von der schweiz lernen

die neueste schweizer geschichte ist eben erschienen. sie irritiert und fasziniert zugleich.

9783406622069

wenn ein historiker aus schleswig-holstein ein werk über die schweiz schreibt, das im nachwort von der bundespräsidentin ruth leuthard berichtet, fragt man sich, wer im deutschen beck-verlag lektoriert hat. wenn der autor zudem als erstes seinen peer steinbrück zitiert, fürchtet man, eine rechtfertigung für die unwürdigen äusserungen des früheren deutschen finanzministers nachgereicht zu erhalten – und fast schon wäre der schinken kräftig zugeklappt im obesten tablar des hintersten büchergestells im estrich verstaut worden.

“das wäre schade gewesen!”, sagt man sich nach 512 seiten, geschrieben von volker reinhardt, mit dem neuesten zur schweizer geschichte.

die verflüchtigung der mythen und die folgen für die geschichtsschreibung ist das grosse thema des professors für allgemeine und schweizer geschichte an der benachbarten universität fribourg. nach ein paar federstrichen, mit den er die vorgeschichte zu 1291 skizziert, seziert er den gründungsmythos rücksichtslos, um ihn definitiv zu verabschieden – und auszurufen: “Zu den neuen Perspektiven und ihren Ergebnissen!”

dazu gehört, die ereignisse an der wende des 13. zum 14. jahrhundert konsequent im lichte der reichsentwicklung zu sehen: mit den habsburgern, den luxemburgern und den wittelsbacher konkurrenzierten sich drei adelshäuser beim neuaufbau des reiches, das nach dem ende der staufer-dynastie weitgehend in sich zusammengefallen war. für die waldstätte entscheidend war, von kaiser friedrich ii, dem weltgewandten sizilianer, 1231 und 1240 freiheitsbriefe ausgestellt bekommen zu haben, die sie von übergriffen der habsburger als adelige landesherren sicherten, einen reichtsvogt jedoch zuliessen.

werner von homberg, ritter und minnesänger mit stammsitz in der nähe oltens, sieht der autor als diesen verwalter unter könig heinrich vii. aus dem hause luxemburg-böhmen. denn für seinen feldzug nach rom, wo er nach 60 jahren unterbruch vom papst zum neuen kaiser gekrönt werden wollte, brauchte er, wie schon zu frühren söldner und gesicherte rückzugsräume. dafür machte er den erfolgreichen condottiere zum reichsvogt über die waldstätte, der den lokalen clans – den von attinghausen in uri, den ab iberg in schwyz und den von hunwil in unterwalden – ihre überlieferten rechte beliess, wenn sie dafür die söhne ihrer bauern als kampftruppe des kaiseranwärters verkauften.

wer zuhause blieb und etwas auf sich hielt, zog pferde auf, betrieb viehzucht, stellte käse her und verkauft fleisch nach mailand, an den hof der visconti, die zum kaiser hielten. zuhause beanspruchte man dafür immer mehr weiderechte, genauso wie das reichskloster einsiedeln mit den habsburgern als vögte. da alles ging zulasten der allmenden, dem lebensunterhalt der einfachen bauern und hirten. die pauperisierten unterschichten wandten sich, am dreikönigstag 1314, gegen den abt in einsiedeln, reichsfürst in weltlichen sachen, wass herzog leopold von habsburg herausforderte, dem kloster schutz und schirm zu gewähren. bekanntlich scheiterte die aktion, doch verband der angriff die landleute von uri, schwyz und unterwalden, die sich mit dem morgartenbrief am 9. dezember 1315 wechselseitige unterstützung und friedenswahrung zusicherten. in dieser zeit, vermutet der autor, seien vorhandene briefe rückdatiert worden, um die ansprüche als hergebracht zu legitimieren, was zu 1291 geführt habe.

von bedeutung wurde dies, als 1320 reichsvogt werner von homberg in der nähe von genua verstarb, und sein sohn 5 jahre später auch verschied. das königtum im reich war unklar gelöst, mit je einem halbkönig aus den häusern habsburg und wittelbach, was den aufstieg des einfachen adels aus dem gotthardgebiet erleichterte. 1322 setzte sich ludwig der baier durch. vom papst gebannt, konnte ihn nur eine selbstorganisierte kaiserkrönung sichern, die er in rom, vom volk bejubelt, durchführen liess. dafür privilegierte er die reichsvogtei erneut, die nun ohne vogt war, dem kaiserantwärter aber den weg in die stadt am tiber sichern musste. so waren, schreibt reinhardt, “die Führungsschichten der drei Länder Uri, Schwyz und Unterwalden zu einer Einheit geworden, die aus eigenem Antrieb und für selbst bestimmte Zwecke aktiv zu werden gelernt hatte.”

die so entwickelte linie verfolgend, erzählt reinhardt flüssig und und faktenreich die geschichte der eidgenossenschaft. er berichtet, von den bünden mit luzern, zürich und bern, von der verfestigung der eidgenossenschaft durch die schlachten von sempach und murten, von ihrer bedeutung als zünglein an der waage im frühneuzeitlichen europa, von der abkehr der reformatoren von der expansionsidee, von der kirchlichen und politischen spaltung, von der konsoldierung des gewordenen staates im ancien régime, vom zeitalter der modernen revolutionen, der entwicklung der demokratie und der wirtschaft und von von der insel des friedens während den weltkriegen. das ganze endet mit den gegenwärtigen europäischen herausforderung – mit den neuen inneren reibungsflächen, den bilateralen beziehungen und der bangen frage, allein in europa bevor- oder benachteilt zu sein.

die aussensicht, die hier entwickelt wird, dürfte in deutschland und österreich gut ankommen. sie verbindet europäische geschichte mit lokalen ereignissen. genau das führt dazu, diese nicht zu überbewerten und sie in ein grösseres ganzes einzuordnen. genau das gefällt mir an diesem buch, allerdings mit dem preis, gelegentlich oberflächlich, bisweilen auch spekulativ zu verfahren. genau das dürfte bei den hiesigen historikerInnen zu einer zurückhaltenden aufnahme führen, sodass die neueste geschichte der schweiz faszinieren und irritieren dürfte.

gelungen in der schluss der grossen erzählung, der die eröffnung des neuen basistunnels durch den gotthard gewidmet ist. den so erzielten weltrekord in der beherrschung der berge, sieht volker reinhardt als letztes beweisstück dafür, dass “die Eidgenosenschaft mit ihren unterschiedlichen Sprachen und Kulturen wie kein anderes Land Europas die Fähigkeit, sich neu zu denken, zu erfinden und zu positionieren hat, ohne ihre Vergangenheit zu verleugnen.” fast schon als antwort an peitschen-peer mit der bildlichen peitsche folgert er: “In dieser Hinsicht kann Europa von der Schweiz nur lernen.”

stadtwanderer

die brücke von gümmenen – verhandelt am symposium von holzhausen

alles begann mit den ersten cantarelllen aus den värmländischen wäldern. dann kamen maiskolben dazu, ochsenfilet, erdbeeren und schlagsahne. zusammen ergab das schon am freitag nachmittag ein oppulentes sonntagsessen. und da konnte die gelehrte disputation nicht fehlen.

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die holzbrücke von gümmenen, aus dem jahre 1739. ihre vorläuferbrücke war von höchster imperialer bedeutung, ebenso wie für die die geschichte der eidgenossenschaft.

das heutige symposium im schwedischen holzhausen war verschiedensten themen gewidmet, vor allem aber der brücke der gümmenen. vor ort erscheint sie den bewohnerInnen als überkommene zeugin aus frühern zeiten, längst überholt durch die verkehrsrealität der gegenwart. aus der distanz ist sie ein wahrhaftes zeugnis imperialer politik, betrieben durch karl iv., ihm dienste der böhmischen kirche und mit nebeneffekten für die bernische und eidgenössische politik.

zu beginn flossen wisky und aquavit, importiert aus der duty free in zürich. Hinzu kam ein rotweis aus dem systembolaget in torsby. die hauptspeise bestand aus edlem fleisch aus dem ica, von wo auch die maiskolben kamen. zur nachspeise gab es erdbeeren aus ekshärad, und schlagsahne, geschwungen in holzhausen. da durften die vanillekekse aus der vorratsbüchse und der kaffee aus dem rot krug nicht fehlen.

der themen waren viele. eine spannende diskussion entstand jedoch über die eidgenossenschaft. einig war man sich, dass der prinzip gut sei. selbstverwaltung, verbunden mit selbstverteidigung im ernstfall, jedoch nicht ohne verbindungen mit dem umwelt.

bei der ergründung, warum es eidgenossenschaften ausserhalb der heutigen schweiz kaum gab, stiessen die standpunkte aufeinander.
der eine: das ist eine schweizerische erfindung, von hohem inneren wert, jedoch ohne bedeutung für andere (rechts)verhältnisse.
der andere: die ausdehnung von eidgenossenschaften als landfriedensbünde wurde von kaiser karl iv. gestoppt, weil er statt bündischen adelige verhältnisse vorzog.

die fakten:
erstmals anerkannt wurden eidgenossenschaften 1365 – durch kaiser karl iv. der war von hause aus luxemburger, mit den böhmischen premyliden verheiratet, französisch erzogen, mehrerer sprachen mächtig, der als könig in prag die stadt zur kaiserresidenz machte.

eines seiner politischen ziele war die anerkennung des bistums böhmens durch den papst, denn die abhängigkeit von regensburg und damit von bayern mochte man in prag nicht. dafür galt es, einen sicheren weg nach „rom“, sprich zum papst, zu haben. wäre dieser damals wie üblich in rom gewesen, hätten die eidgenossen in im mittelland zwischen jura und alpen keine rolle gespielt. da er aber in „exil“ in avignon herrschte, führte der weg zum papst mitten durch dieses mittelland. dem kaiser jedoch waren die landfriedensbünde, die an die kaiserlose zeit nach friedrich II. und vor rudolf I. erinnerten suspekt. nur widerwillen lernte er sie zu akzeptieren.

in jungen jahren hatte kaiser karl iv. auf die goldene bulle gesetzt. damit wollte er die rechtsvehältnisse im unüberischtlich geworden reich neu ordnen. denn die adelkriege hatten die ehemalige einheitlichkeit des reichs in die ferne rücken lassen.

zu den übergeordenten zielen der kaiserzeit von karl gehörte, prag, seine residenzstadt zum sitz eines eigene bistums machen zu können. denn die abhängigkeit von regensburg und damit von bayern mochte man in prag nie.

dafür galt es, einen sicheren weg nach „rom“, sprich zum papst, zu haben. wäre dieser damals wie üblich in rom gewesen, hätten die eidgenossen in im mittelland zwischen jura und alpen keine rolle gespielt. da er aber in „exil“ in avignon herrschte, führte der weg zum papst mitten durch dieses mittelland.

das bündnis der zürcher mit den waldstätten nach der pest hatte der kaiser mit krieg auf gelöst. das gleiche der berner akzeptierte er ein dutzend jahre später. denn auf dem weg nach avignon erschien ihm bern unumgänglich.

auf dem weg in die papststadt hauste karl ein erstes mal in bern. die krone diente ihm als absteige, doch kam es noch zu keinem verhandlungsergebnis. erst auf dem rückweg einigten sich die beiden parteien.

von bern verlangte der kaiser, dass die bürgerlichen kräfte, die nach der ersten pestwelle an die macht gekommen waren, den traditionsreichen junkern wieder platz machen würden. die von bubenbergs, zwischenzeitlich im könizer exi,l kehrten in die stadt zurück und übernahmen das amt des schultheissen erneut.

die stadt wurde mehrfach privilegiert. sie erhielt erstmals ein festes kaufhaus und wurde damit für den überregionalen handel attraktiv. um ihre stellung in der umgebung zu sichern, erhielt sie die rechte über die hoheitliche brücke bei gümmenen, im grenzraum zwischen dem alten schwaben und burgund.

kaiser karl der vierte anerkannt mit der übertragung der rechte über die brücke zu gümmenen nicht nur die reichsstadt bern, sondern auch ihre regionalen herrschaft. diese galt dem kaiser als garantin für die sichere wege durch die gegend, und damit für die verbindung von prag nach avignon.

das war für die stadt bern, ihre burgundische eidgenossenschaft und die verbindung zu jener der waldtstätte nicht ohne. denn erstmals akzeptierte ein kaiser die rechtsform, die sonst nur ausserhalb geregelter regierungszeiten gültigkeit gefunden hatte.

ausgedehnt haben sich eidgenossenschaft darüber hinaus aber kaum. den sie galten nach wie vor als unordentliche bündnissysteme, von minderem rang, und maximal in übergangszeiten zur rechtssicherung akzeptabel.

der alte aus holzhausen, der selber in der nähe der karlsbrücke in prag lebte, danach nach bern emigrierte und heute in den värmländischen wäldern cantarelle findet, bevor man sie irgendwo sonst bekommt, staunte nicht schlecht, als der die ausführungen vom stadtwanderer hörte. denn wie für jeden prager ist karl iv. für ihn ein vorbild an internationaler ausrichtung, staatsrechtlicher ordnung und lokaler verbundenheit in prag, bern und holzhausen.

in erinnerung an seine fischereiwege ins seeland erhob er in holzhausen seine arme. „ich bin karl der vierte, der weiss, wie wichtig der übergang bei gümmenen ist, wenn man in bern lebt“, rief er am essenstisch aus.

das alles mitten im holzhausener symposion bei cantarellen, ochsenfleisch und erdbeeren, das die juristische anerkennung der eidgenossenschaft am beispiel der holzbrücke von gümmenen klärte.

jetzt fehlen nur noch die karpen im teich und auf dem teller! vielleicht bekommen wir welche bis zu weihnachten in bern …

stadtwanderer

auf dem pilgerweg des nordens


der grössere teil der kapelle wirkt wie ein langhaus, dem versammlungszentrum der vikingersippen. spätestens die beiden drachen auf dem dach erinnern einen auch an eines ihrer legendären schiffe aus dem frühen mittelalter. den kleineren teil firmiert, genauso wie den eingang, ein kreuz, unzweifelhaft ein christliches. eine mischung, die typisch ist für alte kirchen am früheren pilgerweg des nordens.

stavkyrka heisst die kirche auf schwedisch, was auf deutsch stabkirche heisst. entstanden ist der name wegen der bauweise. denn die holzbalken werden nicht, wie in der blockbauweise waagrecht aufeinander gelegt, sondern senkrecht aneinander gereiht.

eingeweiht worden ist die stavkyrka von nygard bei ekshärad 2002 vom örtlichen bischof. erstellt haben sie handwerkern aus ekshärad – ein zimmermann und ein schmid waren dabei führend.

erbaut wurde sie nach traditionellen plänen der kirchen norwegens, die im 12. und 13. jahrhundert ihre blüte hatten. denn was rom für den süden, jerusalem für den osten, santiago de compostella für den westen war, das ist nidaros, das heutige trondheim, für den norden: der traditionsreiche sammlungsort für gläubige, die einmal im leben gott nahe sein wollten. und der weg hierzu war gekennzeichnet durch kleine gotteshäuser.

die stabkirche ist ganz aus holz gehalten, wie es sich für einen traditionellen treffpunkt auf dem land gehört. einzige ausnahme ist die platte auf dem altar, die aus einem seltenen stein der gegend geschlagen wurde. und der unterbau der kirche ist heute mit steinen unterlagt, damit das gebäude nicht fault.

die ausstattung im innern ist schlicht. drei kleine fenster geben ein wenig tageslicht, das während einer messe durch kerzen verstärkt wird. im hauptraum hat es genau drei bänke, eher für die touristInnen als für die gläubigen. denn die stehen während der ganzen dauer einer messen nach alter sitte. am imposantesten ist der dachstock. ein wenig luftigkeit kommt auf, wenn man ihn von unten erkundet. denn die baukunst des zimmermanns schwebt hoch über dem normalen besucher.

den oder die überrascht man in der umgebung der stabskirche mit einem kräutergarten, der ein wenig an eine frühchristliche präziose erinnert, wie sie in kontinentaleuropa von karl dem grossen gefördert wurden. da hat es alles, was einen erfreut, und im bedarfsfall auch wieder gesund macht(e). und es bereichert die örtliche biodiversität, was die zahlreiche schmetterlinge, hummel und bienen vor ort freut.

die guten zeiten der pilgerwege im norden waren zwischen dem jahr 1000 und 1500. die erinnerung an den heilig gesprochenen christlichen könig olav von norwegen bildete den anfang. mit der bildung des schwedischen nationalstaates unter könig gustav vasa kam dann jedoch das jähe ende. denn die seine lutheranisch gesinnten gottesleute hielten nichts mehr von dieser mittelalterlichen wanderungen. die meisten der kirchen in schweden verschwanden im 17. jahrhundert nach pestepidemien. heute entstehen sie neu, als teil einer europäisch verstandenen form der kulturbegegnung, eher touristisch als konfessionell ausgerichtet.

ein kleiner besuch, der es wert ist, auf den hügeln von nygard, hoch über der klarälv von ekshärad.

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der sturz des königs der tiere

das erste buch, das ich meinen ferien im nordischen holzhausen gelesen habe, ist die grossartige kulturgeschichte zum verhältnis des menschen und des bären, die es bis in harvard-press geschafft hat, bei uns (in bern) bisher aber kaum wahrgenommen wurde.

xals im juli 1969 neil armstrong mit seinem apollo-team zur ersten erfolgreichen mondlandung aufbrach, hatte er einen bären dabei – keine leiblichen selbstredend, aber einen teddybären!

michel pastoureau, französischer spezialist für die geschichte der symbole des europäischen mittelalters, nimmt das „als Zeichen einer sehr langen Geschichte zwischen Mensch und Bär, die auf dem Mond, an der Schwelle zur Ewigkeit, fortgesetzt wird.“

2007 hat der pariser professor ein bemerkenswertes buch über eben diese kulturgeschichte herausgebracht. in de debatten der archäologie, ethnologie und religionswissenschaften zum bär als erstem gott der menschen mag sich der historiker nicht wirklich einmischen. für ihn ist aber klar, in europa war der bär lange zeit der könig der tiere, analog dem löwen in asien, dem elefanten in afrika und dem adler in amerika.

die anfänge dieser tradition sieht in griechenland. artemis (die zwillingsschwester von apollo), ist seine zeugin. in arkadien, dem „land der bären“, war sie nicht nur die göttin der jagd, sondern auch des mondes, des waldes, der berge und der wilden tiere. die mythologie, die um sie entstand, ist nach pastoureau durch die drei verhältnisse gekennzeichnet, die es bei jagenden völkern gegenüber dem bären gibt: durch die verwandlung von menschen in bären, durch die mütterliche bärin, die verloren gegangene kinder aufzieht, und durch den bär als monster, der jungfrauen verführt.

in unseren breitengraden galt der bär lange als unser nächster verwandter – als mensch im fell quasi. seine physiognomie gleicht dem den menschen, wie dieser kann der vierbeiner aufrecht gehen und nutzt er die ganze sohle, wenn er geht. doch nicht genug: er kann schwimmen, rennen, klettern, springen und tanzen, genauso wie wir menschen auch.

im hohen norden, wo es heute noch bärenkulte gibt, ist diese symbiose besser spürbar: nicht nur ist die verehrung des raubtieres im alltag der naturvölker fest verankert geblieben; in der geschichte dänemarks, norwegens und schwedens haben sich könige immer wieder als nachfahren des bären verstanden.

das hat sich in kontinentaleuropa ins umgekehrte gewandelt. pastoureau sieht im römischen historiker plinius dem älteren und im kirchenvater augustinus die frühen feinde des königs im tierreich. als eigentlichen übeltäter denunziert wird jedoch karl der grosse. während seiner feldzüge gegen die sachsen liess er nicht nur heilige bäume fällen, magische steine versetzen, nährendes quellwasser umleiten und traditionelle orte mit christlichen kapellen bebauen, um die heidnischen bräuche auszurotten, nein, er hatte es auch auf den bären als krafttier der besiegten völker abgesehen.

in seinem buch „Der Bär. Geschichte eines gestürzten Königs“ entwickelt passtoureau die these, dass mit der christianisierung zwei strategien zu vernichtung entwickelt worden sind: die treibjagd im wald und die hetzjagd in der literatur. der kulturelle kampf gegen den bären interessiert ihn besonders: denn da wird er im hochmittelalter in raten bekämpft, gezähmt und erniedrigt.

angefangen hat das in frankreich, von wo der bär schon früh verdrängt wurde, in die pyränäen, die alpen und den hohen norden. symbolisch nachgezeichnet werden kann diese nach dem heraldiker pastoureau anhand des aufkommens von wappen im 11. jahrhundert. Speziell mit den kreuzzügen setzte sich in europa die vorherrschaft des löwen als zeichen der macht und als könig der tiere durch.

wenn bern (wie berlin) bis heute dagegen hält, ist dies in diesem gelehrsamen buch ein zeugnis für germanische traditionen, die in gebieten, die erst im 12. jahrhundert erschlossen wurden, länger erhalten blieben, ja bis heute nachwirken. Knut, der weissbär, und finn, der braunbär sind beredete zeugnisse daf^ür.

andernorts setzte sich schneller durch, was im ausgehenden mittelalter allgemeingut wurde: der bär wird aus dem wald gezerrt, in den werdenden städten auf den marktplätzen angebunden und domestiziert im zirkus aufgeführt, um ihn letztlich zu verspotten.

seine ehrenrettung findet der bär seither in den fantasien der herrschenden, den museen der naturkundler und als teddybär im kinderzimmer. von wo er als rache bis auf den mond schaffte!

stadtwanderer

sieben thesen zur entstehung und situation der schweiz

tina war überschwänglich. die slovenische fernsehfrau empfing mich am treffpunkt im zürcher hb und kam gleich zur sache. sie wolle ein interview von mir, vom sieg der eidgenossen über die habsburger bis hin zum nicht-eu-beitritt der schweiz in der gegenwart.

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die schweiz dem slovenischen fernsehen erklären – das notizbuch der vorbereitung und durchführung.

während die kamera in grossen halle installiert wurde, fragte mich die slovenische journalistin, ob es stimme, dass ich keinen doktor habe und dennoch an der uni unterrichte. ich antwortete ihr, so ungefähr sei das. sie wollte wissen, ob das nicht unmöglich sei. ich nickte, was sie erstaunte: sind sie also unmöglich? – nein, nein, ich bin einfach erfahren antworte ich.

hier die thesen, die ich als hintergrund für das gespräch mit dem slovenischen fernsehen vorbereitet habe:

erstens, das ist zuerst der ausgeprägte regionalismus mit einem dutzend städte und länder, die durch ihre kooperation untereinander im zerfallenden kaiserreich realtiv hohe autonomie erlangten. ursprünglich ging es um die hoheit über transitstrassen und kirchen. später war man vor allem ein militärbündnis. das angebot war attraktiv, weshalb das bündnis namentich zwischen mitte 14. und mitte 16. jahrhundert wuchs.

zweitens, die entwicklung einer übergeordneten staatlichen struktur wurde namentlich durch die reformation verhindert. das wachstum des bündnisses aus dem mittelalter wurde so gestoppt, die aussen- durch die binnenorientierung abgelöst. gespalten wurde auch die einheit von stadt und land, denn vor allem die städter wandten sich der neuen lehre zu, blieben aber lange in der minderheit. geformt wurde dadurch der reformierte stadtstaat in der katholischen umgebung.

drittens, am ende des ancien regimes, also vor der eroberung durch frankreich, kann man von einer staatlichen organisation sprechen, in der republikanische gedanke verwirklicht wurde. dank beteiligung am europäischen handel kam man zu reichtum, die konfessionelle spaltung wurde überwunden, die herrschaft über das militär war gegeben. die entscheidungsprozesse waren jedoch schwerfällig, die vielfalt der voraussetzung in der patrizischen, zünftischen und landsgemeindeorte blieb gross. eine nation war die schweiz im ancien regime eindeutig nicht, ein kleinstaat im werden der europäischen nationalstaaten schon.

viertens, mit der modernisierung des staates unter einfluss frankreichs und österreichsr enstanden die voraussetzungen für die schweizerische eidgenossenschaft: der föderalismus und die direkte demokratie zeigen die grössen wirkungen und sind dauerhaft von bedeutung. geblieben ist auch die republikanischen tradition. hinzu kommt eine verwaltungstradition, welche den bündnischarakter der staats ablöst. patriotische, liberale, radikale, demkratische und soziale bewegungen entwickel(te)n nicht nur die gesellschaft; sie prägen schrittweise das erneuerte schweizerische staatsverständnis, das dadurch bis heute einem patchwork mit einflüssen aus frankreich, den usa, deutschland und italien gleicht.

fünftens, der heutige staat ist ein kompromiss aus wirtschaftlichen erfordernissen der einheit und kulturellen grenzen aus der vielheit. die schweiz ist ein bundesstaat, der auf integration der regionen, konfessionen, sprachen und schichten ausgerichtet ist. die demokratisierung der politik trug mit ihrem mobilisierenden element einiges zur verbreiterung der basis bei, selbst wenn schwächen bei frauen und jungen lange bliebe oder anhalten. die konkordanz entwickelt sich zum vorherrschenden strukturmuster der politischen kultur, die auf verhandlungen zur konfliktlösung setzt. das wirkt sich auf die regierungsbildung aus, gelingt unter wirtschaftlichen guten bedingungen besser.

sechstens, mit dem ende des kalten krieges ende des 20. jahrhunderts verschwindet der zauber des schweizerischen staatswesens. der antikommunismus als einigende klammer fällt weg. die globalisierung von wirtschaft und kommunikation, die internationalen firmen und das internet bringen neue dynamiken ins land, das durch eine scharfe polarisierung der politik, der ökonomie und der gesellschaft erfasst wird. die anhänger einer rückwärts gewandten, traditionellen schweiz, und einer vorwärtsgewandten, modernen schweiz stehen sich schroff gegenüber.

siebtens, politisch sind heute die traditionalisten im vorteil, obwohl sie nur eine minderheit ausmachen, doch ist diese in einer nationalkonservativen partei geeint. derweil streiten die sich die vertreter des bürgerlichen zentrums und der rotgrünen linken darum, wer die vorherrschaft haben so, wie die modernisierung des schweizerischen staates im 21. jahrhundert aussehen soll.

ob die schweiz unter diesen bedingungen der eu-betreten werden, wollte tina am ende wissen. diese antwort konnte ich ihre locker schuldig bleiben …

stadtwanderer

ps. das inti erscheint am do im slovenischen fernsehen, werde eine link besorgen.

state building in switzerland

das slowenische fernsehen will mich interviewen. es geht um die staatenbildung am beispiel der schweiz. das land geniesst auf dem balkan viel sympathien. das weiss ich aus der erfahrung, die ich in verschiedenen reise gesammelt habe. jetzt geht es darum, wie man das auf den punkt bringt. ich bitte um mithilfe.

Tilly 1charles tilly. amerikanischer historiker, sozio- loge und politiker, der sich mit dem prozess der staatenbildung eingehend auseinander gesetzt hat.

charles tilly, ein amerikanischer sozialwissenschafter, den ich während meinem studien fleissig konsultiert habe, schreibt dazu: “State building provided for the emergence of specialized personnel, control over consolidated territory, loyalty, and durability, permanent institutions with a centralized and autonomous state that held the monopoly of violence over a given population“. generell gesprochen geht es um den prozess, bei dem sich der staat von der gesellschaft durch institutionen zu unterscheiden beginnen, welche die entscheidungsprozesse formalisieren.

wann und wie ist das in der schweiz geschehen?

mehr oder weniger klare staatsgrenzen haben wir seit 1815.
mehr oder weniger permanente institutionen haben wir seit 1848 und danach.

spuren davon entstanden unter einfluss der französischen revolution, als folge der der reformation und durch gemeinsame bündnisse gegen habsburg. die ältesten vorstaatlichen spuren kann man wohl ins 14. jahrhundert zurückverfolgen.

ausgebildet worden ist vieles erst im 20. jahrhundert: zum beispiel die eigene einheitlich währung. oder die staats- resp. autobahnen.

das konkordanzsystem hat alte ursprünge. seine überhöhung hat es aber erst in der nachkriegszeit erhalten. die direkte demokratie als abstimmungsdemokratie gibt es seit rund 180 jahre. das milizsystem wiederum ist älter, der föderalismus sogar viel älter.

zudem: aus meinen reise auf dem balkan weiss ich, wie schwierig es ist, etwas, das an einem ort funktioniert hat, an einem andern zu realisieren! staatenbildung ist ein prozess der mobilisierung, der nur gelingt, wenn er nicht bloss von oben gesteuert, sondern auch von unte getragen wird!

so bleibt mir nur eines zu fragen, auf das es wohl viele antworten gibt: wie nur soll man das alles in wenigen, knappen, gut verständlichen sätzen (auf englisch) für slowenen formulieren?

hilfe! wer macht mit, bei versuch, das interview vom kommenden dienstag sach- und mundgerecht vorzubereiten, wenn es heisst: how was the process of state bilding in the famouse case of switzerland?

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mehr oder weniger kla

es waren staatsbürgerinnen ohne stimmrecht

den langen weg zum frauenstimmrecht hat die berner geschichtsprofessorin beatrix mesmer anhand der politik der frauenverbände im 20. jahrhundert nachgezeichnet. ihr schluss, erst damit, dass frauenrechte als teil der menschenrechte gesehen wurde, kam es zum durchbruch.

978-3-0340-0857-0während des ersten weltkrieges bauten die frauen auf vorleistungen wie die freiwillige nationale frauenspende.
in den ersten kantonalen abstimmungen nach dem krieg, die das frauenstimmrecht vorsahen, honorierten die männer das nicht.

dann setzten die frauen auf die doppelte qualifizierung der mädchen für beruf und haushalt, um den ihnen zu mehr ökonomischen einfluss zu verhelten.
doch das scheiterte angesichts der tiefen wirtschaftskrise der dreissigerjahre.

schliesslich versuchte man es nach dem zweiten weltkrieg über den einsitz in expertenkommissionen, um auf die gesetzgebung einfluss zu nehmen.
das zeigte bescheidene erfolge, wie beispielsweise bei der staatsbürgerschaft verheirateter frauen.

erst die rezeption der menschenrechtsdeklaration verhalf dem frauenstimmrecht zum durchbruch. sämtliche verbände fanden sich einer arbeitsgemeinschaft zusammen, welche in kantonen und auf bundesebene volksabstimmungen verlangten.
dank einer neuen demonstrationskultur wurde der öffentliche druck so gross, dass 1971 die wichtige etappe in der gleichstellung der geschlechter in der schweiz gelang.

am 6.6.1971 stimmten die frauen erstmals wie die männer in einer eidgenössischen sache ab.
aus staatsbürgerinnen ohne stimmrecht waren nach einer langen und beschwerlichen wanderung vollwärtige stimmbürgerInnen geworden.

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die kleine verfassungsrevision von 1866

schon die ersten abstimmungen zu verfassungsänderungen zeigten stärken und schwächen der direkten demokratie: ihre entscheidungen sind durch das volk legitimiert, und sie können im widerspruch stehen zum übergeordneten menschenrecht.

Bundesverfassung_1848_Schweizdie bundes- verfassung von 1848 hielt bis 1874, trotz wichtigen änderungen im jahre 1866

wenn es um schweizerische verfassungsgeschichte geht, spricht man gerne von 1848, 1874 und 1999, den drei daten, an denen die jeweils neuen bundesverfassungen beschlossen wurden. 1848 wurde die liberale bundesverfassung eingeführt, 1874 und 1999 kam es zu zwei erfolgreichen totalrevisionen.

wenig gesprochen wird dagagen vom jahr 1866, als es zur ersten kleinen verfassungsrevision kam. am 14. januar beschlossen die stimmenden alle bürger in bezug auf niederlassung und gesetz gleichzustellen. damit fiel die ausnahmebestimmung für juden, die in der alten eidgenossenschaft tradition hatte und auch in die 1848er verfassung eingang gefunden hatte. weiterreichende gleichstellungen wurden indessen verworfen. sie hätten beispielsweise auch das stimmrecht, die glauben- und kultusfreiheit füür juden gebracht.

zur abstimmung kamen die vorlagen, weil frankreich in der schweiz interventiert hatte. denn die verfassung von 1848 garantierte den juden nicht, was für christen galt. kaiser napoléon III. verlangte, das im sinne der menschenrechte zu ändern. bundesrat und parlament stimmten dem zu und mischten einige entschärfungen von schwächen der 48er verfassung wie die vereinheitlichung von massen und gewichten bei, sodass es zu den ersten neun volksabstimmungen in der schweiz kam.

wirklich vorbereitet war man darauf nicht. das merkt man bis heute, wenn man die unterlagen zu entscheidung studiert. so gab es kein register der stimmberechtigten, das es erlaubt hätte, die stimmbeteiligung zu ermitteln. sie ist bis heute unbekannt. man weiss einzig, dass rund 320’000 personen stimmten. und merkwürdig mutet an, dass die vereinheitlichung der masse und gewichte angenommen wurde, obwohl eine mehrheit der kantone die zentralisierung ablehnte.

das alles hatte damit zu tun, dass die liberalen teilrevisionen ihrer verfassung von 1848 nicht zulassen wollten. zu stark fürchteten sie die opposition aus dem katholisch-konservativen lager, aber auch aus der romandie. deshalb bereitete man verfassungsrevision durch das volk gar nicht vor.

1872, beim ersten versuch, die bundesverfassung geordnet zu revidieren, kam es denn auch zu dieser doppelten opposition, sodass der versuch mit 49 zu 51 prozent zugunsten der ablehnung scheiterte. erst 1874 gelang die erste totalrevision mit einer volkszustimmung.

bei meiner stadtwanderung mit dem international zusammengesetzten beirat zur vox-analyse, die ich am freitag abend durchführte, wurden mir die zusammenhänge so richtig bewusst.

frankreich ist nicht nur geburtsort des europäischen demokratieverständnisses. mit der jakobinischen verfassung von 1793 wurden auch erstmals volksrechte proklamiert. der gedanke wurde in der folge nicht weiter verfolgt; vielmehr entwickelte sich in frankreich der parlamentarismus, mit einem kaiser, könig oder staatspräsidenten an der spitze.

in anlehnung an die landsgemeinden in den landkantonen entwickelte sich die demokratie schrittweise weiter: zuerst von der versammlungs- zur abstimmungsdemokratie. dann von der verfassungsmässig geschützten parlamentarischen demokratie zur direkten demokratie.

eine schwäche blieb: die einbettung in menschenrechte, die universelle gültigkeit beanspruchen war gering und sie ist bis heute eine schwäche geblieben. da brauchte und braucht es bis in die heutige zeit gegendruck von aussen. daran erinnern abstimmungen über “outgroups” von 1866 bis in die heutige zeit.

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berns moderne zeit: materialiensichtung über-, spurensicherung unterentwickelt

da mache ich mir gar nichts vor: ich werde aus diesem buch noch 1000 mal zitieren. dennoch bleibt ein schaler nachgeschmack bei der lektüre zu “Berns moderne Zeit“, dem letzten band in der neuentdeckung der berner geschichte, zurück.

5377begegnung zwischen tradition (rechts) und moderne (links) im 19. jahrhundert: albert ankers kleinkinder- schule

der anspruch ist grandios: denn in diesem buch geht es um nicht weniger als politik, gesellschaft, wirtschaft, kultur des kantons bern seit die französischen truppen das ancien regime beendet und den kanton in bewegung gesetzt haben. texte und anhänge, von peter martig herausgegeben, erstrecken sich über fast 600 seiten. charlotte gutscher und sandra hüberli, welche die bildredaktion besorgten, liessen das werk reichlich illustrieren.

zuvorderst wird man in das bild albert anker “Kleinkinderschule auf der Kirchenfeldbrücke” eingeführt. dabei geht es um ein treffen zwishen tradition und moderne, symbolisiert durch kleidungen, aber auch durch verhältnisse. denn kinderkrippen entstanden als städtische einrichtungen während der krise der agrarwirtschaft, die zu einer landflucht und damit zum anwachsen der städte führten. das ganz ist programm. denn es geht darum, wie die bernerInnen mit der moderne umgehen gelernt haben.

was so gebündelt beginnt, ufert danach leicht aus: mehr als 100 autorInnen haben zum buch beigetragen, über 150 kapitel sind so entstanden. meist widmen sie sich einem klaren thema, sind sie vorbildlich kurz gehalten. in der regel sind in deutsch abgefasst, une minorité des chapitres est écrites en français.

da geht es um regierungsstatthalter als mittler zwischen volk und verwaltung, um flüchtlinge aus deutschland. erzählt werden die körpergrössen der berner und hinrichtungen in langnau. nicht fehlen können je ein kapitel über verdingkinder, die fasnacht und badekulturen im kanton. spannung verheissen berichte über katastrophenkulturen, käsefieber und medizinaltechniken. porträtiert werden der berner bahnhof, bond und bollywood. die rede ist auch von jeremias gotthelf, dem grossen berner schriftsteller wie auch von anna tumarkin, der ersten professorin europas, die in bern lehrte.

man wird gar nicht fertig, den superlativen facettenreichtum dieses buches zu würdigen. postkarten tragen genauso dazu bei wie unveröffentlichte fotos. zeichnungen, stadtpläne, bilder, karikaturen, fotos, und faksimilierte dokumente beeindrucken einen seite für seite, egal, ob sie aus der frühen moderne des 19. jahrhunderts, dem höhepunkte der berner geschichte vor dem ersten weltkrieg, oder dem umbruch in der späten moderne, in der wir heute leben.

und dennoch. wenn man das buch bildlich und textlich durch hat, befällt einem das gefühl, heerscharen gelehrter hätten ihre zettelkasten aus jahrelangen recherchen über einen ausgeleert. und genau da mischt sich die faszination über den rechtum des wissens mit der erschrecken über dem ungeordneten historismus der gegenwart. denn es macht den anschein, alles in bern habe geschichte geschrieben. der bundesrat ganz sicher, die burgergemeinde wohl auch, ebenso die arbeiter, die frauen, die juden, die künstler, die nobelpreisträger, ja selbst die bourbaki-armee bekommen etwas vom aussergewöhnlichen ab, das einem den eingang in ein geschichtsbuch öffnet.

dabei ruft niemand halt und fragt, wo steht der kanton eigentlich?

man hätte sich gewünscht, dass man als abschluss des buches eine oder einen kennerIn der berner entwicklung, ihrer gegenwart, vergangenheit und zukunft gebeten hätte, nicht nur zurückzuschauen, sondern auch auf die seite zu gucken und nach vorne zu blicken. um die leserInnen aufzuklären, was an alle dem, was berichtet wurde, in anderen kantonen auch geschah, was in bern verspätet passierte und wo der kanton führend war. und um die frage zu beantworten, die doch so drängend vor der türe steht: nämlich ob bern nicht nur eine monumentale geschichte hat, selbst in den 200 jahren der moderne, sondern auch eine ebenso tragende zukunft, in den 200 jahren, die kommen.

denn geschichte ist nicht nur bienenfleissige selbstbeoachtung. sie ist auch kritische selbstvergewisserung und nachdenkliche selbstreflexion, um nicht berge von informationen aufzuschütten, sondern auch die wege aufzuzeigen, die die erhebungen hinauf und hinab führen. leider muss ich da sagen: auf dieser spurensuche fühlt sich der wanderer durch berns räume und zeiten ziemlich alleine gelassen.

stadtundlandwanderer

die illusion der geschichte beim wandern in cudrefin

vor uns wellt der neuenburgersee, hinter uns läuft der mont vully aus. dazwischen liegt das stsädtchen cudrefin. ein wanderungsbericht mit geschichten aus dem ort, dem hause savoyen und der familie longchamp.

800px-Cudrefincudrefin von montet aus, mit neuenburg im hintergrund.

mit der juragewässer- korrektur im 19. jahrhundert verkleinerte sich der neuenburgersee. seither hat es zwischen dem landstädtchen cudrefin und dem seeufer platz für einen hafen mit zahlreichen segelschiffen, ein strandbad mit ausgedehntem schilf und ein restaurant, baywatch genannt, sodass an einem warmen sommertag wie heute ferienstimmung aufkommt.

4000 bis 5000 campingleute zählt cudrefin während des sommers. ihnen stehen knapp 1200 ortsansässige gegenüber. die meisten von ihnen sind französischsprachig, eine minderheit spricht deutsch, und die kolonie aus portugal ist die dritte sprachgemeinschaft im waadtländischen landstädchen.

letzter höhepunkt in der stadtgeschichte war die versammlung schweizer diplomaten am ort. 1997 war das, unter der leitung von bundesrat jean-pascal delamuraz. der platz vor der stadt trägt seither seinen namen.

eigentlicher stadtherr ist peter von savoyen. 1246 erwarb der spätere graf den platz vom bischof in sitten, der ihn 999 aus der hand des burgundischen königs geschenkt bekommen hatte. vermutlich war er damals schon besiedelt, aber nicht befestigt.

der drang nach norden steckte im savoyer. nach dem aussterben der zähringer übernahmen seine vorfahren moudon, später wurde peter herr von romont und payerne. die natürliche fortsetzung des weges über avenches und morat blieb ihm indes versperrt, nicht zuletzt weil die orte zum bischof in lausanne und zum kaiser im reich hielten. so wählte peter den pfad über cudrefin, um bei oltingen über die aare ins mittelland vorstossen zu können. das war nicht ohne, peter war ja eine weile schutzherr von bern.

die grossen gegenspieler der savoyer, die habsburger, seit 1273 deutsche könige und förderer von lausanne, kannten, wie schon hundert jahre zuvor die zähringer, den umgekehrten drang nach süden. so kam man sich regelmässig in die quere.
1283 eroberten die habsburger murten, dann payerne und behielten beide orte bis zum tod von rudolf I. erst danach gelang den savoyern der direkte durchstoss nach norden; murten, den entscheidenden platz, nahmen sie 1310 ein und behielten es bis zu den burgunderkriegen.

cudrefin verlor in dieser zeit an herrschaftlicher bedeutung. der graf von grandson, auf der anderen seeseite im süden gelegen, übernahm die verwaltung der stadt. 1393 kam es zum aufstand gegen ihn und zum gottesurteil durch adelskampf. die aufständischen unterlagen; das städtchen cudrefin, das zu den oppositionellen hielt, wurde erstmals zerstört.

von der viereckigen gründungsstadt sieht man bei einer heutigen wanderung kaum mehr etwas. was im 14. jahrhundert überlebte, wurde 1475 bei der freiburgischen besetzung zerstört, und was man danach noch hatte, legte ein stadtbrand im bernischen provinzstädtchen im zeichen der revolutionäre aufstände 1790 in schutt und asche. den schlusspunkt unter die stadtzerstörungen setzen die bürger von cudrefin selber, als sie 1839 die beiden grossen wehrtürme und die stadtmauern abtrugen, und das heutige hotel de ville bauten. übrig geblieben aus früheren zeiten ist der gerechtigkeitsbrunnen aus den zeiten, als man in der gegend bernische untertanen war. und ein turm aus savoyischen zeiten, der zum kirchturm mutierte, ziert den ort.

erlebbare geschichte ist im landstädtchen an den gestaden des neuenburgersee jedoch zur weitgehenden illusion geworden.

schön ist die aussicht von montet aus, wo die heute reformierte kirche von saint theodul steht, die an den patron der wanderer, christen und weintrinker aus dem wallis erinnert. im frühling 1957 arbeitete mein vater da, als ihn die nachricht erreichte, er müsse sofort nach hause, denn es stehe nachwuchs im hause longchamp an – worauf ich das licht dieser welt erblickte …

stadtwanderer

bern und die stadtentstehungstheorie

mittelalterliche städte wie bern wurden vom adel aus gründen des machtausbaus gegründet. städte wie bern sicherten weiträumige verbindungen, erschlossen ihre region mit märkten und wurden mit mauern vor feinden geschützt.

der walisische geograph harald carter entwickelt in den 70er jahren des 20. jahrhundert eine eigentliche stadtentstehungstheorie. er nannte vier gründe, warum es zu städten kommt:

. den hydraulischen grund: örtlich begrenzt verfügbares wasser begrüdet die stadtentwicklung
. den theologischen grund: ein räumlich fixiertes heiligtum steht am anfang der stadtentwicklung
. den ökonomischen grund: ein markt bildet die grundlage der stadtentwicklung
. den militärischen grund: der schutz in form einer mauer bildet den anstoss der stadtentwicklung.

bern
die zähringerstadt aus dem frühen 12. jahrhundert

wendet man dies auf bern an, merkt man als erstes, was nicht zutrifft. von wassermangel kann man in der furchigen landschaft des aaretals generell nicht ausgehen. bern war bei seiner gründung auch kein religiöses zentrum; das lag in köniz, von dem man in kirchlichen fragen anfänglich abhängig blieb.

die gründung und frühe entwicklung der stadt bern war von herrschaftlicher absicht. der weg von freiburg im breisgau, der ersten zähringischen stadtgründung, nach lausanne sollte städten in regelmässigen abständen erschlossen werden. die lage von rheinfelden, herzogenbuchsee, burgdorf, freiburg, murten, milden/moudon können so gedeutet werden, und bern sicherte die verzweigung nach thun ins oberland, nach freiburg ins üechtland und nach murten durch die seenlandschaft.

bern war von beginn weg ein marktplatz, der aus dem aareübergang im bereich der heutigen untertorbrücke entstand. diese gab es bei der stadtgründung noch nicht. so soll erst ein halbes jahrhundert später gebaut worden sei; zu zeiten der zähringer führten indessen eine fähre an der traditionsreichen stelle über die aare. vielleicht gab es schon vor der stadt eine warenumschlagplatz; sicher ist, dass mit der stadtgründung ein markt entstand, auch wenn auf keine separaten platz, sondern auch der langen gasse durch den ort stattfand. anfänglich diente er als umschlagplatz für lokale produkte aus dem oberland, insbesondere felle von tieren, aber auch eisenwaren, getreide und fleisch. erst in der zweiten hälfte wird bern an den fernhandel angeschlossen, bekommt die stadt ihr eigenes kaufhaus, mit dem auch einflussreiche familien entstehen, die als kaufleute geld machten.

die gründungsstadt kannte noch keine mauern. die aare bot schutz, und am ende der ersten stadt, beim heutigen zytglogge war ein tiefer graben. eigentliche stadtmauern kamen erst mit den savoyern auf, welche in den 1260er jahren mit den habsburgern im krieg standen. dafür baute man die burg an der aare ab mit deren steinen man die stadt sicherte.

ausgehend von carters typologie kann man sagen. bern ist im verbindungsnetz des zähringischen freiburg im breisgau als etappenort an strategisch wichtiger stelle entstanden. die stadt diente den stadtgründern in der mutterstadt freiburg im breisgau, 1118 entstanden, als einnahmequelle, beschaffte sich ihrerseits geld aus dem lokalen handeln. wie in vielen anderen mittelalterlichen städten überwiegt das herrschaftliche bei den motiven für die gründung 1191. die stadtentwicklung wurde durch wirtschaftlichen und militärische gründe, sicher nicht theologische bestimmt. hydraulische scheiden schon im voraus aus.

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lehrmeinungen zu ortsnamen – zum beispiel zu bern

seit über 100 jahren tobt ein deutungskampf, wofür der name “bern” stehe. diese woche wurde von der uni bern eine neu-alte lehrmeinung verbreitet, wonach bern mit verona verwandt sei und direkt auf die zähringischen stadtgründer zurück gehe. ich zweifle.

ankuendigungthomas franz schneider ist ortsnamenforscher an der uni bern. gemeinsam mit seinen kollegInnen gibt er das voluminöse ortsnamenbuch des kanton bern heraus. gestern ist der vierte band der umfassenden serie erschienen.

in der begleitmusik des bund diese woche begründete der basler germanist die neu-alte lehrmeinung, wonach bern eine übersetzung von verona sei und von den zähringern erfunden wurde.

die zähringer waren nach dem tod von kaiser heinrich iii. nicht wie erwartet herzöge von schwaben geworden, erhielten als entschädigung aber den herzogstitel von kärnten. das glück, das sie dabei in verona suchten, fanden sie nicht, und schon bald zogen sie sich aus dem südländischen abenteuer zurück. unter kaiser heinrich V. begannen sie dafür ihre expansion vom stammsitz bei freiburg im breisgau nach süden, während der sie im 12. jahrhundert mehrere städte der heutigen schweiz aufbauten oder neugründeten.

ferdinand vetter, professor für deutsche literatur, verbreitete 1880 erstmals die auffassung, bern sei ein einzigartiger name, der populären sage über den dietrich von bern entlehnt, die auf den ostgotenkönig theoderich zurückgehe, der in verona (eigentlich bern) seinen widersacher odoaker besiegt habe und den ort berühmt gemacht habe. dem widersprach vor gut 100 jahren paul hofer, berner historiker, weil er der germanischen begründung des ortsnamens misstraute. vielmehr leitete er den namen bern aus dem keltischen “berna” ab, meist mit kluft oder schlitz übersetzt. sein argument war weniger literarisch, dafür im geografisch verbreiteten vorkommen von der silbe “bern” ab. daraus schloss er, es handle sich um einen flurnamen, der eine enge stelle oder eine lanschaftskluft, die herrschaftlich interessant war.

der germani(sti)schen lehrmeinung der heutigen berner ortnamenforscher habe ich gestern nach der vernissage des neuen ortsnamenbuches für den kanton bern schon mal widersprochen. thomas franz schneider setzte sich gelehrt zu wehr, wohlwissend, dass die ortsnamenkunde keine exakte wissenschaft ist, in hohem masse bei deutungen stehen bleibt, für die es einige wenige belege gibt. die lassen sich bei weitem nicht immer in eine logik einreihen lassen, aus der eine klare these mit belegen entsteht. so sind lehrmeinungen für die toponomastik typisch geblieben, von denen sich in flall von bern mindestens zwei recht schroff gegenüber stehen.

aus der wenig befriedigenden situation für die wissenschaft, habe ich eine unüblichen schluss gezogen: es geht nicht darum, weitere belege für ortnamendeutungen aus alten chroniken, landkarten oder dem volksmund zu suchen, sondern wandern zu gehen. wenn es gelingt, ortsnamen in den ort einzubinden, hat man den wohl besten beweis für seine entstehung gefunden, denn orte wurden von unseren vorfahren immer wieder nach dem benannt, was sie selber hergaben. und das kann man heute noch nachvollziehen oder sich ausmalen, wenn man die entstehung der zivilisation in der landschaft studiert.

haben den literatisch gebildeten forscher schneider deshalb zu einer stadtwanderung an die aare eingeladen, die uns ins nydegg-viertel führen wird, wo wir den schlitz suchen und finden werden, durch den die aare seit tausenden vor jahren muss und der dem ort seinen sinn mit einem namen gab, bevor er durch die nachfolger der zähringer umgedeutet wurde.

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wettstein, die eidgenossenschaft und ihre souveränität

johann rudolf wettstein gilt als der mann, der 1648 die unabhängigkeit der eidgenossenschaft vom kaiserreich erwirkte. nun ist seine biografie aus dem jahre 1935 neu aufgelegt worden, die eine kleine kontroverse über die souveränität der schweiz in gegenwart und geschichte ausgelöst hat.

413-Z1kLQnL._SL500_AA300_1935 veröffentlichte mary lavater-sloman das buch „Der Schweizerkönig“. porträtiert wurde darin johann rudolf wettstein, der legendäre basler bürgermeister, der am friedenskongress zur beendigung des „Dreissigjährigen Krieges“ die unabhängigkeit der eidgenossenschaft verhandelt hat.

neuauflage der biografie

nun ist das buch von der deutsch-schweizerischen winterthurerin 2011 im römerhof-verlag in zürich in leicht redigierter form eben erst neu erschienen. ob ich es zur lektüre empfehlen würde oder nicht, weiss ich nicht wirklich. obwohl aufgrund von quellen verfasst, gleicht die erzählung mehr einem historischen roman als einem geschichtswerk. denn es werden auch geschichten erzählt, die literarischer natur sind, um durch gegensätze spannungen zu erzeugen, die einem beim lesen der biografie vorantreiben soll.
ich weiss aber, dass die buchpublikation vor wenigen wochen eine kleine kontroverse mit grundsätzlichen fragen ausgelöst hat. angefangen hat dies mit dem nachwort, verfasst vom unternehmer und emeritierten zürcher philosophieprofessor georg kohler, dem flugs eine buchbesprechung aus der feder des herrliberger unternehmers und alt-bundesrat christoph blocher in der bücherbeilage der „NZZ am Sonntag“ gefolgt ist.
worum geht es? letztlich nicht um die biografie von johann rudolf wettstein. denn sie ist zu vielschichtig, um in einer politischen debatte der gegenwart eine eindeutige zeugin für eine partei zu sein.
1594 geboren, vermählte sich der 17jährige johann mit anna marie falkner; der ehe entsprangen 9 kinder. der 22jährige setze sich nach einer ehekrise richtung süden ab, trat in venezianische dienste ein, bevor er landvogt und schliesslich bürgermeister basels wurde, ein amt, das er bis zu seinem tode 1666 innehatte. überhaupt, die wettsteins waren alles andere als alteingesessene basler. erst 1579 hatten die zürcher einwanderer das bürgerrecht erworben. auch johann rudolf war nicht in basel ausgebildet worden. seine sporen als kontorist verdiente er sich im waadtländischen yverdon ab. einmal erster bürger seiner stadt, vertrat er jedoch ganz ihre interessen. im bauernkrieg von 1653 vertrat er gegenüber den aufständischen im baselbiet die harte hand der gottgewollten ordnung, liess er doch die anführer des aufstandes, die sich als gute eidgenossen gegen die obrigkeit vestanden, kurzerhand enthaupten. als grosses vorbild für das einfache volk taugt er damit überhaupt nicht.
wettsteins staatpolitische leistungen besteht sicherlich darin, 1646 ohne einladung zum treffen der möchtigen den rhein hinunter nach münster gereist zu sein, und ohne mandat der tagsatzung die sache basels und der eidgenossenschaft mit grossem verhandlungsgeschick vertreten zu haben, sodass er ein jahr später mit einem brief des kaisers und einem vertrag der garantiemächte in seine heimat zurückkehren konnte.

die kontroverse
um das, was das alles bedeutete, geht es in der kontroverse über wettstein und die eidgenossenschaft. doch da hilft die biografie nicht weiter. wie unsere älteren geschichtsbücher interpretiert sie nämlich das vertragswerk des westfälischen friedens als moment des austritts aus dem kaiserreich. das mag für die niederlande richtig und für die weltgeschichte sogar wichtig sein. auf die schweiz trifft es kaum zu, selbst wenn wir alle in der schule gelernt haben, dass sich die schweiz 1499 de facto, 1648 de jure aus dem kaiserreich verabschiedet habe.
kronzeuge für die neuinterpretation ist der schweizerisch-finnische historiker thomas maissen, geschichtsprofessor in heidelberg. er spricht nicht mehr von austritt der eidgenossen aus dem reich deutscher nation, weil das den damaligen eidgenossen gar nicht in den sinn gekommen wäre. 1499 wie 1648 habe der kaiser die eidgenossen von berpflichtungen des reiches ausgenommen, ihnen ihr gewohnheitsrecht bestätigt, und sie privilegiert, indem sie vor neuen verpflichtungen befreit wurden. für basel sei dies wichtig gewesen, denn der status der reichsstadt, die erst 1501 zur eidgenossenschaft stiess, blieb bis zum westfälischen frieden ungeklärt; für die eidgenossenschaft habe es sich mehr um eine bestätigung von privilegien und autonomie gehandelt. auch von einem souveränen afuftritt einer geeinten schweizerischen nation kann man 1648 nicht sprechen, denn die innere feindschaft seit der reformation blieb nicht ein zweidritteljahrhundert über den westfälischen frieden hinaus für die eidgenossen konstitutiv, war auch darin zum ausdruck kam, dass wettstein für die minorität der reformierten am treffen der grossen weilte, nicht aber der katholiken.
die zeitgenossen bejubelten die unabhängigkeit 1648 nicht, wie man das aus gegenwärtigen staatsgründungen kennt. sie verstanden sie auch nicht als das, eher als exemption, als ausnahme von reichspflichten. aus dem reichsverband schied die eidgenossenschaft denn auch erst 1806, bei der auflösung des kaiserreiches, sodass der dtatus der werdenden schweiz 1815 auf dem wiener kongress mit der selbständigkeit, mit garantien für grenzen und mit der neutralisierung des landes mitten in europa verbindlich festgelegt wurde.
1648 wurde die schweiz also alles andere als souverän. das letzte argument dafür ist, dass das konzept hierfür entwickelte der französische staatstheoretiker jean bodin im 16. jahrhundert in das völkerrecht eingeführt hatte, es von den eidgenossen aber erst in der zweiten hälfte des 17. jahrhunderts, als es nützlich erschien, die unabhängigkeit vom reich zu begründen, die jedoch mit dem Preis einer abhängigkeit von frankreich erkauft wurde. denn souverän war in dieser zeit der absolutistische könig frankreich, wie er mit louis XIV. vertreten wurde, während das volk seine souveränität erst mit der französischen revolution erreichte, als der bisherige souverän auf dem pariser marsfeld geköpft wurde.

geschichtspolitikerkritik
so mutet es in vielem als zeitgenössische geschichtspolitik an, wenn vordenker der gegenwart dem neuaufgelegten buch von mary lavater-sloman einen ganz bestimmten sinn abzugewinnen versuchen. hilfreich sind nur die hinweise, dass bürgermeister wettstein in den etappen zur selbständigkeit der Schweiz eine wichtige vollbracht hat; ideologisch mutet es an, wenn ein milliardär in franken den armseligen basler als wahren republikaner preist. hilfreich ist auch, dass das erscheinen der biografie weder 1935 noch 2011 zufällig war. übertrieben wirkt es jedoch, die neuauflage des Buches zum reloading des guten schweizers zu verklären.
denn die eidgenossenschaft erstarkte nicht, weil es solche vorbilder zweifelsfrei gab, sondern weil sich die eidgenossen später entschieden, nicht nur ein verteidigungsbund gegen aussen mit kriegsrat im innern zu sein, sondern auch eine schicksalsgemeinschaft zu werden, die sich stets ihrer selbst vergewissert, ohne zu vergessen, nicht nur sich, sondern auch andern verbunden zu sein. erst diese kombination macht sie souverän.

stadtwanderer

der härteste wahlkampf

grossbritannien will nichts von einer wahlreform wissen. die konservativen haben dem majorz die stange gehalten. in der schweiz ist alles anders, seit der kanton tessin zum 1890/1 zum proporz gewechselt hat, um den politischen konflikt zu entschärfen. ein rückblick aus aktuellem anlass.

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arnold künzli, aargauer unternehmer, politiker, oberstkorpskommandant, und “vater” des proporzwahlrechts im kanton tessin

der tessiner putsch von 1890

bei den tessiner wahlen von 1890 krachte es gewaltig. die konservativen machten 51 prozent der stimmen, bekamen aber zwei drittel der sitze. unüblich war das damals nicht, denn man bestellte die parlamente, ganz gemäss angelsächsischem vorbild, nach dem majorzverfahren. doch die wahlen von 1890 befriedeten den konflikt zwischen konservativen und liberalen nicht. sie beförderten ihn förmlich.

angefangen hatte alles mit der klosteraufhebung durch den freisinn in den 1850er jahren. 1875 schlug das pendel zurück. die siegreichen konservativen bevölkerten die klöster wieder, räumten dafür bei der freisinnigen lehrer- und beamtenschaft auf. die angespannte lage eskalierte nach den grossratswahlen 1889. die konservativen siegten hauchdünn, mit 51,5 prozent, stellten aber mehr als zwei drittel der grossräte. als sich die konservative regierung weigerte, eine wahlrechtsreform durchzuführen, kam es zum eklat. der 11. september 1890 gilt das stichtag des tessiner putsches. die freisinnigen scharfmacher erschossen einen konservativen regierungsrat.

die eidgenossenschaft intervenierte im arg zerstrittenen kanton. 1400 mann eidgenössischen truppen wurden entsandt. an ihrer spitze stand oberst arnold künzli. der unternehmer und politiker aus dem aargauischen riken bei murgenthal konnte auf eine bemerkenswerte karriere zurückblicken: gemeindeammann war er gewesen, er hatte im aargauischen gross- und regierungsrat gewirkt, bevor er nationalrat wurde. 1879 präsidierte er diesen, um danach in verschiedenen mission im namen der eidgenossenschaft zu wirken.

künzlis engagement im tessin war zwischen autoritativer macht, politischem gespür und knallharten verhandlungen angesiedelt. als erstes musste er die revolution stoppen und die gewählten, aber gestürzten behörden wieder einsetzen. dafür galt es, eine zustimmung zur wahlrechtsreform durchzusetzen.

mit dem damals neuen proporzwahlrecht für behörden sollte die verfeindeten lager gezwungen werden, aus der position der minderheit miteinander zusammen zuarbeiten. machtteilung war das rezept der inneren befriedung. 1919 wurde es erstmals auch landesweit eingesetzt, um die sozialen spannungen zu mindern. das war das ende der bipolarität zwischen freisinn und katholisch-konservativen, denn es entstanden mit der sp und der bgb zwei neue flügelparteien, welche in die regierungen auf bundes- und kantonsebene drängten.

die oberst künzli gesellschaft
1994 gründeten einige murgenthaler unternehmer die oberst-künzli-gesellschaft. in der stattlichen villa des politikers aus dem 19. jahrhundert versammelt man sich regelmässig, um kulturelle, wirtschaftliche und politische anlässe zu feiern. referenten der letzten jahre waren franz blankart, benedikt weibel und peter spuhler. gestern war der stadtwanderer an der reihe!

zufall oder absicht? man hatte mich gebeten, über das wahljahr 2011 zu sprechen. ein bisschen aus dem nähkästchen des wahlforschers habe ich gesprochen. zuerst anhand des aktuellen wahlbarometers. dann als politikwissenschafter, der trends in gesellschaft, medien und politik analysiert. zum schluss wagte ich auch eine kleine einordnung der anstehenden wahl in den zeitgenössischen kontext.

die politische polarisierung der gegenwart

natürlich ging es um die aktuelle polarisierung. wird 2011 ein neuer rekord in der parteipolitischen polarisierung bringen, der der traditionellen mitte das genick bricht? oder kommt es zu einer mässigung durch neuen brückenbauer wie die glp oder bdp? genau weiss man das heute noch nicht, man kann aber das plus und minus der polarisierung bilanzieren. zu ersterem zähle ich die enttabuisierung verdrängter themen in der konkordanz, die klarere frontstellungen zwischen nationalkonservativer und linksliberalen grundhaltung, und die wieder anziehenden beteiligung der bürgerInnen an der nationalen politik. doch mag ich nicht verschweigen, dass das ganze auch nachteile hat. zum beispiel die ungleich stark gewordenen politischen kräfte, welche die zusammenarbeit erschweren. oder der hang zum fundamentalismus, der den pragmatismus untergräbt. und die focussierung auf personen, entweder hübsch aussehen und medial vergöttert werden, oder zielscheibe übler attacken durch politische gegner werden.

damit waren wir bei einem anliegen der oberst künzli gesellschaft. auf den ersten blick hätte man meinen können, das sei eine der typischen vereine von eidgenossen mit schnauz. daran sind auch zwei sachen richtig. die 40 mitglieder sind alles männer. und einige haben auch bemerkenswerte barthaare. doch dann entpuppte sich die gesellschaft als versammlung interessierter und aktiver staatsbürger, die viele fragen jenseits der parteipolitik stellten.

wie die kleine kontroverse beim anschliessenden nachtessen zwischen kernenergiebefürwortern und photovolatik-distributeuren zeigte, muss man überhaupt nicht immer ein meinung sein. auf tote im eigentlichen und übertragenen sinne sollte man aber generell verzeichten – ganz nach dem vorbild der starken persönlichkeit aus riken bei murgental, wie man wieder aufleben lässt.

ein erfreulicher abend. ganz im sinne des stadtwanderers, den es auf das land verschlagen hatte. und besten dank für die biografie von klaus plaar zu arnold künzli, die ich auf dem heimweg gleich ganz verschlang.

stadtwanderer

von grossen ideen, meisterhaften erzählungen und dem leben im kleinen raum der geschichten

es ist ein anspruchsvolles, aber spannendes buch. übertitelt ist es mit “Geschichtsphilosophie zur Einführung”. verfasst hat es johannes rohbeck aufgrund von vorlesungen, die er in dresden für technikerInnen gehalten hatte. seit einigen tagen lese ich mit gewinn darin – wenn mir zeit bleibt.

12912052nfür mitte 2011 ist ein weiteres buch des gleichen autors unter “Technik – Kultur – Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie” angekündigt.

bis zur aufklärung haben sich philospophen nicht systematisch mit geschichte beschäftigt, ist der ausgangspunkt des buches. das ist zwar eine mutige annahme, denn in den antiken kulturen dominierte die vorstellung des (immer)wiederkehrenden die gechichtlichkeit, während die christen mit ihrer heilsgeschichte das zeitliche als wirken gottes deuteten bis zum jüngsten tag deuteten. rohbecks entschied, das einleitend zu seinem buch zu erwähnen, dann aber wegzulassen, beschleunigt das lesen. es bleibt auch so voll von tücken, wenn auch im grossartigen überblick vortrefflich vereinfacht und meisterhaft dargestellt.

vom fortschritt in der geschichte
die wichtigste geschichtsphilosophische frage der aufklärung ist die nach dem fortschritt: techniker neigen seither zu einem ja, denn neue technologien setzen sich nur dann durch, wenn sie einen mehrwert haben. kulturhistorikerInnen sind da vorsichtiger. sie verweisen auf das werden und vergehen menschlicher zivilisationen, die immer wieder neue antworten suchen und damit vorübergenden erfolg haben, ohne dass sich ist, ob sich daraus ein fortschreiten der menschheit ergibt.

im ersten buchteil schliesst sich rohbeck der fortschrittsidee voll und ganz an. analysiert wird das entstehen der universalgeschichte im späten 18. und frühen 19. jahrhundert, auf der denker wie rousseau, kant, insbesondere aber auch hegel und marx ihre je eigenen fortschrittsgeschichten verfasst haben. voraussetzung hierfür war die säkularisierung, die kritik am dogmatischen christentum und seiner verfestigung in kirchen, was den raum für aufgeklärte weltbilder eröffnete. die menschheitsgeschichte beginnt seither nicht im judentum als erstem buchvolk, sondern in den frühen hochkulturen, wie der ägyptens. mit der zivilisationsgeschichte des 19. jahrhunderts verlagert sich der ort der ursprünglichen geschichte immer weiter ins ungewisse, während die zeit eine beschleunigung erfährt. weit zurückliegendes veränderte sich in der retrospektive kaum, während die zeitgeschichte durch rasanz bestimmt wird. begründet wird dies alles im fortschreitenden fortschritt. diesem naturwissenschaftlichen verständnis vor allem von entwicklung steht eine neue teleologie gegenüber, die sich im wirken der vernunft zeigt. diese ist seit den alten griechen dort am weitesten ausgebreitet, wo auch immer auf dem erdball die spitze des fortschritts angelangt ist.

von der wissenschaftlichkeit der geschichte
in der folge analysiert rohbeck zwei strömungen, die daran zweifelten: den historiums, der das konzept eine materiell sinnvollen geschichte zugunsten methodischer sicherung der geschichtswissenschaft aufgab, und die posthistorie, die ganz allgemein die möglichkeit von geschichte negiert. ersteres verortet er als typische strömung der zweiten hälfte des 19. jahrhunderts, zweiteres als phänomen des späten 19. und des ganzen 20. jahrhunderts. beide, ist rohbeck überzeugt, haben ihre berechtigung in der gegenwart, weshalb er auch nach aktuellen vertretern sucht und sie auch findet.

der historismus reflektierte die erfahrung des industriezeitalters, mit dem sich mehr als je zuvor alles änderte. ewige werte wurden diskreditiert, der wandel der menschlichen lebensbedingungen zum neuen massstab. geschichte sollte zur fundmentalsten aller wissenschaften werden, welche das geschichtlich gewordene im menschlichen dasein immer wieder neue darstelle. zentrale autoren wie droysen, dilthey und troeltsch werden hierfür vorrgestellt, weil sie der frage nachgingen, wie historische erkenntnis möglich wird. unzweifelhaft ist geschichte so zur geisteswissenschaft geworden, die nicht mehr spekulativ den fortschritt bestimmt, dafür die quellen sichtet, kritisiert und interpretiert, um zu gesichterten aussagen zu gelangen. die aktuelleste form des historismus ortet rohbeck in den darstellungen des menschlichen bewusstseins von hayden white, der ganz den liguistic turn in den geisteswissenschaft vorwegnehmend, geschichte als poetik neu bestimmt hat. ohne erzählung keine gesichte, und ohne helden keine erzählungen. was die helden in der geschichte geleistet haben, sei aber verschieden, bestimmte white, und gäbe es romanzen, komödien, tragödien und satire nicht nur literatur, auch in der geschichte.

vom ende der geschichte
radikalere noch kritisiert die posthistorie das moderne programm der geschichtsphilosophie. denn die verheissung der aufklärung – fortschritt, wohlstand, demokratie, emanzipation – hätten sich alle nicht erfüllt. begonnen hat alles mit burckhardt weltgeschichtlichen betrachtungen, gesteigert wurde es mit nietzsches abrechnung mit der kultur, und mit adorno erreichte die posthistorische kritik ihren höhepunkt, der angesichts der katastrophe der weltkriege radikal mit dem optimismus der aufklärer abrechnete.

posthistorie meint man natürlich nicht, dass es keine zukunft mehr geben würde. doch bleibt von dem, was man mit der säkularisierung der geschichte in sie hinein proijzierte, nichts übrig. da kommt keiner am geschichtsbild von jean-francois lyotard nherum. nach ihm hat sich der fortschritt nicht in licht, sondern neue dunkelheit gebracht. die menschen seien in der moderne nicht befreit worden, sondern gesellschaftet. ihr horizont habe sich nicht erweitert, vielmehr sei er verstümmelt worden. damit verbunden ist die kritik am ökonomismus, denn “der weltmarkt macht keine allgemeine geschichte im sinne der moderne”. wie viele der posthistoriker misstraut er überragenden erzählungen, aber auch ihren kritikerInnen, weil sie die entwicklung der menscheit nicht mehr beeinflussten – und empfiehlt, sich von den grossen dingen abzuwenden, und sich dem lokalen zuzuwenden, um die entstehung von geschichte im konkreten neu zu bestimmen.

von der faszination geschichte immer wieder neu zu erfinden

während meines studiums der geschichte habe ich mich immer wieder mit fragen der “theorie der geschichte” herumgeschlagen. einerseits stand die herausforderung der sozialwissenschaften an, die theorien für neuen formen der wirtschafts- und sozialgeschichte anboten. anderseits faszinierte die alltagsgeschichten der ethnologie und psychoanalyse, die verhiessen, dass es jenseits der geschriebenen quellen neues material zu entdecken gäbe. selbst wenn ich die theorie der geschichte zum thema meines abschlussexamenes bei walther hofer gemacht hatte, musste ich mir eingestehen: die geschichte als erzählung, als wissenschaft, als philosophie neu zu entdecken, ist mega schwer.

das ist mir beim lesen von rohbeck vorzüglicher einführung wieder in den sinn gekommen: denn so treffend seine übersichten in den drei teilschritten sind, so flach bleibt seine synthese zur zukunft der geschichtsphilosophie. das ist denn auch die einzige kritik, die ich hier äussere, verbunden mit dem gedanken: dass die grosse idee in der geschichte immer noch fasziniert, die kritik an der mangelnden wissenschaftlichkeit der geschichtsphilosophen begründet bleibt und der zweifel am sinn des unterfangen auch mich nagt, aber nicht soweit, dass ich nicht mit wiederkehrender lust erzähle, den kleinsten raum schätze, ohne die grosse geschichte aus den augen zu verlieren.

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2103 überholt der “osten” den “westen”

eigentlich ist es archäologe. in den letzten 10 jahre leitete er grosse unternehmen, die vergangenheit durch ausgrabungen sichtbar machten. das hat den vorteil, dass man sich nicht durch einzelne ereignisse oder personen blenden lässt, dafür muster der entwicklungen erkennt und so ein auge für langfristige veränderungen entwickelt.

wer_regiert_die_weltetwas reisserischer buchtitel: wer steht an der spitze der zivilisation, wäre eindeutig angemessener gewesen

mit genau diesem blick hat ian morris, britischer geschichtsprofessor an der top-universität im kalifornischen stanford, ein buch über die geschichte der menschheit seit der letzten eiszeit geschrieben. analysiert werden darin 16’000 jahre. nachgespürt wird informationen zu vier zentralen determinanten der gesellschaftlichen entwicklungen: der energieverbrauch, der verstädterung, den informationstechnologien und der fähigkeit zur kriegsführung. daraus ergibt sich für den historiker ein zeiträumlicher indexwert, der zu bestimmung des standes von kulturen dient.

unterschieden werden zwei geografische regionen, die auf dauer miteinander im wettstreit seien: der westen und der osten. das sind jedoch nur bezeichnungen für gesellschaftliche zentren, die über die zeit hinweg wandern. der westen begann in mesopotamien, dehnte sich auf ägypten und griechenland aus, und er erlebte mit dem römischen reich seinen ersten höhepunkt. die führung in der sozialen entwicklung ging danach aber an den osten, bis sich der westen durch die expansion über den atlantik neu aufstellte und ab mitte des 18. jahrhundert erneut zur weltspitze avancierte. zuerst lag das am british empire, dann an den vereinigten staaten von amerika.

morris sprach dieser tage in zürich, und der nzz von heute gewährte er ein ganzseitiges interview. das tönt das so: “Westeuropa war lange ein langweiliger Platz an der Peripherie. Doch vor 500 Jahren kam es zu einer Explosion des Wissens. Die Menschen lernten, grössere Schiffe zu bauen, die Ozeane zu überqueren, und kolonisierten Amerika. Damit veränderten sie den Ort, an dem sie leben. Es war plötzlich ein Vorteil, in Westeuropa zu sein. Die ehemalige Periperie wurde zum Zentrum”, liesst man da beispielsweise.

massgeblich für morris sind innovationen. entdecker interessieren ihn indessen nicht, denn kaum einer der grossen erfinder war der einzige und erste, der das menschliche wissen vorantrieb, das man ihm zuschreibt, kontert er die erzählungen über die grossen erfinder. vielmehr geht es dem historiker darum, wo sich auf begrenztem raum eine kritische masse der erneuerung ergibt. dabei verändert sich gegenwärtig selbst der begriff des ortes, analysiert er, denn heute schrumpft nicht nur der atlantik, es schrumpft der ganze globus.

historiker, die das neueste buch von morris: “Wer regiert die Welt?” lesen, mögen zuerst irritiert sein. denn er geht nicht geisteswissenschaftlich vor, wie man das kennt. vielmehr orientiert er sich an geografie, biologie und soziologie. die quantitative analyse der evolution beschäftigt ihn zuerst, dann werden grosse trends modelliert, evaluiert und festgelegt, um allgemeine schlüsse aufzuzeigen. erst dann beginnt die narration. doch auch sie ergibt sich nicht aus sicher selbst heraus, vielmehr steht die finalität der bisherigen entwicklungen schon imvoraus fest.

wir müssten aus der geschichte lernen, um die langfristigen entwicklungschancen einer gesellschaft richtig einstufen zu können, fordert der historiker. “In den letzten 15000 Jahren nahm der Index um 900 Punkte zu, für die nächsten 100 Jahre erwarte ich eine Zunahme von 4000 Punkten.”

ob das ein goldenes zeitalter ist, lässt er offen. denn ein anhänger des linearen fortschrittsdenkens, wie es im 19. jahrhundert verbreitung fand und die geschichtsphilosophie so nachhaltig prägte, ist ian morris nicht. mit dem kommenden entwicklungsschritt wächst seiner auffassung nach auch die wahrscheinlichkeit eines sozialen kollaps, was fast schon nach posthistorie tönt. auch wenn ihn das nicht gross kümmert, und er lieber schreibt: “Das Imperium Romanum brachte einen grossen Entwicklungsschub, schuf aber auch die Voraussetzung für seinen Untergang. Europa benötigte dann fast ein Jahrtausend, um diesen Rückschlag zu überwinden.” der nächste kollaps werde aber gravierender sei, den in der globalen welt von heute seien alle gesellschaften miteinander verhängt.

auch ohne das geht ian morris, wie zahlreich futurologen davon aus, dass das östliche zentrum heute besser aufgestellt ist als das westliche, fukushima zum trotz. mit einem raschen wechsel in der führung der gesellschaftlichen entwicklung rechnet der 50jährige wissenschafter jedoch nicht. “2103” nennt er symbolhaft als schaltjahr, bei dem “new york” von “tokio” überholt wird. den usa gibt er noch 30 jahre vormachtstellung, während denen die fragmentierung der herrschaft jedoch zunehmen und die zahl der konflikte wieder wachsen werde.

nicht schlecht, was da der archäologe aus seinen computeranalysen über vergangenheit, gegenwart und zukunft herausgräbt. grosse linien erkennt man auf jeden fall, materialreich sind seine schriften auch, und anregend bleiben seine spekulationen, was das alles für ferne zeiten heisst. die noch soweit vor uns liegen, dass wohl keiner meiner leserInnen sie je wird überprüfen können.

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der charme von käse, schokolade, uhren und bergen trügt(e)

im dritten und vierten teil seiner übersicht über die berner (wirtschafts)geschichte geht historiker und journalist stefan von bergen auf den aufstieg und niedergang der berner ökonomie – und der rolle von politik und unternehmern hierbei.

StaldenChocolaitsinnbild für die traditionsreiche, aber nicht zukunftsträchtige berner wirtschaft: die unvergessliche stalden-crème

als eigentlicher einschnitt mit dem selbstverständnis, schweizerische spitze zu sein, bezeichnet der autor den 1968 erstellten bericht der volkswirtschaftsprofessoren paul stocker und paul risch. ihre röntgenaufnahme, unter dem titel einkommenslage und wirtschaftsstruktur des kantons bern dem regierungsrat vorgelegt, ist alarmierend.

hauptbefund: der ertrag aus der wehrsteuer liegt unter dem schweizerischen schnitt – tendenz ungebremst sinkend. begründet wird dies im übermässigen agrarsektor, der die entstehung von industrie und dienstleistungen behindere. uhren- und schoggifabriken prägen die wirtschaft; sie bauen auf vielen kleinbetrieben mit wenig rationalisierung und tiefen löhnen, die weder günstig für den konsum sind, noch im internationalen wettbewerb bestehen können.

dabei hatte alles gar nicht so schlecht begonnen. von bergen nennt die zeit zwischen 1890 und 1920 die berner belle epoque. gebaut werden alpenbahnen, die den weltweiten vergleich nicht scheuen müssen, es kommt mit der bkw ein stromnetz auf, das in europa führend ist, und eisenbahnen wie elektrizität befördern den tourismus aus dem ausland, namentlich im berner oberland. zwischen 1920 und 1980 gerät bern nach von bergen jedoch in eine abwärtsspirale.

symptomatisch dafür ist die entwicklung der milchverarbeitung. die berühmte stalden-creme, der stolz der berner nahrungsmittelherstellung, wird durch den kühlschrank in den 50er jahren ausrangiert. kondensmilch wird überflüssig, denn die milch wird haltbar. die nachfahren der firmengründer sind keine wirklichen pioniere mehr. und so kommt es zur übernahmewelle. nestlé hatte das angebot diversifiziert und sich internationalisiert. der multi lief den berner firmen im milchgeschäft den rang ab. in den 70er jahren traf es auch toblerone und ovomaltine. die auslandnachfrage entwickelte sich – jedoch an den klassikern aus bern vorbei! 1967 wurdr die wander von der basler sandoz übernommen, später an associated british foods veräussert, die produktion konzentrierte man in neuenegg. 1970 fusionierten suchard mit tobler, die 1991 in der philipp-morris-gruppe aufging, und heute in bern-brünnen arbeitet.

von bergen hat zwei thesen: die eine betrifft die altlasten mit der übernahme des jura. die anderen den politischen wandel. letztere gefällt mir besser, denn mit den wahlen 1919 wurde die freisinnige vorherrschaft gebrochen, die wirtschaftlich auf industrialisierung und freihandel gesetzt hatte. auf anhieb eroberte die neue bgb, die bauern-, gewerbe- und bürgerpartei von ruedi minger, die hälfte der nationalratssitze, und auch im grossen rat war sie schnell vergleichbar stark,. zuerst regierte sie alleine, dann sicherte sie mit hilfe der freisinnigen die konservative politik ab. auf dem land bleibt sie unangefochten die politische macht. ihre lokalfürsten schauten, dass die subventionen in alle ecken und ränder des kantons verteilt wurden, und man dafür lückenlos die stimmen einsammeln konnte.

den befund der wirtschaftskollegen von 1968 spitze der berner wirtschaftshistoriker christian pfister nachträglich noch zu: “Ab 1920 fällt die Berner Wirtschaft unter der BGB-Aegide in den alten Trott zurück und begnügt sich fortan mit dem gemütlichern Charme von Käse, Bergen, Uhren und Schokolade.”meinerseits füge ich bei, die ursache liege vermutlich tiefer als im fehlverhalten der staatspartei: denn das schicksal der modernisierung berns liegt im verhältnis von stadt und land, das seit der bürgerlichen Revolution der 1830er jahren ungeklärt bliebt. sein selbstverständnis entwickelte der kanton stets in abgrenzung zur hauptstadt, und er verstärkte die problematik zwischen ruralem und urbanem kanton mit der konservativen wende um 1920 nochmals, sodass der einstmals führende stand der eidgenossenschaft man von den internationalen entwicklungen überrumpelt im nationalen mittelfeld und globalen abseits landete.

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mein kommentar zu teil 2
mein kommentar zu teil 1
die serie im original

st. galler frauen

diese woche bin ich in st. gallen. zwei frauen beschäftigen mich.

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meine lehrveranstaltung an der hsg halte ich diesmal als blockseminar ab. es ist den ständeratswahlen gewidmet. prominenter gast am mittwoch ist regierungsrätin karin keller-sutter, eine der vier kandidatInnen für die wahl im kanton st. gallen. mehr dazu auf meinem berufsblog.

natürlich interessiert mich in st. gallen eine andere frau ebenso. wiborada wird sie geheissen. ob das ein wirklicher name ist, bin ich mir nicht ganz sicher. denn unzweifelbar steckt “weiberrat” in diesem althochdeutschen wort. das kann eine person gewesen sein, aber auch eine eingebung.

gemeint ist die legendäre figur, die beim einfall der ungarische reiter 926 das kloster auf unkonventionelle art verteidigte. es soll ihr gelungen sein, wertvolle schriften vor der verbrennung zu schützen. deshalb ist sie bis heute die schutzpatronin der bibliotheken und bücherfreunde. das macht sie mir sympathisch.

wiborada soll die letzten 10 jahre als inklusin gelebt haben. gemeint ist damit, dass sie in einem enge gemäuer, das sie nicht verlassen konnte, hauste. in ihrer zeit war das keine seltenheit, vor allem bei frauen. denn es schützte vor überfällen, war es doch kaum einzunehmen. 1047 wurde sie, als erste frau überhaupt, von der katholischen kirche heilig gesprochen. bis heute ist der 2. mai im bistum st. gallen ein lokaler feiertag, an dem man ihr gedenkt.

und so werde ich, wie in früheren zeiten viele vor mir, am donnerstag zwischen rosenberg und kirche st. mangen pilgern, dem ort, wo die strenge asketin von damals gelebt haben soll.

jetzt muss ich aber schlafen gehen, denn morgen werde ich dem rat der regierungsrätin horchen, die in die kleine kammer nach bern will, um den überfall der svp-auf den ständerat wenigstens in st. gallen zu verhindern …

mehr zu alledem im verlaufe der woche.

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berns zug der modernisierung

das passt gut zu meiner aarberger-geschichte von gestern. in seinem zweiten teil zur bernischen geschichte, sucht der preisgekrönte berner historiker und journalist stephan von bergen nach gründen, warum bern mit der industrialisierung den wirtschaftlichen anschluss an zentren wie zürich, basel und genf verpasst.

ch1857
scb – damals noch für schweizer centralbahn stehend – als promotor des frühen eisenbahnbahns von olten nach bern und bieln

“Die Bahn zeichnet die Landkarte der Lebens- und Arbeitsräume neu. Die alte Topogragfie, in der sich Verkehrswege und Siedlungen auf sicheren Anhöhen befanden, wird umgedreht. Die Bahnlinien verlaufen in den Tälern und werten einst unansehnliche Gewerborte auf. Ob ein Dort an eine Bahnlinie zu liegen kommt, entscheidet über dessen wirtschaftliche Zukunft.”

das ist die these, auf der der essay von bergens aufbaut.

in den kanton bern dringt die eisenbahn 1857 vor. die centralbahn baut von olten aus die linie nach herzogenbuchsee und bern. zwei jahre später wird die verbindung nach thun eröffnet, nochmals drei jahre später die nach fribourg-lausanne.

der bau der verbindung von biel über bern nach langnau bringt die wende. das private unternehmen geht bankrott, der kanton muss einspringen. “In Zürich sind finanzstarke Privatunternehmer wie Eisenbahnbaron und Nationalrat Alfred Escher und ein wachsender Bankensektor treibende Kräfte, in Bern Juristen wie Eschers Gegenspieler Jakob Stämpfli”, vergleicht von Bergen die unterschiedlichen Entwicklungen.

die bahn, so seine feststellung, legt mankos des kantons bern offen: seine konzentration auf die agrarwirtschaft, sein schwach ausgeprägtes unternehmertum und sein verharren in kleinen räumen.

christian pfister, emeritierter professor für geschichte an der universität bern, sagt es noch deutlicher: “Die Bahn hat in den ersten drei Jahrzehnten im Kanton Bern nur auf Modernisierungsinselns wie Bern, Biel, Thun, Burgdorf oder Langental industrielle Impulse ausgelöst.”

warum, weiss die geschichtsforschung bis heute nicht wirklich!

schade, sage ich dazu. denn das ist die entscheidende frage. im geschichtsunterricht lehrt man ja immer noch, dass die aarekorrektion in der 2. hälfte des 19. jahrhunderts die wirtschaftsentwicklung geändert, die grundlage für die elektrifizierung gelegt und damit der meilenstein in der wirtschaftsgeschichte war, der 1914 – zurecht – zur in die landesausstellung in bern als höhepunkt der nationalen entwicklung vor den weltkriegen geführt hat.

solange die optimistische und pessimistische sicht der dinge wissenschaftlich nicht geklärt ist, dominieren bilder wie die von rené fritz allemann in seinem buch “25 mal die Schweiz”: während bern in sich ruhe, denke zürich über seinen kreis hinaus, heisst es da. die aarestadt sei “eine art oktopus, der die lebendige kraft der nation aussaugt”. das mag von bergen nicht stehen lassen und kontert: während bern bis heute die berühmte milliarde aus dem finanzausgleich beziehe, bekomme zürich via eth jährlich ebenso viel geld aus der bundeskasse!

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aarberg – das stedtli auf der aareinsel

heute beginnt die stadtwanderersaison 2011 – mit einem rundgang im seeland und einer ausführung von mir zur stadtgeschichte.

aarberg
ansicht auf aarberg im 19. jahrhundert – noch vor der aarekorrektion

im statistischen sinne ist arberg keine stadt. die leute nennen es auch stedtli. 4000 einwohner hat es heute. viele bekannte sind weggezogen, wie ernst wüthrich, der nobelpreisträger, kuno lauener, der frontmann von züriwest, tanja gutmann, die ex-miss-schweiz, oder cécile bähler, eine unserer tv-wetterfeen.

historisch gesehen ist aarberg sehr wohl eine stadt. ursprünglich burgundisch, kam sie zu bern, erlebte nach der reformation ihre blütezeit als marktort, stagniert aber seit dem eisenbahnzeitalter. als regionales verwaltungszentrum sucht es heute neue wege.

die burgundische stadtgründung
am anfang der aarberger stadtgeschichte steht ulrich, graf von neuenburg. seine vorfahren waren burgundische adelige gewesen. bekannt waren sie als herren von fenis, dem heutigen vinelz am bielersee. nach einem schweren erdbeben, das die hasenburg, den stammsitz der familie, verwüstete, verteilten sie sich auf das dreiseengebiet mit zentrum in neuenburg. ulrichs vater, rudolf, beherrschte mehrere sprachen und wirkte als kulturvermittler zwischen burgundern und schwaben. er war minnesänger im gefolge des kaisers.

zu beginn des 13. jahrhunderts übernahm ulrich die nördlichen ländereien der familie. büren an der aare und valangin im val de ruz waren seine ersten herrschaftszentreum. ulrich gründete auch zwei städte: nidau und aarberg. mit dem bau von aarberg begann er, nachdem die zähringer ausgestorben waren. als ulrich 1225 verstarb, hinterliess er nachkommen und in aarberg eine kleine siedlung mit stadtmauer, zwei eng aufeinander ausgerichteten häuserzeilen und einem gassenmarkt.

die aare hatte zu dieser zeit noch den alten verlauf. sie mündete verlief durch die ebene zwischen frienisberg und dem bergrücken am bielersee. sie war ein wilder fluss, in vielem auch eine grenze. wenige inseln erleichterten den übergang, und auf einer solchen stand alt-aarberg. die frühen quellen nennen den namen in verwandter form, arberc, während die siedlung „opidum“ hiess. das deutet auf eine vorform der mittelalterlichen stadt, mit befestigungen und wasserschutz.

am 1. mai 1271 bestätigte rudolf von aarberg, ein enkel des stadtgründers, aarberg das stadtrecht erstmals schriftlich. der stadt und ihren burgern wurden wald, wiesen und gewässer der umgebung geschenkt. zur herrschaft zählten die dörfer lyss, busswil, bargen und kappelen. man war wer an der aare im seeland!

aarberg wird bernisch
die zeit der stadtgründung war unsicher. das königreich burgund kam 1034 ins kaiserreich integriert worden. das bestand damals aus italien, wo der papst das sagen hatte, und dem kaiser, der nördlich der alpen regierte.

einen wirklichen kaiser gab es seit dem tod von friedrich II. 1250 nicht mehr. dafür erstarkten adelige: in unserem gebiet nebst den neuenburgern die kyburger mit stammsitz bei winterthur. nach deren aussterben 1264 setzten sich die habsburger durch. 1273 wurden sie deutsche könige und kaiseranwärter, die sich daran machten, die verselbständigten burgundischen barone, wie man den burgundischen adel verächtlich nannten, zu unterwerfen. das gelang könig rudolf von habsburg noch kurz vor seinem tod 1291 teilweise.

wirtschaftlich gehören das 12. und 13. jahrhundert jedoch zu den guten. das klima erwärmte sich, die bevölkerung wuchs. das erlaubte es, neue siedlungen zu gründen: aus der regionen erwähnt seien das kloster frienisberg, 1133 entstanden, und aarberg.

ebenfalls aufstrebend war die aarestadt bern, 1191 gegründet. 1293 befreite könig rudolf von nassau, kein habsburger, die stadt vor adeligen übergriffen. er gab ihr eine eigene verfassung und verlieht ihr königliche aufgaben im aaretal. seit 1324 hatte die stadt bern mit laupen ein eigenes untertanengebiet. in den 1330er jahren eskalierte der zwist mit den burgundern. aarberg stellte sich auf ihre seite. 1339 kam es zur entscheidung. bern belagerte aarberg vergebens, gewann aber in laupen.

stadtherr war damals peter von aarberg – ein veritabler raubritter. ihn besiegte schliesslich die pest, die über die rhone nach norden kam und das mittelland 1348 erfasste. man verarmte. das kloster frienisberg verkaufte seine herberge in aarberg, woraus das restaurant krone als gasthof entstand. stadtherr peter wiederum geriet 1351 in finanzielle schwierigkeiten. er verpfändete die stadt an bern, dann verkaufte man sie nach nidau. 1375, nach dem aussterben der neuenburger in nidau, zahlte bern die neukyburgischen erben aus, und nahm so das ursprünglich burgundische städtchen in besitz. kaiser karl iv., der letzte könig von burgund, bestätigte den seitenwechsel. peters sohn, ebenfalls peter genannt, der nichts mehr zu erben hatte, schloss sich den habsburgern an. er war in der schlacht von sempach bannerträger – gegen die eidgenossen. mit herzog leopold verstarb er auf dem schlachtfeld.

1414 regelt könig sigismund von ungarn, kein freund der habsburger und kyburger, auf seinem weg zur kaiserkrönung mit grossen federstrichen neu. den savoyern im süden wies er die alpenpässe zu, den bernern das aaretal. die herrschaft aarberg, erweitert durch affoltern, kallnach, niederried und radelfingen, vermachte er definitiv der stadt, wenn auch als königliches lehen. insbesondere übertrug er den bernern die hoheitlichen zollrechte und damit die verfügung über die einfachen brücken aarbergs.

gleich zweimal brannte die holzstadt aarberg in der folge nieder – 1419 ein erstes, 1477 ein zweites mal. denn man war in die zwistigkeiten zwischen der stadt bern und den burgundischen herzögen in dijon geraten. wie man weiss, gewannen bern und die eidgenossen diese auseinandersetzung auf den schlachtfeldern. in grandson und murten.

die blütezeit des marktortes
der zweite brand blieb nicht ohne weitreichende folgen. aarberg wurde neu gebaut: nun versetzte man die häuserzeilen um je 10 meter nach hinten, sodass in der mitte ein grosser platz entstand. aarberg wandelte sich zum bernischen landstädtchen, wie man es heute noch kennt. zudem wurde der markt aufgewertet, denn aarberg wurde nun zum zentralen handelsplatz im seeland für salz-, eisen- und tuchwaren aus dem burgundischen.

es war eine zeit des aufstiegs, wie man bis heute am ortsbild erkennen kann. 1496 wird erstmals ein rathaus gebaut, das den burgerrat unter dem bernischen landvogt beherbergte. 1526 schloss man das mittelalterliche bargenspitel vor der stadt; dafür baute man den jetzigen kirchturm, das spital und die erste schule. mitten drin trat man zur reformation über, wagte sogar einen aufstand. 1529 hatte aarberg für einen jahr einen schultheissen. bern wusste das in der folge zu unterbinden, und entsandte wieder landvögte. die mehrten das stadtbild durch eine neue brücke und eine neue kirche. zum abschluss der stedtlierneuerung eröffnete man 1610 den neuen sitz des landvogts, das heutige amtshaus.

bis zum ende des 18. jahrhunderts kannte aarberg seine blütezeit. die grossen umwälzungen begannen erst 1798 mit dem überfall der revolutionären französischen truppen, deren besatzung das stedtli in mitleidenschaft zog. 1815, nach der konservativen neuordnung europas durch den wiener kongress, rüstete man in Aarberg auf. rund um die stadt wurden schanzen gebaut. 1830 legt man noch einen zacken zu, unterstützt von konservativen kräften in der schweizerischen armee.

doch sprang der revolutionäre funke aus frankreich auch auf die berner landschaft über. mit den privilegien der patrizier in bern wurde jetzt aufgeräumt. die liberalen wie sie sich nannten, wollten freiheit und gleichheit für alle. um die alte macht zu brechen, gründete man nun überall politische gemeinden, welche die verwaltung in die eigenen hände legte.

die herausforderungen der gegenwart
seit 1801 war aarberg hauptort eines amtsbezirkes. 1832 wurde man auch bernische gemeinde; 1834 kam eine skundarschule hinzu, und 1843 die ersparniskasse. aus untertanen wurden bürger, mit bildung, befähigt zum geschäften und politisieren in den wirtschaften.

das 19. jahrhundert sollte in vielem die wende aarbergs bringen: zum guten und zum schlechten. zuerst baut die junge eidgenossenschaft den hagneck-kanal. mit ihm wurde die aare gebändigt. aarberg ist seither keine insel mehr, und es kann auf die wasserwehr verzichten. fast gleichzeitig wurde die erste eisenbahnlinie im seeland eröffnet. von bern nach biel/bienne. doch machte die nicht in aarberg halt, sondern im bauerndorf lyss, das sich schrittweise zu konkurrenzstadt entwickelte. die verlagerung des waren- und personenverkehr vom wasser auf die schiene verkraftete aarberg nie ganz.

verbesserungen suchte man zur wende vom 19. zum 20. jahrhundert in der industrialisierung der landwirtschaft; die zuckerfabrik steht hierfür. erweitert hat man auch die arbeitsmöglichkeiten, von der traditionellen ziegelei zur modernen betonfabrikation. in aarberg wächst die bevölkerungszahl, und seit neustem besinnt man sich einer langen tradition in aarberg: der führung der verwaltung für den verwaltungskreis seeland.

zwei politische höhepunkte hatte aarberg in jüngster zeit. 2008 feierte die feuerwehr jubiläum, und bundesrat samuel schmid, damals schon bdp bundesrat, höchstpersönlich lobte die tatkraft der liberalen bürger in aarberg, für ihre sicherheit selber zu sorgen. 2010 kam dann auch sein gegenspieler, alt-christoph blocher nach aarberg, um mit einer viel gehörten rede über berühmte seeländer, den wahlkampf der konservativen svp für regierung und parlament zu eröffnen.

selber habe ich meinen weg nach aarberg aus anderen gründen gefunden. 2006 feierte man mit grössen wie moritz leuenberger und benedikt weibel “100 jahre postauto” in aarberg. 1906 eröffnete man nämlich von bern via detligen nach aarberg die erste schweizerische autolinie des gelben riesen. bis heute ist sie eine meistbefahrenen. und auch ich gehörte zu den regelmässigen fahrgästen.

und wir steigen nun in eben dieses postauto, um unserer jubilarin, regula baumgartner, zu ihrem 50. geburtstag alle ehre zu erweisen: irgendwo in bernwest werden wir wieder aussteigen, wenn die wetterfee es erlaubt. machen sie dann einen schönen eindruck, damit die chemie beim feiern stimmt!

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