#Beizentour: Die grosse Modernisierung des Gastgewerbes

Die Geschichtsschreibung fasst die europäische Zeit zwischen 1750 und 1850/70 gerne als «Sattelzeit» zusammen und meint damit den Uebergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. Jene war in Gruppen organisiert, dies via Individuen. Generelle Ursache des damaligen Wandels war die Industrialisierung mit Auswirkungen auf die Demografie, was sich in einer Verkehrsrevolution aber auch neuen Konsum- und Kulturformen ausdrückte.



Oben: Hotel de Musique im Saal des Cercle de la Grand Societé, unten Progr mit Helvetiaruft!

Typisch für den Uebergang ist in Bern ist das “Hotel de Musique” an der Hotelgasse, das auch “Du Theatre” genannt wird. Gebaut wurde es 1766 von einer Aktiengesellschaft, und es beherbergte von Beginn den Cercle de la Grande Societé. Das war noch ein gediegener und geschlossener Club mit den Eliten der Patrizier und Bürger, der als Ort der innen- und aussenpolitischen politischen Auseinandersetzung diente. Einer generellen Oeffnung, wie es die französischen Besatzer 1798 verlangten hatten, widersetzte man sich erfolgreich. Immerhin steht das heutige Restaurant “DüTü” allen offen, und es ist eine beliebter Treffpunkt für gehobene Politik.

Uebergang zur Gastgewerbefreiheit
1848 führte die erste Bundesverfassung die Handels- und Gewerbefreiheit ein. Doch setzte sich die nicht automatisch durch. Gerade für das Gastgewerbe war die zweite Bundesverfassung wichtiger. Sie brachten Marktöffnung und Diversifizierung. Dafür hatten die Gastwirtschaften keine amtlichen Aufgaben mehr, wurden aber von Inhabern eines Patentes mit minimaler Ausbildung betrieben.
Namentlich der Einfluss von Tourismus und Verkehr hatte das Aufkommen zweiter neuen Typen, der Hotellerie und dem Restaurant zur Folge. Von dieser Modernisierung lange nicht betroffen blieben eigentlich nur die Gastwirtschaften auf dem bäuerlich geprägten Land.
Der Begriff des “Hotels” wurde aus dem Vokabular der repräsentativen Bauten der aristokratischen Städte übernommen. Noch heute nennt man Rathäuser auf französisch “Hôtel de Ville”. Gemeint waren neu aber modernisierte Herbergen für die Uebernachtung neuer und alter Oberschichten oder ausländischen Gäste. Typischerweise hatten Hotels dafür Einer- und Doppelzimmer, Speisesäle für gepflegte Dinners und eine Bar mit Thekenausschank.
In der Stadt Bern löste die Wahl als Bundesstadt 1848 einen Hotelboom aus. Dazu gehörten namentlich der frühere Bernerhof oder das Bellevue Palace, wo sich nationale Politiker, Beamte und Diplomaten tummelten.
Vom “Restaurant” sprach man in Paris seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert, wenn Gäste tagsüber und auch des Abends kulinarisch bedient wurden. Es bürgerten sich kleine Tische für vier oder zwei Personen ein, die auf einer Menükarte auswählen konnten, was sie besonders begehrten. Besonderen Wert legte man darauf, dass sich die Gäste erholen und gesund weiterziehen konnten. «Restaurer» führte denn auch zum neuen Namen.
In der Schweiz dauerte es rund 100 Jahre länger, bis sich Begriff resp. Phänomen durchsetzten. Das Spektrum an Formen blieb gross. Denn Cafes oder Brasserien gab es seit dem frühen 19. Jahrhundert: Sie hatten die Vorherrschaft der Weinkeller abgelöst. Nun vermischte sich alles die mit den Speiseangebot in Restaurants. Restaurants haben sich eigentlich im ganzen Stadtgebiet, also auch in den Quartieren durchgesetzt.
Typisch für Restaurants dieser Zeit sind im Berner Zentrum der Aeussere Stand, das Zimmermania, das Café fédéral oder das Café de Commerce. Alle hatten sie eine ausgesprochen politische Vergangenheit.

Bürgerliche und proletarische Oeffentlichkeiten
Namentlich die industrielle Arbeitswelt mit Frauenerwerbsarbeit bedingte zunehmend auswärtige Verpflegung. Während Kosthäuser für Arbeiter einer bestimmten Fabrik eingerichtet waren, standen die Speisewirtschaften nach 1850 für alle offen.
Aus dem gemeinsamen Kampf der gemeinnützige Frauenorganisationen und der Abstinenzbewegung gegen den Alkoholismus entstanden ab den 1890er Jahren die alkoholfreien Gaststätten. Auch die alkoholfreien Soldatenstuben des Schweizer Verbands Volksdienst , die Kantinen, Wohlfahrtshäuser und vegetarischen Gaststätten waren der Volksgesundheit verpflichtet.
In Bern zählt namentlich die «Spysi» in der Altstadt dazu.
Die soziale Differenzierung in Bürgertum und Arbeiterschaft in den Städten führte im frühen 20. Jahrhundert zu Gastwirtschaften in Bürgerhäuser mit gutbürgerlicher Küche resp. zu Volkshäusern mit einfacher Küche zu Volkspriesen. In Bern stehen dafür exemplarisch das “Bürgerhaus” an der Neuengasse, wo es einst auch ein grosses Restaurant gab, resp. das “Volkshaus 1914”, das seit 1893 existierte, in seinem Konzept aber mehrfach geändert wurde. Für für sie war, dass es das Gastgewerbe in weitere gesellschaftliche Tätigkeiten integrierte. Bis heute gewährt sie politischen Organisationen wie der FDP resp. der SP Platz.

Konsumangebote an Verkehrsadern
Die Anbindung an den öffentlichen Verkehr war für die Wirtshäuser im 20. Jahrhundert stets eine Erfolgsgarantie, brachte aber auch neue Konzepte mit sich-. Mit der Eisenbahn resp. Bahnhöfen verbunden sind Buffets, Speisewagen, neu auch Bistrobars und zirkulierende Minibars.
An Nationalstrassen kamen ab den 1960er Jahren Raststätten mit leichten Mahlzeiten, Schnellimbissen und Selbstbedienung auf. Dank der zunehmender Motorisierung der Nachkriegszeit eerleben auch ländliche Ausflugsrestaurants eine (Wochenend)Blüte.
In den letzten 50 Jahren setzten einheimische und ausländische Verpflegungsketten wie Mövenpick und McDonald’s den Trend zum Fastfood fort. Neue Dienstleistungsangebote wie der Party-Service und der Take-Away-Betrieb kamen hinzu. Stets standen Konsumbedürfnisse im Vordergrund, politische Identitäten bildeten sich hier nicht mehr aus.
Ein Gang durch das Untergeschoss des Berner Bahnhofs reicht, um zu verstehen, was gemeint ist.

Die Repolitisierung der Gastronomie als Teil der neue politischen Kultur
Nicht Quantität, sondern Qualität prägt den jüngsten Trends mit Spezialitätenrestaurants, die Emotionen vermitteln. Einst für Fisch oder Fondue reserviert, bietet man heute südländische, europäische und fernöstliche Gerichte ab. Globalität geht hier durch den Magen und schärft das Bewusstsein. Sie findet sich in neuen Treffpunkten für Kultur und Kunst, wo, wie in der “Reitschule” oder dem “Progr”, wieder heftig Politik gemacht wird. Das kulinarische Angebot ist multikulturell und trifft auf ein diversifiziertes, teils auch genderspezifisches Publikum.

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