“Die Willensnation ist tot.”

Interview mit 20 min, 23.9.23

Der Politologe und Historiker Claude Longchamp spricht im Interview über den Rösti- und andere Gräben – und beantwortet die Frage, wieso die Schweiz trotz aller kulturellen und sprachlichen Unterschiede nach wie vor zusammenhält.

Der Foie gras-Graben spaltet die Schweiz. Haben wir einen neuen Röstigraben?
Das wäre wohl etwas hoch gegriffen. Die Stopfleber ist ein emotionales Triggerthema wie der Wolf oder der Genderstern. Doch der Röstigraben ist ein Kind des Ersten Weltkriegs, das deutlich tiefer ging.

Trotzdem: Die Romands sind hässig.
Das dürfen sie auch, doch es wird sich wohl relativ schnell wieder legen, selbst wenn das Verbot mit einer Deutschschweizer Mehrheit durchkommt. Diese emotionalen Triggerthemen sorgen kurzfristig für Spaltung, doch damit daraus wirklich ein Graben entsteht, bräuchte es Organisationen oder Parteien, die das Thema langfristig beackern. Das sehen wir beim Thema Stopfleber nicht.

Gibt es den Röstigraben denn gar nicht mehr?
Er ist bei gewissen Abstimmungen noch sichtbar, zuletzt etwa bei der Masseneinwanderungs- und der Ausschaffungsinitiative. Typische Differenzen gibt es etwa auch bei der Frage nach sechs Wochen Ferien oder der Einheitskrankenkasse. Doch die tiefen Gräben in diesem Land verlaufen mittlerweile woanders.

Nämlich?
Beim Wolf oder bei der Zweitwohnungsinitiative sahen wir einen starken Stadt-Land-Graben. Und das grosse Triggerthema der letzten Jahre waren natürlich die Covid-Massnahmen. In der ersten Welle sahen wir noch viel Solidarität und Zusammenhalt, doch danach zerfiel das Land in zwei Lager: Absoluter und lückenloser Schutz um jeden Preis auf der einen, totale Ablehnung sämtlicher Massnahmen unter dem Deckmantel der individuellen Freiheit auf der anderen Seite.

Trotzdem kam die Schweiz einigermassen gut durch die Krise. Ist das die vielbeschworene Willensnation?
Schon Kaspar Villiger prägte den Satz: «Wir sind eine Willensnation ohne Willen.» Dieses Konzept ist noch älter als der Röstigraben. Ende des 19. Jahrhunderts ging man davon aus, dass die Konfession oder die Sprache zentrale Treiber für gemeinsame Identität waren. Die Schweiz bewies, dass eine Nation mit grossen sprachlichen und konfessionellen Unterschieden funktioniert, wenn ein starker gemeinsamer Wille da ist. Doch die Willensnation ist tot.

Wieso?
Die Schweiz ist geprägt von Individualismus. Spätestens Covid hat das gezeigt. Auch bei anderen grossen Themen wie der EU-Frage sind wir zerstritten. Viel gemeinsamer Wille ist da nicht mehr auszumachen.

Und doch funktioniert das Land.
Ja, und das nicht schlecht. Wir sind weit von amerikanischen Verhältnissen entfernt, wo es nur zwei Parteien und einen kaum zu überwindenden Graben dazwischen gibt. Das verdanken wir unserem politischen System. Die Parteien sind über die Sprachregionen hinweg aufgestellt. Der Bundesrat nimmt Rücksicht auf die sprachregionalen Vertretungen. Der Föderalismus gibt allen Sprachregionen Gewicht und bewahrt eine gewisse Selbstständigkeit. Man kann an einem Abstimmungssonntag problemlos zweimal gewinnen und dreimal verlieren und ein paar Monate später ist es wieder umgekehrt. Das führt zu einem gewissen Pragmatismus: Es funktioniert, auch wenn es bei Triggerthemen hin und wieder tätscht.

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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