Eröffnung der Stadtwanderer-Saison: das Erwachen der Zivilgesellschaft


Heute eröffne ich die Stadtwanderer-Saison 2021. Das übergeordnete Thema meiner aktuellen Demokratie-Führung durch die Stadt Bern ist die neu erwachte Zivilgesellschaft. Meine Gedanken zur letzten Station von heute.

Der Staat wird durch die Weltanschauungen der Parteien gesteuert. Die Wirtschaft organisiert sich in generellen und spezifischen Interessen, die Einfluss nehmen.
Und die Gesellschaft? – Die klassische Antwort lautet: durch die BürgerInnen! Oder genauer durch die Zivilgesellschaft.

Woher der Begriff kommt
Den Begriff geprägte zunächst der kommunistische Theoretiker Antonio Gramsci. Er bezeichnete damit jene Teile der Gesellschaft, die sich wie Demonstrationen, Streiks aber auch Selbsthilfegruppen aktiv in der Öffentlichkeit äussern, um die Meinungsbildung und den Gang der Dinge von unten mitzugestalten.
Die Politikwissenschaft spricht heute alternativ von der aktiven Bürgergesellschaft. Gemeint ist Vergleichbares, jedoch losgelöst von marxistischen Hintergrund.
Auf die Schweiz angewendet, denkt man bei der Bürgergesellschaft zuerst an die Vereine, die im 19. Jahrhundert entstanden und namentlich der Männergesellschaft ein öffentliches Gesicht gaben. Abgelöst wurden sie im letzten Viertel des Jahrhunderts durch kollektive Akteure wie Verbände und Parteien.

Die Bedeutung heute
Ihre Vorherrschaft steht heute zu Debatte. Bei den Volksabstimmungen kann man das schon besser beachten als bei Wahlen.
In jüngster Zeit tauchte der Begriff prominent mit der Durchsetzungsinitiative 2016 auf. Die Gegnerschaft formierte sich nicht wirklich aus den Parteien heraus. Auch die Verbände hielten sich vielfach zurück. Aktiv wurden BürgerInnen, die sich gegen die SVP, ihre Themen und Kampagnen stemmten. Ihr damaliger Erfolg hat verschiedene andere Bewegungen inspiriert.
Was zeichnet die neue BürgerInnen-Gesellschaft aus?
Sie macht effektvolle Politik.
Sie macht das nicht aus kommerziellen Gründen.
Und sie haben sich überparteilich strukturiert.
Das aktuell beste Bespiel ist die Kampagne «Helvetia ruft!» getragen von Frauen, welche die Behörden, die Sportverbände und die Wirtschaftsspitzen verändern wollen.
Wie die Männer-Vereine im 19. Jahrhundert, ist die Frauenbewegung der Treiber der neu erwachten Zivilgesellschaft.
Wie stark sie zwischenzeitlich ist, zeigten die jüngsten Wahlen in der Bundesstadt. Die Frauen sind im Parlament in der Rekordzahl mehrheitlich. Freiburg und Lausanne machten das Bern jüngst nach.

Die Demokratie in der Veränderung
Ihre Wirkung zeigte am vergangenen Abstimmungswochenende vor allem bei der eID-Entscheidung.
Es war das erste erfolgreiche Crowd-Referendum der Geschichte.
Es wurde letztlich ohne Parteien lanciert.
Es stemmte sich gegen die Interessenvertretung der Wirtschaft im Parlament.
Und es hatte durchschlagenden Erfolg. 64 Prozent stimmten gegen die Behördenempfehlung. Das Nein war sogar so wuchtig, dass sich VertreterInnen aller Parteien im Parlament zusammenrauften, um sich für eine neues Bundesgesetz in gleicher Sache einzusetzen, das aus dem Nein lernen will.

Ein kleiner Ausblick
Wer weiss, vielleicht erleben wir schon bald weitere typische Referenden des digitalen Zeitalters: Am 13. Juni stehen unter anderen die Volksentscheidungen über das sog. Terrorismus-Gesetz resp. das Covid19Gesetz an. Ihre Trägerschaft haben durchaus zivilgesellschaftlichen Charakter. Die nötigen Unterschriften brachen sie trotz Corona-Restriktionen in grosser Zahl zusammen. Die Agenda der kommenden Monate werden sie zweifelsfrei mitbestimmen. Ob sie den durchschlagenden Erfolg haben wie das eID-Komitee bleibt offen. Für den beobachtenden Stadtwanderer durchaus eine Herausforderung, genau hinzusehen, wie sich die Demokratie heute ändert.