des jungen bundesstaaten entpolitisierte. geblieben sind der stolz auf die neue eidgenössisch technische hochschule und bern als bundesstaat. in vergessenheit geraten ist beispielsweise jonas furrer, der erste präsident der schweiz.

dazu gehört auch, dass man auch dem 12. september nicht gedenkt, und die gründung der eidgenossenschaft per dekret des eidg. Justiz- un dpolizeidepartementes auf 1291 vorverschoben hat. der 1. August drängte sich auf, weil der zum staatsgründungsakt hochstilisierte bundesbrief erwähnt, die urschweizerkanton uri, schwyz und unterwalden hätten sich nach dem tod von könig rudolf I. von habsburg zusammengeschlossen, um ihre angestammte rechte auf ewig zu verteidigen.

so ist uns bis heute die mythologische, nicht juristische staatsgründung bewusst.

stadtwanderer

hermann hesses existenzielle zweifel

eindrücklich, wie mes:arts hermann hesses leben in bern vor und während des ersten weltkriegs in den gassen aufführt, wo der schriftsteller gelebt und an seiner zeit und seinem wesen gelitten hat. der bericht des mit-stadtwanderers.

matthias zurbrügg, alias konrad blum, hesses archivar, der über das leben des schriftstellers in bern berichtet

der anfang wirkt noch etwas hölzern. die “alte musik” vor dem münster will die erwartungsfrohe gesellschaft nicht wirklich mitreissen. doch dann setzt matthias zurbrügg, der einzeldarsteller des zweistündigen stadtspaziergangs, mit einem kräftigen sprung über den brunnen vor dem erlacherhof, und es scheint, als würde er über einen schatten mitten ins leben hermann hesses springen. was danach folgt, ist ein grossartiges strassentheater, dessen höhepunkt der teil in der christkatholischen kirche und ihrer krypta ist, wo der zweifel des schriftstellers am ersten weltkrieg wort für wort durchexerziert und sein leiden an sich selber in szenischer vielfalt ausgelebt wird.

vor genau 100 jahren zog der spätere nobelpreisträger für literatur mit seiner familie nach bern. beim ausbruch des ersten weltkrieges stellte sich der deutsche in seinerbotschaft als soldat, wurde aber auch gesundheitsgründen nicht genommen. seine anfängliche begeisterung für den krieg, der eine nation erneuern soll, weicht schnell der erfahrung des sinnlosen todes. hesse beginnt dagegen anzuschreiben, unter anderem mit einem artikel in der neuen zürcher zeitung, erntet dafür vor allem von seinen landsleuten kritik, sodass selbst seine anstellung in der betreuung deutscher kriegsgefangener, die er von bern aus mit selbstfinanzierten bücherversänden nach frankreich leistet, nicht mehr sicher ist.

genau in diese tage fällt der schmerzliche tod seines eigenen vaters, der dem erstgeborenen sohn den ring der familie beschert, in ihm gleichzeitig auch tiefe fragen nährt, ob er ein guter vater für seine drei söhne sei. es veschärft sich der bohrende zweifel, es kommt zum streit wegen eines kranken kindes, und es folgt die trennung von seiner frau. hesse macht eine psychoanalyse in luzern, und er beginnt mit malerei, die ihn therapieren soll. kurz nach kriegsende verlässt hermann hesse bern endgültig richtung tessin, um in seiner bis heute bekannten villa in montagnola ein neues leben zu beginnen, das ihm bis in die heutigen zeit ruhm eintragen wird.

christine ahlborn, die autorin und regisseurin, hat nach zwischenzeitlich gewohntem muster, einen historischen stoff ausgesucht, um daraus einen stadtspaziergang durch bern zu weben. ungewöhnlich dicht sind diesmal aber die geschichtlichen und biografischen bezüge zu berns hochzeit kurz vor dem krieg und hesses leben in einem moment des umbruchs. immer gekonnter wird die aufführung, wenn matthias zurbrügg auf einem brunnenrand balancierend hesses berufung zum schriftsteller erzählt, in einer engen gasse fotografierend das publikum umkreist, um den künstlerischen drang in der familie hesse aufzuzeigen, gleichzeitig aber auch ein bild der dunklen probleme in der manneslinie des hesses antönt.

erster höhepunkt ist, wie der schauspieler mit seinen mitwanderern hesses gedicht zitierend, die stufen des rathauses erklimmt, um oben auf dem podium des schriftstelleres lesung in eben diesem repräsentationsbau im märz 1914 als gesellschaftlichen bogen über die letzten tage vor dem grossen unheil zu inszenieren. die kritik der töne, welche die musik der ersten kriegstage ausmachen, ist es, welche die nahtlose überleitung zum besuch in der benachbarten kirche st. peter und paul schafft. da wird das wirken der kaiser und generäle bei der zerstörung kontinentaleuropas von der kanzel herab ätzend kritisiert, bevor es flugblätter mit totenkreuzen über die zuschauerInnen schneit und sich die gesellschaft zur besinnung in die krypta verzieht. endlich kommt man bei kerzenlicht und orgelspiel zur ruhe, um das menschliche leid hermanns und marias hesse in den kriegsjahren zu erfassen, bis man tief bewegt das ende des spektakels erwartet.

ich habe in den letzten jahren schon viele stadtwanderungen von mes:arts in bern gesehen. zahlreiche waren lehrreich wie diese, publikumsgerecht aufgebaut und unterhaltsam in szene gesetzt wie die aktuelle. doch keine wirkte bisher rundum so gelungen wie die zu hermann hesses leben in bern. denn als mitspaziererIn wurde man nicht nur in die wendungen des lebens eingeführt, das der berühmte schriftsteller in bern hatte; nein, es wird auch ein psychologisches drama entwickelt, ein exkurs zur männlichen existenz geboten und ein religiöses erlebnis an weiss gott sinnbildlicher stelle vermittelt.

danke schön, christine und matthias, sagt der

stadtwanderer