soziologisches who ist who der gegenwart

es ist das aufregendste buch von soziologInnen, das ich seit langem gelesen habe. es stellt sozialfiguren der gegenwart vor, und ist damit einen abstrahierende gesamtschau über das konkrete soziale, in dem wir heute leben. jede(r) findet sich darin wieder, als treiber oder getriebener.

12573“Sozialfiguren sind zeitgebundene historische Gestalten, anhand deren ein spezifischer Blick auf die Gegenwartsgesellschaft geworfen werden kann”, steht in der einleitung der herausgeber. sie beschreiben ein bisher verkanntes phänomen: dass jede zeit ihre eigenen praktiken hat, die aus verschiedenen sphären stammen, sich aber generell durchgesetzen und für eine weile durch die gesellschaft vagabundieren. so gibt es manager nicht nur in firmen, auch in kulturellen institutionen. spekulantInnen trifft man nicht bloss an der börse, auch in medien. und beraterinnen gibt es nicht einzig für familien, auch für die politik.

stephan moebius und markus schroer, soziologie-professoren in graz resp. kassel, habe es sich zur aufgabe gemacht, die sozialfiguren unser gegenwart aufzustöbern, zu systematisieren, und sie in buchform beschreiben zu lassen. herausgekommen ist ein kaleidoskop der ist-zeit, das provoziert, erhellt, zustimmung findet, den köpf schütteln lässt – und dabei immer wieder klar macht, welche typen uns umgeben. die sponti sind nicht mehr dabei, denn sind sind out. genauso wie die tramper oder die yuppies. geblieben und gekommen sie die 34 andere sozialfiguren, die von ausgewiesenen soziologischen beobachterInnen porträtiert werden. hier sind sie:

der amokläufer.
der berater.
der bürger/weltbürger.
der dandy.
der dilettant.
die diva.
der experte.
der fan.
der flaneur.
der flexible mensch.
der flüchtling.
der fremde.
der fundamentalist.
der hacker.
der homo academicus.
der hybride.
der konsument.
der kreative.
der manager.
der medienintellektuelle.
der migrant.
der narziss.
der nomade.
der simulant.
der single.
der spekulant.
der spiesser.
der star.
der terrorist.
der therapeut.
der tourist.
der überflüssige.
der verlierer.
der voyeur.

es fehlt eigentlich nur der stadtwanderer, der ja auch immer mehr mich und andere umgibt … wer wagt dieses porträt?

stadtwanderer

wieder vermehrt im leutschenbach

zum auftrakt des wahljahres erscheint heute das erste wahlbarometer 2011. ich werde wieder vermehrt im leutschenbach zu gegen sein. ein paar gedanken auf dem weg nach zürich.

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ich weiss, nicht alle mögen umfragen vor wahlen. zum beispiel die parteien nicht, die schlecht abschneiden. zum beispiel gewisse medien nicht, die lieber selber schiedsrichter spielen, als die bürgerInnen zu wort kommen zu lassen. und zum beispiel wissenschafterInnen, die sich im forschungsfeindlichen kulturpessimismus üben.

immerhin, die reaktionen, die ich auf der strasse und in den restaurants erhalte, sind mehrheitlich positiv. denn sie wissen und spüren, dass demokratische öffentlichkeit nicht nur die der organisierten akteure sein darf, sondern auch sie eine stimme haben müssen.

leer geschluckt habe ich dafüe dieser tage, als ich von regula stämpfli, meiner ehemaligen mitarbeiterin (und stadtwanderer-leserin), mehrfach las, wer demokratie vermesse, schaffe sie ab. mit verlaub: ich widerspreche!

denn wer demokratie und demokratische entscheidungen nicht kontrolliert, öffnet der macht und dem machtmissbrauch tür und tor. das eine ist die politische kontrolle, das andere die politologische. beide ergänzen sich, und beide sind nötig.

demokratien sind im 21. jahrhundert in die defensive geraten. das stimmt. weil sie auf einer zentralen annahme basieren: sie sind die führende regierungsweise in führenden volkswirtschaften. heute gilt das so nicht mehr. mit china orientiert sich eine der prosperiendsten wirtschaften der welt, nicht mehr an demokratiekonzepten. in zahlreichen osteuropäischen demokratien fehlt es dafür am ökonomischen unterbau der jungen demokratie. und andernorts regieren autokratischer maker mit ihrer medienmacht über ganze völker.

doch: wer das vermisst, ist ein freund, kein feind der demokratie!

sicher, das wahlbarometer zu den wahlabsichten oder smartvote als kandidatenspiegel, interessieren sich für anderes. es geht ihnen nicht um institutionelle ausgestaltungen, die mehr oder weniger demokratisch sein können. doch auch sie vermessen, wenn man es so will, demokratische entscheidungen, damit sie durchschaubarer werden, fakten ansichten gegenüber stehen und so ein rationaler diskurs über politik erhalten bleibt.

demokratien leben von öffentlichkeit, und die besteht aus der beobachtung, der teilnahme und der kollektiven identitätsbildung. wer empirische forschung mit abschaffung gleichsetzt, verkennt die dinge.

deshalb halte ich hier fest: gewalttätiges handeln, autoritäres denken und machtkonzentration gefährden die demokratie weltweit, nicht ihre erforschung.

das ist nicht nur meine tiefste überzeugung. es ist auch die meinung vieler meiner kollegInnen in der wissenschaft und auch einiger zahlreicher mitstreiterInnen in den medien. keine und keiner von ihnen ist mir als demokratieabschaffer bekannt!

stadtwanderer

das sog. italien auf deutschem grund

unser hotel nennt sich “zur sonne”. die gastwirte heissen esposito. und um die ecke ist das römerbad. doch sind wir nicht in italien, nein, vielmehr in badenweiler, am hang des schwarzwaldes auf ein paar lauschige kurtage. dass man hier in italien ist, liesst man nur in den prospekten für touristInnen. wer selber hierher kommt, lernt die typische lebensart der grenznahe markgräfler kennen und schätzen.

hotelbadenweiler, genau zwischen lörrach und freiburg gelegen, wurde 1756 zum eigentlichen kurort. die vier ersten badhäuser waren die carolsruhe, die krone, der hirschen und eben die sonne, die schon länger stand, und einen eben so wenig katholischen namen hatte, wie zahlreiche der nachfolgenden wirtschaften.

mit ihnen kam auch die reklame ins dorf, was der siedlung ein kleinstädtisches gepräge gab. die gäste, vornehmlich aus dem reformierten basel, die zum baden kamen, wurden fein säuberlich auf einer liste erfasst und hatten der kurpfennig entrichten. denn der obrigkeitlich geförderte wirtschaftsaufschwung in der region sollte neue einnahmequellen für die herrschaft erschliessen.

zwar wusste man der spur nach von den römern. doch deren riesiges bad am fuss des blauen kannte man damals nicht. die erste schriftliche erwähnung von “baden” verdankt der ort den nahen silberminen, die kaiser heinrich II. dem bischof von basel im 11. jahrhundert zur nutzung vermachte. andere quellen sagen, die heilquelle sei bis ins hochmittelalter genutzt, dann aber durch das schreckliche erdbeben in basel eingestürzt. seit 1408 habe es wieder ein gasthaus gegeben, der vorläuferbau der sonne.

geprägt wurde die region in der nach baslerischen zeit durch die gegnerschaft zum habsburgischen vorderösterreich. doch erst die grafen von hachberg-sauseberg begründen im 15. jahrhundert den namen “markgräflerland”. mit ihm wurde aus baden badenweiler, um es vom nördlich gelegenen baden-baden besser unterscheiden zu können.

1525 machten die bauern gegen die herrschaft mobil. die grafen von baden, die 1503 das markgräflerland geerbt hatten, schlossen bald schon frieden mit ihren untertanen, machten sich die sache der reformation zu eigen, was die bevölkerung zusammenschloss, bis der verheerend 30jährige krieg kam, der alles zerstörte. seither steht in badenweiler auch kein schloss mehr, nur noch eine riesige steinruine, burg genannt.

1784 entdeckte der kurort bei neubauten die alte römerquelle. wer sie erschlossen hatte, weiss man nicht. von kaiser vespasian, der das decumatland rechts des rheines für die römische sache zugänglich gemacht hatte, wird häufig genannt. gut sichtbar baute man auch den römischen podiumtempel, dessen entstehen dendrologisch auf das jahr 175 nach christus datiert wird. an seiner stelle steht heut die reformierte kirche.

die römischen funde ende des 18. jahrhunderts lancierten die archäologie und denkmalpflege im markgräflerland, deren anfänge die ältesten im heutigen baden-württemberg sind. populär wurde der name “markgräfler” übrigens erst im 19. jahrhundert, seit ihn die zahlreichen winzer an der weinstrasse zwischen lörrach und freiburg zur vermarktung der region verwenden.

wolfgang abel, ein freiburger soziologie, der seit jahren den südwesten deutschlands bereist und zahllose wander- und gastrobücher geschrieben hat, findet sich in jeder buchhandlung bibliophil aufgelegt. alle kommen bei ihm an die kasse, denn liebevoll-bissig berichtet er erfolgreich aus der und über die breisgau. über badenweiler schreibt er, dem kurort würden einige anzeigekampagnen weniger, finanziert aus der kurtaxe der gäste, gut tun, wenn der ort nur ein ausgiebiges nachleben hätte.

dass genau das fehlt, halte ich dem kenner entgegen, macht den charme des ortes aus. badenweiler ist eben nicht italien auf deutschem grund. wer des nachts eins über die stränge hauen will, gehe doch gleich anderswohin! wer hingegen ruhe sucht, der lässt sich durch die reklame nicht täuschen, und erfreut sich im markgräflerland, das fleissig-aufmerksam, aber auch beschaulich-gemütlich ist. genauso wie wir uns bei der familie esposito freuen, die süditalienische wurzeln hat, im breisgau aber bestens integriert (und und andere) im traditionsreichen gasthaus zur sonne (be)wirtet.

stadtwanderer

energiedebatte in der energiestadt wohlen

grosse politik im kleinen wohlen. die energiestadt zwischen bern und mühleberg diskutierte mit einem hochkarätigen podium die fortführung des kernkraftwerkes im benachbarten mühleberg. der stadtwanderer war unter den mehr als 100 gästen dabei.

Schulbezirkewohlen bei bern: ein sammelsurium aus vororten von bern und bauerndörfern am wohlensee, der in mühleberg endet.

vordergründig den stärksten auftritt des abends hatte urs muntwyler, professor an der hiesigen fachhochschule und bis ende 2010 inhaber einer solarstromfirma, die heute in wohlener hände ist. er breitete seite vision der energieversorgung in der schweiz aus. danach würde der strom in absehbarer zeit zur zentralen kraftquelle und dieser würde weitgehend durch erneuerbare sonnenenergie produziert werden. martin pfisterer, geschäftsleitungsmitglied der bkw, widersprach dem nicht fundamental, doch ist diese zukunft nach seiner schätzung nicht vor 400 jahren zu haben. bis dann seien wir auf andere energieträger angewiesen, hielt er dagegen. und unter denen sei kernenergie klimafreundlicher als fossile brennstoffe. michael kaufmann, vize im bundesamt für energie, bestätigte, dass es bei der konsultativabstimmung vom 13. februar im kanton bern über die zukunft des amtommeilers mühleberg genau um die weichenstellung zwischen nicht-erneuerbarer kernenergie und erneuerbaren alternativen hinzu geht.

da setzten auch auch die beiden politikerInnen auf dem podium, ursula wyss von der sp und christian wasserfallen von fdp, an. für den bürgerlichen geht es in drei wochen darum, den eintritt in die zweite generation von kernkraftwerken einzuleiten, weil es kurzfristig keine alternative zur energieversorgung mit wasser und kernkraft als zentralen säulen gibt. für ursula wyss ist demgegenüber der momenten für den ausstieg aus der veralteten kernenerige gekommen. sie hofft, dass die 10 bis 15 milliarden, die mühleberg 2 kosten würde, voll und ganz in erneuerbare energiequellen investiert werden.

lisa stalder vom berner “bund” leitet das podium geschickt. sie nahm die tagesaktualtität im abstimmungskampf auf, liess dann aber der grundsatzdebatte den nötigen raum. so diskutierte man kurz, warum das zwischenlager in mühleberg in den abstimmungsunterlagen nicht erwähnt sei. “nicht der rede wert”, meinte wasserfallen, da man alles gewusst habe. “wenig vertrauensbildend”, erwiderte ihm wyss. kontroverser waren die reaktionen auf die angeküpndigte reduktion der bkw zum anteil der erneuerbaren energien. “mit blick auf die abstimmung ungeschickt”, monierte wasserfallen, während pfisterer die sda kritisierte, unsachgemäss berichtet zu haben. von wollen keine spur, meinte er, von müssen schon, da es auch gegen solche projekte widerstände in der gesellschaft gäbe.

mehr als 100 personen verfolgten in der energiestadt wohlen die debatte zur anstehenden volksabstimmung im kanton mit nationaler ausstrahlung. der eine nachbar bern hat seine antwort schon im november 2010 gegeben und beschlossen, bis 2040 aus der kernenergie auszusteigen. dafür nimmt man ein gaskraftwerk in kauf. der andere nachbar, kkw-standort mühleberg, wird am 13. februar höchstwahrscheinlich gegenteiliges tun. entsprechend lavierte der wohlener gemeindepräsident knecht bei seinem votum zur volksentscheidung. er lobte firmen wie diese auf dem gemeindebann, warb dann aber kleinlaut für ein ja zum ersatz von mühleberg.

die reaktionen waren typisch, als das publikum zum wort kam: der geologe sprach davon, die technischen probleme mit der endlagerung radioaktiver abfälle seien im prinzip gelöst; verblieben sei nur das politische problem. der entwicklungshelfer wiederum monierte, die ängste der bevölkerung in der 15 kilometer-distanz zu mühlberg seien real; man habe jod-tabeletten für den ernstfall bekommen, aber keine informationen, was man im ernstfall tun müsse. der parteilose bürger wollte wissen, warum die kernkraftbetreiber keine versicherung über 2 milliarden franken schäden hinaus hätten, was bei einem unfall in der region kaum einen pappenstile der schäden decken würde. und der lokale unternehmer fragte sich, was geschehe, wenn angesichts steigender energiekosten der strom aus mühlberg 2 dereinst teurer sei als der aus wind- oder sonnenenergien.

urs muntwyler sah sich an diesem abend bestätigt. investieren müsse man in die photovoltaik, denn nur eneuerbare quellen würden den wachsenden bedarf an energie sinnvoll decken können, sagte er. die politik, lästerte der gleiche auch, werde angesichts wachsender rückstände auf das nahe ausland den wechsel nicht rechtzeitig bewerkstelligen können. doch mag die bkw ihm nicht folgen, will die energiesicherheit bis mindestens 2060 auf ihre art sichern.

das stimmvolk wird am 13. februar 2011 entscheiden.

stadtwanderer

der cousin von ivan s.

die plakate zur volksabstimmung über die initiative “für den schutz vor waffengewalt” erobern den öffentlichen raum. zeit, genauer hinzusehen – und über den bisher unbekannten staatspopulismus nachzudenken.

waffengewalt

eigentlich ist es ein widerspruch ins sich: der populismus definiert sich dadurch, dass die interessen der einfachen leute durch vertreter der betuchten schichten vertreten werden, weil die politik, genauer die mehrheit im staat, das nicht mehr mache. demnach wäre der staatspopulismus die form des populismus, wo der staat die interessen des kleinen mannes und der kleinen frau vertritt, weil der staat das nicht mehr macht …

wenn ich mir die werbung für und gegen die anstehende volksabstimmung über die volksinitiative zu gemüte führe, komme ich zum schluss, dass genau das der fall ist. der reihe nach.

zuerst: die initiantInnen, mehrheitlich links, nehmen mit dem erschossenen teddybären die ängste der familien auf, die das drama erlebt haben, dass ein vater die mutter und die kinder mit der ordonnanzwaffee bedroht, verletzt oder umgebracht hat. sie politisieren das gefühl der unsicherheit in der gesellschaft, weil sich der staat aus ihrer sicht vernünftigen lösungen jenseits von mythen um den wehrhaften bürger im land verweigert. das kann man auch als “klassischen” populimus kritisieren.

sodann: die gegner der initiative haben zwei aussagen auf ihre plakate gebracht: einmal die bedrohte tradition der schweiz als schützengesellschaft, die im 19. jahrhundert die politische kultur der schweizerischen eidgenossenschaft mitaufbauten; sodann der illegale waffenbesitz durch ausländisch wirkende typen. mit letzterem kontert die gegnerschaft direkt, dass ihre widersacher die sonst typisch rechte thematik der sicherheit im alltag aufgenommen haben. die botschaft dazu: nicht unsere soldaten sind gefährlich, sondern die cousins von ivan s. aus der abstimmung über die ausschaffungsinitiative.

nun ist das nicht nur die fortsetzung des gebrauchs von stereotypen, wie sie die nationalkonservative opposition in den letzten 10 jahren entwickelt und werberisch verfestigt hat. es ist die kampagne der bürgerlichen parteien, die den standpunkt der mehrheit in den behörden vertreten.

für mich jedenfalls ist es neu, dass die behördenseite sich des misstrauens der bürgerInnen bedient und damit wirbt. denn ihr weltweit übliches geschäft ist es, vertrauen in die eigene sache zu fördern, welche das funktionieren des staates auch in schwierigen situationen ermöglichen soll. wenn einzelnen regierungsparteien oppositionelle stile in ihrer werbung gebraucht haben, setzte es üblicherweise eine defitige kritik ab. dass man nun genau das im namen der mehrheit von regierung und parlament macht, kann man das – bei aller semantischen problematik – eine bisher unbekannte form des staatspopulismuses nennen.

stadtwanderer

appläuse für die erfolgreichsten schweizerInnen

bei einer show wird gezeigt, was man zu bieten hat – beim swiss award 2010, was die schweiz für sich selber und für die welt letztes jahr erbrachte. und sich hierfür sichtbar gut gelaunt gestern abend auch applaudierte.

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für mich der intensivste moment des abends: die dankesrede von sophie hunger für den swiss award 2010 in der kategorie “show”

das erdbeben in haiti bestimmte das hochmedialisierte, gestrige geschehen im züricher hallenstadion am meisten. denn mit dem publikumspreis für den den und die schweizerIn des jahres 2010 wurden marianne kaufmann und rolf maibach geehrt. der bündner war bis vor kurzem direktor des albert-schweitzer-spital in deschappeles auf haiti; die bernerin wirkte gleichzeitig als krankenschwester unter den opfern des erdbebens auf der karibikinsel.

moderatorin sandra studer führte wie immer elegant und gekonnt durch die gala. ihr viersprachiges jahresthema waren die löcher. nicht nur in der erde haitis – denn auch der vulkanausbruck auf island und seine folgen kam zu sprache, genauso wie der rettungsschacht für die bergleute in chile – und selbstverständlich das weltrekordträchtige loch durch denn gotthard, der europa durch die schweiz führt. dennoch schafften es die gemeinsam nominierten bohrmeister adolph ogi und moritz leuenberger nicht, den immer begehrteren titel zu gewinnen. denn die konkurrenz für die auszeichnung ist zwischenheitlich ziemlich stark geworden.

in der kategorie politik wurden die alt-bundesräte von der newcomerin pascale bruderer übertroffen. gekonnt hatte sie als nationalratspräsidentin das parlament durch wahlen und sachgeschäfte geführt, tuchfühlung mit grossen der welt wie dem dalai lama geknüpft, und brücken in die gespaltene schweizer gesellschaft gebaut. dafür erhielt sie den politischen swiss award 2010. den für wirtschaft ging an felix richterich, dem chef von ricola, deren bonbon-absatz die firma zum weltmarktleader gemacht hat.

im in- und ausland erfolgreich waren schliesslich auch sophie hunger und martin suter, die gekrönten für show und kultur. ihre reaktionen auf den preis hätten jedoch nicht gegensätzlicher sein können. die musikerin hielt die vielleicht gehaltvollste rede des abends; der schriftsteller fehlte ohne angabe von gründen und liess eine kurze dankesnotiz durch einen kollegen verlesen. das mag typisch sein, dafür, dass unsere künstler, die emotionen ansprechen, das publikum lieben, jene, die unseren intellekt schärfen sollten, es immer mehr meiden.

so stimmte die analyse von bärbi an meiner seite: es seien entscheidungen des herzens gewesen. das trifft sicher auch auf emil zu, dem 78jährigen komiker, der für seine lacher über generationen hinweg den streng geheim gehaltenen life time award erhielt. und es traf auch zu, was man vielerorts hören könnte: die entscheidungen des abends waren (manchenorts anders als meine favoriten, aber) durchaus vertretbar. genauso wie der relounch der sendung, die besser als auch schon gefiel.

das anschliessende essen verbrachten wir am tisch von hans-ueli müller, dem neuen besitzer der kartonfabrik im bernischen deisswil. er war mit seiner reizenden familie gekommen, welche ihn in seiner riskanten rettungsaktion trotz anfänglich hohen verlusten unterstützt, weil man überzeugt ist, langfristig etwas gutes zu tun. eines ist sicher: als banker, der er im hauptberuf ist, wäre müller kaum zur auswahl gestanden. als unternehmer nebenbei, der zivilcourage beweist, figurierte er von der “bilanz” portiert zurecht weit oben unter den nominierten in sachen wirtschaft.

“applaus, applaus”, kann man da nur sagen. oder wir es der täschmeister hinter der fernsehkulisse während der aufwärmrunde dem publikum im zürcher hallenstadion auf neudeutsch sagte: appläuse für die speziellsten unter uns!

schweizerIn des jahres wird …

morgen kürt die srg einmal mehr den oder die schweizerIn des jahres. insgesamt und in den sparten: politik, wirtschaft, gesellschaft, kultur und show. beim sport stehen die ausgezeichneten schon fest. hier meine diesjährigen favoriten.

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viel wurde jüngst diskutiert, wie das auswahlverfahren beim siwss award zustande kommt. auch mir als beteiligter war es nicht immer klar.

jetzt lässt man grosse transparenz walten. eine nominationsjury, welche die trägerinnen der veranstaltung repräsentiert, schlägt im herbst des jahres rund 30 personen vor, die sich in ihrem bereich besonders hervor getan haben. eine davon unabhängige academy bewertet die vorschläge und verteilt so die awards in den kategorien. bekannt gemacht werden die plätze 1-3 je kategorie. sie, und die drei besten beim sport, nehmen an der wahl des oder der schweizerin des jahres teil. doch entscheidet hier kein fachgremium, sondern das tv-publikum.

selber bin ich teil der academy, also jenes gremiums, dass die spezialpreise verteilt. rund 100 weitere personen aus der ganzen schweiz zählen hierzu. erstmals weiss ich, wer sie sind.

um die transparenz zu erhöhen, lege ich hier meine favoriten unter den nominierten offen; es sind dies:

kategorie “politik”: pascale bruderer, nationalratspräsidentin
kategorie “wirtschaft”: hans-ueli müller, investor (namentlich im kanton bern!)
kategorie “gesellschaft: fabiola gianotti, teilchenphysikerin am cern
kategorie “kultur”: melinda nadj abonji, schriftstellerin
kategorie “show”: bligg, musiker

beim sport konnte ich nicht mitentscheiden – und habe ich auch keine favoriten. denn davon verstehe ich definitiv zu wenig. was nicht heisst, dass die von mir bevorzugten echten chancen haben, zu obsiegen …

stadtwanderer

campari soda

alles begann mit einem flüchtigen blick an der amici-bar in der berner markthalle. seither entwickelt sich eine rasch zunehmende leidenschaft. vor einem typischen hintergrund, dem ich mir gar nicht bewusst war.

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der wichtigste vorsatz zum neuen jahr war, sich nichts mehr vorzunehmen. das jedenfalls sagte mir der kopf, der sich der üblichen konvention verweigerte. und doch schlummerte da ein wunsch, ein ganz persönliches anliegen anzugehen, das in mir schlummert.

weniger bier trinken!

unverändert vergöttere ich den gerstensaft. er wäre wohl das letzte, auf das ich ganz verzichten würde. doch ist der bierkonsum auch eine dumme gewohnheit, die sich auf der gewichtswaage rächt.

so gehe ich seit längerem mit dem idee schwanger, meinen bierkonsum auf die hälfte zu reduzieren. 1 stange pro tag soll das mass aller dinge werden. dafür trinke ich mehr säfte, mehr teeli … und campari soda.

kurz vor weihnachten machte es an der amici-bar in der berner markthalle click. ein flüchtiger blick auf das getränk zweier gäste löste alles aus. es war rot – die farbe der liebe. serviert wurde es in einem eleganten glas – der ausdruck des geschmacks. und das ambiente stimmte – die botschaft des gefühls.

innert sekundenschnelle war mir klar: das ist es. um mich abend von der arbeit zu lösen, werde ich mir von nun an ein campari soda mixen – oder eins mixen lassen!

und so war mein gutes-neues-jahr-vorsatz perfekt.

was mir überhaupt nicht bewusst war: die wahl des apéro-getränkes hat mit selbstbildern der männlichkeit zu tun. das jedenfalls behauptet die zeitschrift “abstract“, die ich heute zugestellt bekommen habe. stephan siegrist, ein begnadeter forscher des hiesigen konsumverhaltens – gibt das anregende magazin heraus. darin entdeckt man immer wieder neue analysen, sicher auch hippige trends.

so, dass die (gewünschte) lebensweisheit einerseits, die (erhofften) haare-auf-der-brust anderseits bestimmen, welches getränk man wählt, um sich in stimmung zu bringen. und auf diese weise ertappe ich mich, gerne sophistizierter zu werden, ohne grosse aspirationen zu haben, einen behaarten oberkörper zu bekommen.

gary grant, als vorzeigebeispiel für diesen typ kannte ich ja. die gegensätzlichen benchmarker musste ich sinnigerweise googeln, um mit ein bild zu machen, was ich nicht bin.

stadtwanderer

sein neuester hinweise findet sich hier.

die konkordanz ist zerbrechlich, zerbrechen wir sie also!

“Wird die Tatsache, dass die Schweizer Geschichte reich an inneren Spannungen ist, die Risikobereitschaft von Souverän und Parteien erhöhen und sie im Herbst 2011 Experimente wagen lassen, welche die allseits beklagte Uneinigkeit und Handlungsunfähigkeit der Landesregierung beheben könnten?”

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die konkordanz ist zerbrechlich, tragen wir ihr sorge: neujahrskarte der neuen bundes- präsidentin micheline calmy-rey mit der umgekehrten botschaft, die thomas maissen heute verbreitet

der das fragt, ist kein unbekannter: historiker thomas maissen hat im herbst 2010 eine viel gerühmte neue schweizer geschichte auf den tisch gelegt, mit der er die bedeutung der bürgerlich-fortschrittlichen kräfte ausgehend vom 19. jahrhundert für die etablierung des politischen systems herausarbeitete und betonte, das projekt schweiz sei nie fertig geworden, dafür traditionsbewusst immer unterwegs gewesen – so auch heute.

die antwort auf die in der heutigen nzz am sonntag aufgeworfenen frage lautet für maissen kurz und bündig: “Nein.”

denn der leidensdruck sei zu klein, um die liebgewordene konkordanz zu verabschieden. wozu auch?, fragt er sich, denn dem land gehe es wirtschaftlich gut. doch die politik sei nicht fähig, rechtzeitig auf entwicklungen in den usa, der eu und supranationalen gerichten zu reagieren.

in seinem beitrag entwirft der historiker mit bündnerisch-finnischen wurzeln sein gegenprojekt. denn thomas maissen ist überzeugt, dass in einer demokratie eine regierung, die ihre gemeinsame basis verloren habe, demissionieren müsse, um dem (neuen) regierungsprogramm der erfolgreichen parteien platz zu machen.

die wählerInnen schenkten bei wahlen ihren parteipolitischen favoriten ihr vertrauen, und sie sollten vier jahre später überprüfen, ob das verantwortungsvoll wahrgenommen worden ist oder nicht, ist sein argument.

in der schweiz der gegenwart heisst dies für den geschichtsprofessor in heidelberg, das überholte konkordanzsystem aufzugeben und durch eine bürgerliche koalition aus svp, fdp und cvp, allenfalls unter einschluss von bdp, evp und glp abzulösen. angesichts der 30 prozent linksgrünen wählerInnen in der schweiz garantiere das für längere zeit eine mehrheit.

angeführt werden solle die neue bundesregierung durch die svp, die ende jahr drei bundesräte bekommen solle, dafür aber auch verantwortung übernehmen müsse. das bürgerliche zentrum aus fdp und cvp solle vier sitze in der bundesregierung haben, um weiterhin die mehrheiten ausmachen zu können. die sp dagegen habe nichts mehr in der regierung verloren, und auch die grünen würden keine alternative hierzu bieten.

klassische einwände, wie die wirkungen der direkten demokratie, des föderalismus und der gemeindepolitik, welche die konsenssuche erzwingen würden, lässt der vordenker der bürgerlichen nicht gelten. mindestens als experiment befürwortet er einen systemwechsel, um zu sehen, was an der konkordanz dran ist – und was nicht.

denn diese sei im 20. jahrhundert angesichts der sprachkulturellen spaltung nach dem ersten weltkrieg, der sozialen gegensätze in der wirtschaftskrise und der äusseren bedrohung durch den nationalsozialismus entstanden. krisen im system seien üblicherweise nur bei umstrittenen personenentscheidungen wahrgenommen worden. die inhaltlichen probleme habe man erst nach 1989, dem fall der berliner mauer und dem ende des kalten krieges, realisiert. jetzt sei die zeit reif, die konsequenzen zu ziehen.

ohne das würde die schweiz nach maissen in einer paradoxen situation verharren: die rechte fordere mit einer bisher unbekannten rhetorischen brutalität die fortsetzung, was in der nachkriegszeit konkordanzpolitik gewesen sei, während die gemässigten ihre umgestaltung an den veränderten internationalen rahmen forderten. beide seien auf einem auge blind: die gemässigten unterschätzten die heftigkeit eidgenössischer konflikte, die auch in bürgerkrieg ausufern könnten, und die nationalkonservativen negierten die politischen voraussetzung des wirtschaftlichen erfolgsmodells. nötig sei deshalb eine neue verbindung, die auf beiden augen sehe!

maissens diagnose kann man durchaus folgen. seinen schluss kann man aber ebenso bezweifeln. denn ob die nationalkonservativen kräfte der schweiz, die sich in den letzten 20 jahren in form einer neuen svp gesammelt haben, willens sind, verantwortung zu tragen, wenn die wählerstimmen nicht weiter steigen, kann man bezweifeln. anfechten kann man auch, dass ein übergang zur einem regierungs-/oppositionssystem ohne gründliche institutionelle veränderungen dauerhaft nicht zu haben ist. 2008 war der belegt dafür. schliesslich fragt man sich auch, ob es richtig ist, einen neuen bundesrat zu zimmern, ohne die programmatischen anforderungen an die regierungsarbeit vorher zu erörtern.

so zweifle ich nicht, dass ein bundesrat ohne sp in der lage ist, die bürgerlichen interessen innenpolitisch besser einzuschätzen, ich bin aber sehr unsicher, dass er angesichts der kulturellen spaltungen auch aussenpolitisch das augenmass finden würde.

in meiner optik gibt es für die bundesratswahlen 2011 nicht nur einen ausweg, sondern drei szenarien gibt: erstens die von maissen skizzierte entwicklung zu einer liberalkonservativen nationalen sammlung, zweitens den ersatz von eveline widmer-schlumpf durch einen konkordanten svp-vertreter (und damit die rückkehr zur zauberformel) und drittens einen unkontrollierten übergang zur kleinen konkordanz mit dem zentrum und einem der beiden politischen flügel in der regierung.

was sich davon durchsetzen soll, würde ich nicht unabhängig vom wahlausgang beantworten, auch nicht von der fähigkeit, im wahljahr aufzuzeigen, wo zwischen den blöcken politische gemeinsamkeiten bestehen, die nicht nur im momentanen spektakel interessant erscheinen, sondern auch in der geschichte sinn machen werden.

stadtwanderer