Zunfthaus M – Rassismus im öffentlichen Raum Berns

2014 entsteht um eine Berner Zunft eine hitzige Diskussion. Ihr Wappen, das im 19. Jahrhundert neu gestylt wurde, weist aus heutiger Erkenntnis rassistische Züge auf. Wie soll mit derartigen Darstellungen heute umgegangen werden?

Schon im 14. Jahrhundert gibt es die Zunft zum Mohren, die Gesellschaft der Schneider und Tuchscherer. Das Wappen und der Namen jedoch geben nichts über diese Berufe preis. Es zeigt auf der Gebäudeseite in der Rathausgasse das Gesicht eines Schwarzen Menschen. Auf der Vorderseite an der Kramgasse steht eine eher kriegerische Figur eines Mannes mit Speer.
«Der Mohr im Zunftwappen bezieht sich möglicherweise auf den Heiligen Mauritius, den katholischen Anführer der Thebäischen Legion aus Nordafrika», erklärt die Webseite der Zunft. Wegen seiner Herkunft aus Nordafrika werde er seit dem 12. Jahrhundert häufig als Schwarzer Mann dargestellt – doch die Heiligenlegende erzählt eigentlich, dass Mauritius aus Nubien (Oberägypten) stammt und nicht aus Nordafrika. Das Wort Mohr komme vom lateinischen «Mauritius» oder «maurus», welches schwarz, dunkel oder afrikanisch bedeute, erklärt die Zunft. Der Heilige Mauritius gelte als Schutzpatron der Handwerker, die mit Farbe umgehen – so käme er zu den Färbern und Tuchhandwerkern der Zunft.
Eine andere Erklärung meint, als Vorlage komme einer der Heiligen Drei Könige in Frage. Sie gelten als Schirmherren der Reisenden und möglicherweise sei das Haus der Zunft ursprünglich ein Gasthaus mit entsprechendem Namen gewesen.

Die Veränderung des Wappens
Das Wappenzeichen an der Rathausgasse-Fassade bildet nicht bereits seit den mittelalterlichen Anfängen das Logo der Zunft. Dieses verändert sich im Verlaufe der Jahrhunderte visuell. Die Stubenfahne der Zunft zeigt im 16. Jahrhundert einen stolzen Schwarzen Mann mit Krone, Bogen und Pfeil.


Stolzer Schwarzer königlicher Mann im 16. Jahrhundert – Stubenfahne der Zunft zum Mohren: König mit Krone, Bogen, Köcher, Pfeil und Lendentuch. Bernisches Historisches Museum, Depositum (Inv. 8778.1)

Eine gewisse Ähnlichkeit damit hat die Figur, die auf der Kramgasse-Seite des Zunfthauses steht. Sie stamm aus dem 17. Jahrhundert und zeigt ebenfalls eine eher kriegerische Figur mit Lanze und Schild, die eine Art Turban trägt. Diese Statue erinnert an die erste Darstellung auf der historischen Stubenfahne. Vor der ersten Demonstration der Bewegung Black Lives Matter im Juni 2020 in Bern wurde sie wohl aus Sicherheitsgründen in einen Bretterverschlag eingepackt und ist zurzeit nicht mehr sichtbar.
Der Berner Historiker Daniel V. Moser-Léchot weist in einem Beitrag für die Berner Zeitschrift für Geschichte auf die Popularität der Geschichte der Drei Könige in Bern hin. Diese wird im Berner Münster ausführlich im Dreikönigsfenster und im Wurzel­-Jesse-­Fenster erzählt. Die Glasfenster entstehen um 1450 – zu diesem Zeitpunkt hat sich die Darstellung des dritten und jüngsten Königs als Afrikaner nördlich der Alpen durchgesetzt. Im 15. Jahrhundert wird dem Münster auch ein Dreikönigsaltar gespendet. Etliche weitere Darstellungen in Bern deuten ebenfalls darauf hin, dass die Zunft am ehesten von dieser Geschichte zu ihrem Namen inspiriert worden ist.


Steinstatue aus dem 17. Jahrhundert am Gesellschaftshaus der Zunft zum Mohren auf Seite Kramgasse. Im Sommer 2020 wurde sie in eine Holzkiste eingepackt, wohl aus Angst vor einer Zerstörung.

Die aus heutiger Sicht problematischste Darstellung findet sich am Zunfthaus auf der Seite der Rathausgasse vis-à-vis der christkatholischen Kirche St. Peter und Paul. Dieses Wappen wird wohl erst Ende des 19. Jahrhunderts gestaltet. Das Gesicht ist mit den klischierten rassistischen Merkmalen für Schwarze Menschen gestaltet: Ohrringe, Stirnband und Federschmuck. Alles Merkmale, die zur damaligen Zeit als feminin und schwach gelten. Dazu rassistisch stereotypisiert: eine wulstige Nase, grosse rote Lippen und eine fliehende Stirn.
Die Zeit der Gestaltung dieses Wappens im 19. Jahrhundert ist die Blütezeit des so genannten wissenschaftlichen Rassismus. Schwarze Menschen werden an Völkerschauen und in Zoos ausgestellt, in Bern werden sie im Bierhübeli oder auf dem Waisenhausplatz vorgeführt. Nichtweisse Menschen werden anhand von willkürlich definierten Merkmalen erforscht und kategorisiert. Mit Wissenschaft hat dies nichts zu tun, sondern vielmehr mit der Rechtfertigung der europäischen Expansion und Ausbeutung nichtweisser Menschen. Durch die Form und Grösse der Schädel soll etwa belegt werden, dass Schwarze Menschen weniger intelligent und «unterentwickelt« seien. Dafür werden auch Messwerte gefälscht und manipuliert, was bereits 1885 der Schwarze haitianische Anthropologe Joseph-Anténor Firmin in seinem revolutionären Werk «De l’égalité des races humaines» nachweist und damit die Thesen der Kraniometrie widerlegt.


Wappenartige Darstellung der Zunft am Gesellschaftshaus Seite Rathausgasse. Die wohl um 1900 entstandene Abbildung zeigt die klassischen rassistischen Stereotype der damaligen Zeit, als mit dem so genannten wissenschaftlichen Rassismus versucht wurde, die Überlegenheit der weissen «Rasse» zu beweisen.

Nur noch von M-Zunft sprechen?
Tragischerweise wirkt diese Pseudowissenschaft Jahrzehnte lang weiter. Der Schweizer Gletscherforscher Louis Agassiz knüpft als Verfechter des Polygenismus daran an. Diese rassistische Theorie unterteilt die Menschen hierarchisch und in unterschiedliche Spezies. Später greift das Nazi-Regime die unmenschlichen Rassentheorien auf und nutzt sie für die Begründung der Shoa und des umfassenden Völkermords.
Nicht nur die Abbildung, sondern auch der Begriff «Mohr» hat eine rassistische und verletzende Bedeutung. Denn das Wort war nie nur eine Herkunftsbezeichnung für so genannte Mauren, also Menschen aus Mauretanien respektive Nordafrika. Das Wort beinhaltet als älteste deutsche Bezeichnung für Schwarze Menschen von Anfang an eine negative Wertung. Es stammt vom griechischen »moros« ab, das töricht, einfältig, dumm, aber auch gottlos bedeutet. Darin steckt zudem das lateinische »maurus«, welches für schwarz, dunkel bzw. afrikanisch steht. Daraus wird althochdeutsch »mor« und schliesslich der heute noch gebrauchte Begriff abgeleitet.
Bekannt ist allerdings auch eine einzelne eher positive Verwendung des Begriffs bei den Mohren-Apotheken in Deutschland – hier scheint das Wort eine Hommage zu sein an die einst weltweit führende Medizin im Morgenland, dem Land der Mauren.
Doch viele Schwarze Menschen erleben den Begriff im Alltag als diskriminierendes Stereotyp. Um die Reproduktion des als rassistisch eingeschätzten Namens und Logos zu vermeiden, verwenden Aktivist*innen den Begriff nicht mehr. Abgekürzt sprechen sie nur noch von der M-Zunft. Durch solchen Widerstand kommen immer mehr Produkte und Geschäfte mit entsprechenden Namen und Bezeichnungen unter Druck und werden umbenannt.

Die erniedrigende Historie des Blackfacing
Erniedrigende Darstellungen von Schwarzen Menschen stehen in enger Verbindung mit der in den 1830er-Jahren entstandenen rassistischen Unterhaltung des Publikums durch Blackfacing in den USA. Dabei «spielte» während den sogenannten Minstrel Shows ein weisser Schauspieler mit schwarz bemaltem Gesicht stereotype Figuren von versklavten Schwarzen Männern. Diese Performances dienten der Belustigung eines weissen Publikums und verharmlosten die Brutalität der Sklaverei.
Heutzutage findet Blackfacing immer noch statt. Wird es aufgedeckt, löst es meist hitzige Diskussionen aus, zum Beispiel wenn es um die Helfer des St. Nikolaus in der Weihnachtszeit geht: Der «Schmutzli» in der Schweiz oder der «Zwarte Piet» (Schwarzer Peter) in den Niederlanden treten in der Tradition des Blackfacing mit schwarz bemaltem Gesicht auf. Sie sind seit Generationen Teil einer hiesigen Identität, deshalb lösen kritische Fragen dazu grosse Emotionen aus. Aber die rassistische Herkunft und die verletzende Realität dieser Praxis werden kaum thematisiert und scheinen die weisse Gesellschaft nicht zu stören. Aufrufe von Schwarzen Menschen dies zu unterlassen, werden oft belächelt, als an den Haaren herangezogene Überempfindlichkeit bezeichnet.
Die Problematik setzt sich auf verschiedene Art und Weise fort. Eine davon ist das Blackfishing. Es handelt sich um den Vorgang, dass sich weisse Personen, sichtbare Eigenschaften von Schwarzen Menschen aneignen, zum Beispiel ein paar Hauttöne dunkler schminken oder das Tragen typisch afrikanischer Frisuren. Dies um interessanter oder «exotischer» zu wirken. Eines der Probleme dabei: Schwarze Menschen werden aufgrund eben dieser Eigenschaften seit Jahrhunderten unterdrückt, ermordet und diskriminiert. Sie haben nicht die Möglichkeit ihren rassifizierten Körper und die damit einhergehenden Diskriminierungen, Traumas etc. abzustreifen. Die weisse Person hingegen kann sich zum einen diese Eigenschaften aneignen ohne Diskriminierung zu erleben. Gewisse Frisuren werden gar erst, nachdem sie eine weisse Person getragen hat, gesellschaftlich akzeptiert und wertgeschätzt. Zum anderen hat diese die Wahl und kann solche Eigenschaften nach Belieben abstreifen, sich abschminken oder einfach die Frisur ändern.

Welcher Umgang mit historischem Rassismus?
2014 reichen die beiden SP-Stadträte Halua Pinto de Magalhães und Fuat Köcer im Parlament der Bundesstadt einen Vorstoss ein. Sie fordern eine Strategie im Umgang mit rassistischen Darstellungen im öffentlichen Raum. Als Beispiel kritisieren sie darin die «rassistische Symbolik» des Wappens der Schneider- und Tuchscherer-Zunft. Im Postulat fordern sie die Stadt auf, Lösungen für solche Fälle zu finden, allenfalls gar die Entfernung entsprechender Darstellungen zu prüfen. Damit eröffnen sie eine spannende und notwendige Debatte. Die Stadt Bern übernimmt es schliesslich, eine Art «Inventarisierung des Rassistischen» zu erstellen. Der vorliegende Online-Stadtplan www.bern-kolonial.ch ist ein Beitrag in diese Richtung.
Die betroffene Zunft setzt sich ebenfalls mit dem Inhalt des Vorstosses auseinander. In der Zwischenzeit bringt sie eine Plakette am Gebäude der Rathausgasse 9 an. Darauf erläutert sie aus eigener Sicht den historischen Hintergrund der abgebildeten Figur: Weder die Zunft noch das Wappen habe einen rassistischen Hintergrund. Die verwendete Symbolik müsse im Kontext der Zeit verstanden werden, in der das Wappen entstanden sei. Auf die immer wiederkehrenden Klischees und Stereotype aus der Zeit der kolonialen Unterdrückung und des sogenannten wissenschaftlichen Rassismus wird nicht eingegangen.

aus www.bern-colonial.ch

Lobbying in Bundesbern

Was meine neue Wanderung zum Lobbying will. Eine kurze Erklärung.

Lobbying in der öffentlichen Diskussion
Lobbywatch.ch ist sehr skeptisch: «Lobbying ist knallharte Einflussnahme, die intransparent verläuft», formulierte man da jüngst. Gemässigter tönt es bei Transparency International Switzerland. Eine harte Transparenzkritik gibt es auch hier, und die Integrität der Lobbyisten in der Schweiz wird weder schlecht noch gut beurteilt. Am positivsten sind die Noten beim Zugang. Erstaunt ist man bei den professionellen Beobachtern ob dem Studienergebnis nicht: Denn Lobbying ist ein fester Bestandteil einer pluralistischen, liberalen Demokratie, geworden, das letztlich viele betreiben, schreiben sie in ihrem Länderbericht.
Selber sehe ich alles auch recht nüchtern. Ich habe 1995 begonnen, Lobbying am Verbandsmanagement der Uni Fribourg zu unterrichten. 22 Jahre lang habe ich das gemacht. Dabei habe ich hautnah den Wandel des Phänomens wie auch der Interessierten beobachten können. Immer noch doziere ich dazu an der Berner Fachhochschule. Mein Zugang ist stets der der angewandten Politikforschung: nahe bei der Praxis, aber systematisch in der Analyse und Bewertung.
Im Home-Office während der Corona-Krise ist daraus eine umfangreiche Stadtwanderung geworden: zuerst in meinem Kopf, dann mit meinen Füssen!

Lobbying im Wandel
Beim Konzipieren wurde mir auch klar, wie sich der Fokus im letzten Vierteljahrhundert geändert hat. Damals ging man systemtheoretisch vor: Institutionen und Akteure bildeten das Grundgerüst, die politischen Prozesse verbanden sie miteinander.
Ueberzeugt war anfänglich auch ich, dass Lobbying von Privaten betrieben wird, welche staatliche Entscheidungen zu ihren Gunsten beeinflussen wollen. Heute bin ich bin ich der Auffassung, dass die Unterscheidung zwischen Privat und Staat nicht mehr entscheidend ist.
Denn auch Behörden lobbyieren, wenn ihr Kompetenzen beschnitten werden sollen. Städte und Kantone nehmen Einfluss, wenn ihre Budgets gekürzt werden könnten. Aber auch DiplomatInnen, Vertreter globalere Institutionen versuchen Entscheidungen zu beeinflussen, wenn sie ein Produkt platzieren oder Privilegien erhalten wollen.
Um den Einfluss des Lobbyings zu bestimmen, muss man heute nur die formalen Abläufe kennen. Es ist nötig auch die meist informellen Beziehungsgeflechte zu kennen. Besonders effizient erweisen sich dabei Netzwerke in Behörden, mit ehemaligen Behördenmitgliedern, aber auch guten Verankerungen bei wichtigen Interessen der Wirtschaft und Gesellschaft.
Das gewandelte Lobbying ist heute ein Teil der Politikformulierung in der Informationsgesellschaft, ist meine These.
Die letzten Monate zeigten uns, dass Lobbying lebt – und kontrovers diskutiert wird! Bei den eidg. Wahlen war Lobbying ein Teil der Wahlkampf-Themen. Spitzenvertreter des Gewerbeverbandes, der Gewerkschaften und der Krankenkassen scheiterten an der Wiederwahl. Doch rutschten fast überall neue Volks- und KantonsvertreterInnen nach. Während der Corono-Krise sah man, wie das Lobbying der starken Verbände gegenüber der Exekutive gerade in Notsituationen wichtig ist und gut funktioniert. Demgegenüber glitt das Lobbying, das Interessenvertreter aller Art namentlich gegenüber der Legislative betreiben, ohne direkte Kontaktmöglichkeiten in eine echte Krise.

Eine aktuelle Standortbestimmung
Wo stehen wir heute? Meine neue Stadtwanderung «Lobbying in Bundesbern» entstand zunächst aus meinen langjährigen Beobachtungen und vielfältigen Analysen. Systematisiert habe ich die anhand der langsam erwachten Grundlagenforschung der Politik- und KommunikationswissenschaftInnen zu Phänomenen wie Public Affairs, Pluralisierung der Einflussnehmenden und politischen Netzwerken.
Daraus entstanden ist eine Tour durch das Berner Regierungsviertel von 1,5 bis 2 Stunden. Sie richtet sich an Gruppen, die sich für den bemerkenswerten Wandel der Politikgestaltung interessieren. Das können LobbyistInnen und Lobbyierte sein; es waren auch schon Hochschulstudierende und Medienschaffende dabei. Dieses Jahr werde ich meine neue Wanderung noch ein halbes Dutzend Mal durchführen.
Vorläufiger Höhepunkt wird im Februar 2021 der Kongress der Schweizer Politikwissenschaft sein, der die Führung ins offizielle Programm aufgenommen hat.
Weitere Interessierte können sich beim mir melden, am einfachsten per Mail via diese Webseite. Ideal sind Gruppen mit 8-15 Mitgliedern, die sich als Ganzes anmelden und teilnehmen.
Vorerst gelten während den Führungen Corona-Regeln wie in Restaurants.

Bern Colonial

Wenn Karl Johannes Rechsteiner vor dem Berner Rathaus Leute für seine Stadtführung «Bern Colonial» versammelt, füllt er den Platz mit Leib und Seele. Kommunikationsbeauftragter für die Kirchen ist er, in Nebenamt Chocolatier im Emmental und Aktivist bei Cooperaxion.org. Für diese Organisation, die kritisch zum Kolonialismus steht, macht er auch seine Stadtwanderung.

Der Dreieckshandel der Moderne
«Dreieckshandel» ist sein übergeordnetes Thema. Im Gefolge der Entdeckung Amerikas durch den Genuesen Cristoforo Colombo entwickelten sich typische Handelsbeziehungen über den Atlantik: Von Europa nach Afrika wurden beispielsweise Waffen geliefert, von Afrika nach Amerika namentlich Sklaven verschifft und von Amerika nach Europa vorwiegend Baumwolle eingeführt. Alles mit dem gleichen Schiff!
Das weiss man höchstwahrscheinlich aus dem Geschichtsunterricht in der Schule noch. Doch Rechsteiner genügt es nicht: Ihn interessiert der «Kolonialismus ohne Kolonien».
Zum Beispiel denjenigen der Schweiz!
Rechsteiners These: Ueber Migration, Warenhandel, Finanzgeschäfte, militärische Hilfen, ideologische Rechtfertigungen war die Schweiz Teil eben eben diesems Kolonialismus. Natürlich gehört sie auch dazu, weil die Kritik an ihm mitunter aus der Schweiz kommt.

Die Stadtwanderung
Der Stadtwanderer erinnert zuerst an das Ende des Berner Bankenplatzes vor präzis 300 Jahren. In wenigen Wochen ging die führende Berner Bank Malacrida zu Grunde. Sie war über die Börse in Paris an der Mississippi-Gesellschaft Frankreich beteiligt, als diese in Louisiana mit der Sklavenwirtschaft für den Staat erwirtschaften sollte. Doch die Blase platzte im August 1720 und vernichtete Vermögen. Es war die erste grosse Spekulationsblase Europas, die sich im Nichts auflöste – und auch das patrizische Bern substanziell betraf. Die Bank selber musste in einem mühsamen Prozess aufgelöst werden und verschwand für immer.
Vor der Franzosenkirche ging es Rechsteiner wie erwartet um hugenottische Flüchtlinge, die hier ihr eigenes Gotteshaus hatten. Sie brachten neue Handwerkstechniken nach Bern, so die Indienne Stoffe aus Baumwolle in allen Farben. Dafür importierten sie die Rohstoffe. Mit dem neuen Erwerbszweig kam auch neues Denken nach Bern. Hieronymus Küpfer war ihr erster Fabrikant am Sulgenaubach und familiär eng mit Samuel Henzi, dem hingerichteten bürgerlichen Revolutionär verbandelt.
Kulturelle Spuren des Kolonialismus ortet der Stadtführer aus dem Emmental bei der «Zunft». «Zunft zum Mohren» mag er nicht mehr sagen. Aber man sieht auf seiner Wanderung das Zunftwappen an der Rathausgasse. Die Kritik an den stereotypen Darstellungen mit schwülstige Lippen, fliehender Stirn kommt sofort: Sie soll an ein grosses Maul mit kleinem Gehirn erinnern! Der Streit um die Symbolik ist in Bern schon vor Jahren entbrannt. Seit «Black Lives Matter» ist sie wieder hochgekommen. Rechsteiner hält nichts von den historischen Herleitungen zur Rechtfertigung. Das Wappen sei aus der Belle Epoque und spiegle typisch rassistische Vorstellungen, die man hier nicht so nenne.
Eindrücklich sind Rechsteiners Schilderungen der «Menschenschauen», beispielsweise auf dem Waisenhausplatz. Menschen aus Afrika, einzeln, in Familien oder Sippen wurden zur Belustigung der Einheimischen regelrecht ausgestellt und dienten der nationalen Selbstfindung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert: Sie sagten, so wie in Afrika sind wir nicht. Uns geht es seit der Gründung der Schweiz gut. Wir können den Armen sogar helfen. Kombinierte Tier- und Menschenschauen fanden übrigens im Zirkus bis 1964 statt.
Kolonialwarenhändler wurden ab 1800 auch in Bern beliebt. Es gab sie beispielsweise als «Drogerie&Kolonialwaren Salzmann», direkt neben dem Holländerturm. Heute steht da eines der «Starbucks». Das passt! Denn Kaffee gehörte nebst Baumwolle und Takak zu den wichtigsten Importwaren im Dreieckshandel. Namentlich mit dem Tabak kam auch die Nikotin-Sucht nach Europa und Bern. Beispielsweise mit den Berner Offizieren in niederländischen Diensten, die sich nach dem 30jährigen Krieg von 1618 bis 1648 den Wehrturm kauften, um da in Abgeschiedenheit ungestört ihrem verbotenen Verlangen nachgehen zu können.

Lust auf mehr
Die Führung aus dem Hause Cooperaxion ist aus dem Leben gegriffen, anschaulich und lehrreich zugleich. Natürlich inspirierte sie mich zu weiteren gedanklichen Stationen. Etwa vor dem Haus an der Junkerngasse, wo einst der Universalgelehrte Albrecht Haller wohnte. Sein Sohn, verheiratet mit einer Niederländerin, eröffnete einen der ersten Kolonialwarenladen in Bern. Dessen Sohn wiederum, Karl Ludwig, wurde als Autodidakt der führende Staatstheoretiker der Anti-Aufklärer. Mit seinem «Patrimonialstaat» leugnet er das aufkommende Naturrecht vollständig, propagierte dafür den Erhalt der göttlichen Ordnung.
Die Abschaffung der Sklaverei, die während seiner Zeit in halb Europa heiss diskutiert wurde, war für ihn grundlegend falsch: Denn die Sklaverei verdanke ihren Ursprung der Menschlichkeit, indem man Feinde nicht töte, sondern ihnen die Gelegenheit gebe, «beständigen Dienst» zu leisten. Man verkaufe auch nicht Sklaven, sondern das Recht auf deren Arbeit, schrieb Haller 1818. Auch für die Versklavung von Kindern der Sklaven hatte er ein Argument bereit: Im Erwachsenenalter könnten sie die Kosten für Wohnung, Nahrung und Unterricht dank ihrer Erziehung durch Arbeit selber wettmachen.
Da gibt es nach Columbus auch in «BernColonial» noch viel mehr zu entdecken, als man sich bis vor kurzem ausmalte.