Die Geburt der modernen Schweiz am 12. September 1848: Feierliche Ansprache am heutigen Festakt im Bundeshaus

Sehr verehrte Anwesende!
Liebe Schweizerinnen und Schweizer, werte Gäste aus dem Ausland
Die Schweizerische Bundesverfassung feiert heute ihren 175. Geburtstag. Sie wurde am 12. September 1848 von der Tagsatzung in Kraft gesetzt. Sie war die erste Verfassung, die sich die Schweiz selber gab.
Meine Damen und Herren aus dem Bundesrat, National- und Ständerat. Auch ihre Institutionen haben heute Geburtstag! Ohne die Bundeverfassung von 1848 gäbe es Sie wohl gar nicht!

Die Bundesverfassung von 1848 verlangte für den Nationalrat Volkswahlen in der ganzen Schweiz. Das Volk bestand zwar erst auf dem männlichen Stimmvolk. Aber dessen Beteiligung war der Durchbruch zu demokratischen Verfahren, die nun in allen Kantonen galten. Grosser Wahlsieger in beiden Kammern waren die Radikalen.

Die Parlamentsverhandlungen wurden am 6. November 1848 feierlich eröffnet. 155 Böllerschüsse weckten am diesem Morgen die Bundesstadt. Am Abend wurde gefeiert, und zwar so ausgiebig, dass die ordentliche Sessionseröffnung am Folgetag erst nachmittags möglich war.
10 Tage danach wählte die Bundesversammlung den Bundesrat. Radikale und liberale Politiker obsiegten. Konservative blieben aussen vor. Der erste Präsident, Jonas Furrer, war ein Liberaler und kam aus dem Kanton Zürich. Dafür sollte der Kanton Bern die Bundesstadt bekommen.

Man kann es auch so sagen: Die Einführung der Bundesverfassung und der so begründeten Institutionen waren ein Akt der Selbstbestimmung. Geboren wurde eine parlamentarische Republik in einem monarchistischen Europa.

Es gab Gründe, warum in der Schweizer gelang, was rund herum scheiterte: Grossbritannien stand uns 1848 bei. Die Schweiz wurde für den Sprung in die Industrialisierung fit gemacht. Realisiert wurden mit der Verfassung die Freiheitsideale der Aufklärung.
Zwingend war der damalige Erfolg nicht! 1832/33 war eine erste Bundesstaatsgründung an den inneren Widersprüchen gescheitert. 1848 war eine scharfe Polarisierung zwischen Weltanschauungen und Konfessionen vorangegangen. 1847 mündete diese in den letzten Bürgerkrieg auf unserem Staatsgebiet. Es obsiegten die eidg. Truppen über die des Sonderbunds.

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Nach dem Bürgerkrieg von 1847 übernahmen die radikalen und liberalen Kräfte fast überall die politische Führung. Sie bauten den Bundesstaat als Dach, unter dem die Kantone Platz fanden. Dazu wurde die Souveränität auf Bund und Kantone aufgeteilt. So entstand eine demokratische und föderalistische Republik nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika.

Eine Kommission der Tagsatzung übernahm die Vorbereitungsarbeiten an der Verfassung. Demokratisch gewählt war sie nicht. 23 Männer schufen in gut 50 Tagen und 31 Sitzungen das Grundlagenwerk der modernen Schweiz. Man stützte sich in vielem auf den Entwurf von 1832.
Geleitet wurde die Kommission vom Berner Regierungspräsidenten Ueli Ochsenbein. Er wurde auch Präsident der Verfassungskommission.

Die schwierigste Aufgabe bestand darin, die richtige Form für das neue Parlaments zu finden. Die Vorstellungen reichten vom französischen Einheitsstaat mit einem Parlament bis zur Fortsetzung der Tagsatzung als Organ der gewachsenen Schweiz.

Wie wir aus dem ausgezeichneten Buch «Stunde Null» des Journalisten Rolf Holenstein wissen, gelang der Durchbruch in der Nacht vom 22. zum 23. März 1848, als sich die meist liberalen Freisinnigen aus den katholischen Kantonen auf ein ausbalanciertes Parlament mit zwei selbständigen Kammern einigten. Die Radikalen lenkten anderntags mehrheitlich ein. Die zwei gleichberechtigten Räte sollten separat tagen, verhandeln und beschliessen können. Anderntags beschloss die Kommission dasselbe. Das war der entscheidende Kompromiss zwischen dem Demokratie- und dem Föderalismus-Prinzip.

Auch materiell setzt sich meistens die liberalen Ideen durch: Die Schweiz sollte wirtschaftspolitisch zu einem Binnenmarkt werden, bei dem die kantonalen Zollschranken fallen und ein Schweizer Franken als gemeinsame Währung dienen sollten.
Personenfreizügigkeit sowie Handels- und Gewerbefreiheit waren ein grosser Fortschritt.

15.5 Kantone stimmten schliesslich für die Verfassung, 6.5 dagegen. Die Opposition kam aus dem erweiterten Kreis der Sonderbundskantone. Um den Vertrag des Wiener Kongresses ausser Kraft zu setzen, hätte es allerdings Einstimmigkeit gebraucht. Doch die letzte Tagsatzung vom 12. September 1848 erklärte die neue Verfassung auch so für angenommen.
Das war ein Bruch mit Rechtstradition und dem geltenden Bundesvertrag. Es war eine eigentliche Revolution, – die einzige von 1848 übrigens, die zu einer dauerhaften Staatsgründung führte.

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1848 war nicht der Beginn der Schweiz. Aber es ein markanter Neuanfang. Der Historiker André Holenstein meint, es sei damals eine eher unwahrscheinliche Integration von rivalisierenden Einzelstaaten gelungen. Eben: eine Staatsgründung!
Die neue Demokratie war nicht perfekt. In Form der repräsentativen Demokratie setzte sie sich aber überall durch. Der Bundesvertrag von 1815 hatte noch fünf verschiedenen Regimes zugelassen: Landsgemeindekantone wie Appenzell Innerrhoden, Adelsrepubliken wie Luzern, Zensusdemokratien wie Thurgau, Föderationen wie Wallis, und mit Neuenburg hatten wir einen Kanton, der zu einer Monarchie gehörte.

Eine reife Demokratie wurden wir erst schrittweisse: Die erste Totalrevision von 1874 brachte Fortschritte wie die Gleichstellung der Juden bei den Freiheitsrechten, ein ständiges Bundesgericht und die direkte Demokratie, zuerst mit dem Referendums-, dann mit dem Initiativrecht.
Damit emanzipierten wir uns von der repräsentativen Demokratie nach US-Vorbild, wurden zu halbdirekten Demokratie. Im Parlament begannen Mehr- und Minderheiten mit einander zu verhandeln. Parteien entstanden und einiges von ihnen Bundesrat aufgenommen. Der Bundespräsident wurde vom politischen Anführer zum primus inter pares.

Das grösste Demokratiedefizit von 1848 waren die ausgebliebene politischen Rechte für Frauen. Niemand verlangte das damals auf Bundesebene; und im Ausland gab es keine Vorbilder, bis Neuseeland 1893 Wahlen, Abstimmungen und dem allgemeinen Erwachsenen-Wahlrecht einführte.
In der Schweiz dauerte das bis 1971. 10 Jahre später wurde auch der Grundsatz der gleichen Rechte in der Bundesverfassung verändert.

Trotzdem: Die Schweiz von heute wäre nicht möglich geworden, hätte sich der Sonderbund durchgesetzt, wäre Osterreich in Graubünden und Tessin einmarschiert resp. hätte Frankreich Genf und die Waadt militärisch besetzt.
Es brauchte die Kühnheit der Staatsgründer, aber auch die Vermittlung zwischen den Heissspornen. Die Bundeverfassung ist Ausdruck von beidem.
An der Fassade des Bundeshauses wurden zwei Gründungsdaten angebracht: 1291 als mythologischer Anfang und 1848 als moderner Neustart.
Es macht Sinn, sich am 12. September vor den Jubilaren National-, Stände- und Bundesrat die Geburt der modernen Schweiz zu feiern!

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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