Gemischte Gefühle.

Morgen startet meine Stadtwanderer-Saison 2022. Ich muss gestehen, meine Gefühle sind gemischt.

Zuerst freue ich mich unheimlich, weil eine ganze Reihe interessanter Herausforderungen mit neuen Themen und Führungen anstehen. Ich bin die letzten Wochen viele Stunden gewandert, um Neues zu entdecken. So zum Baeock in Bern.
Der Anfang morgen wird gleich ein Highlight sein: Für Regula Rytz lege ich zu ihrem 60. Geburtstag eine neue Fassung der Klimawandel-Wanderung in die Stadtbahn. Das ist mir eine große Ehre!

Dennoch habe ich Bedenken. Denn heute vor 29 Jahren bin ich schwer verunfallt. Der Fenstersturz bescherte mir viele Brüche beider Beine. Ich war danach im Rolllstuhl und musste wie ein kleines Kind wieder laufen lernen. Große Fortschritte stellten sich dank mirakulöses Medizin ein. Die ganze Mühsal von damals ging vergessen.

Nun plagen mich seit geraumer Zeit wieder Schmerzen im linken Bein. Das Fußgelenk, das Gewerbe, die Lymphbahnen sind beschädigt.
Und meine Gehfähigkeit lässt Stück für Stück nach. Schon zwei Stunden zu Fuß sind eine große Anstrengung.
Die Probetour für morgen musste ich letzten Mittwoch nach einigen Stationen ermattet aufgeben.

Es kann sein, dass 2022 meine letzte Saison als aktiver Stadtwanderer wird!

Die letzten zwei Jahre haben Corona-bedingt schon Änderungen gebracht. Meine regelmäßige Präsenz vor Ort ist geringer geworden. Mehr und mehr bin ich dafür nur noch im virtuellen Raum umhergezogen.
Das könnte auch die Zukunft sein: Ganz im Internet statt ganz in Bern!
Ich muss sagen, ich würde es schwer vermissen.

Ich nehme morgen nochmals richtig Anlauf! Ein knappes Dutzend Führungen bis Mitte Jahr sind fest gebucht. Und einen neues Projekt für eine nationale Demokratie-Wanderung in sieben Städten motiviert mich unheimlich, meine Entdeckungs- und Erzählust aufs Neue zu entwickeln.
Aber ich spüre meine Grenzen im er deutlicher.

Der Orthopäde, der mich damals operierte, meinte, es würde für 20 Jahre halten. Jetzt sind fast 30 Jahre daraus geworden. Das ist tröstlich.

Auf geht’s nochmals zu neuen Schritten!

Bild: Selfie mit Einstein, meinem wiederkehrenden Begleiter auf den Stadtwanderungen in Bern.

Der Balkon der Helvetischen Republik


Blick von und zum Balkon am Rathaus

Heute war der erste Drehtag für die siebenteilige Serie zur Demokratiegeschichte für Swissinfo.
Ich war mit Renat und Carlo von Swissinfo in Aarau, der ersten Hauptstadt der Schweiz überhaupt. Denn vor 1798 und dem revolutionären französischen Einfluss kannte man diese Institution in der Schweiz noch gar nicht.

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Hier clicken, um das Kurzvideo anzusehen

Auf diesem Balkon des Rathauses rief Peter Ochs aus Basel, der Autor der ersten Verfassung, unter Jubel der Aarauer Bevölkerung die neue Republik aus. Das war der Start zur Vorform der modernen Demokratie mit der Gewaltenteilung.
Der Versich scheiterte übrigens, und es brauchte zwei weitere Anläufe, bis sich 1848 dem Demokratie in der Schweiz dauerhaft etablieren konnte.
Hier eine spontan inszenierte Kurzfassung des Moments in Aarau.
Start der Serie bei Swissinfo in Text, Bild und Ton ist übrigens voraussichtlich am 21. März 2022.

Eröffnung der Stadtwanderer-Saison 2022

Von der Eiszeit zur Heisszeit.
Eine Klimageschichte anhand der Stadt Bern

Stadtwanderung zum 60. Geburtstag von Regula Rytz, Nationalrätin

Die Stadt Bern ist legendär 820 Jahre alt. Doch der Sporn, auf dem die heutige Altstadt steht, wurde mit dem Ende der Eiszeit vor 12000 Jahren freigelegt. In der Folge entwickelte sich im wilden Aaretal eine ausgedehnte See-, Fluss-, Auen- und Waldlandschaft.
Erstmals liessen sich vor 2300 Jahren keltische Stämme im Gebiet der heutigen Stadt nieder. Sie drängten den Urwald nur kleinflächig zurück. Die Römer übernahmen das, nannten den Ort Brenodor – und machten ihn kleiner.
Grossflächiger ging erst das Kloster Köniz ab dem 9. Jahrhundert vor. Mit dem Landesausbau rodeten sie den Wald erheblich. Die damalige Klimaerwärmung schaffte die Voraussetzung, Landwirtschaft zu treiben. Die ansässige Bevölkerung vermehrte sich.
1191 gründeten die Zähringer die Stadt Bern. Sie machten sie zum Durchgangsort auf dem Weg von Norden nach Süden. Und das junge Bern entwickelte sich auch nach ihrem Ableben prächtig.
Doch dann kam die Pest aus China. Der schwarze Tod dezimierte die Bevölkerung 1348/49 auch in Bern. Anna Seiler war die Heldin der Stunde und gründete ein Spital, in dessen Nachfolge das heutige Unispital steht.
Die Bauern verarmten und mit ihnen ging der Adel unter. In nur 70 Jahren dehnte die mittelalterliche Stadt ihr Herrschaftsgebiet auf ein Gebiet aus, das dem des heutigen Kantons Bern entspricht.
Die Umweltforschung kann zeigen, dass diese Herrschaftsbildung mit dem Beginn der kleinen Eiszeit vom 14. bis 19. Jahrhundert zusammenhängt. Klimabedingte Hungersnöte kehrten in der vorherrschenden Agrargesellschaft regelmässig zurück. Erst an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert begann die Stadt, systematisch Kornhäuser mit Vorräten anzulegen und die Landwirtschaft anzukurbeln.
Der Eisenbahnbau ab den späten 1850er Jahren brachte mit dem Kohletransport die entscheidende Wende zur Industriegesellschaft, aber auch zur Klimaerwärmung. Der Automobilismus der Nachkriegszeit mit günstigem Benzin veränderte Leben, Arbeiten, Wohnen und Einkaufen grundlegend und liess die Agglomeration Bern entstehen.
Es kommt die heutige Konsumgesellschaft mit ihrem Überfluss auf. Und der Klimawandel folgt auf den Fuss. Jetzt denken frau&mann über die Grenzen des Wachstums nach. An der Uni Bern entsteht das international renommierte Oeschger Centre for Climate Change Research.
Bern wird seit 1992 rotgrün regiert. Regula Rytz packt als Mitglied des Gemeinderats den politisch und klimatisch heissen Umbau des Bahnhofplatzes an. Ihr enthusiastischer Kampf als Nationalrätin gegen den Klimawandel trägt sie bis fast in den Bundesrat.
Stellen sich Wissenschaft und Politik hinreichend auf den Klimawandel ein? Das ist die brennende Frage meiner Klima-Stadtwanderung – diesmal speziell für Regula, die dieser Tage ihren 60. Geburtstag feiern darf.
Die Führung beginnt am 20. März 2022 um 11 Uhr beim Teich im Rosengarten. Sie geht rund 2 Stunden und endet auf der Grossen Schanze vor dem Uni Hauptgebäude. Danach gibt es für die exklusive Schar an Teilnehmenden ein Apéro.
Davor sind gute Schuhe gefragt, wenn wir uns den grossen Bogen von der Eiszeit der Vergangenheit zur Heisszeit der Gegenwart mit acht Stationen wandernd erschliessen.

Stadtwanderer

Hotspots der Schweizer Demokratie

Im Auftrag von Swissinfo schreibe ich ab sofort eine siebenteilige Serie zur Entwicklung der Schweizer Demokratie. Jede Stufe wird mit einer Stadt in Verbindung gebracht, die als Trendsetter wirkte.
Konkret vorgestellt werden:

1 Aarau, wo für kurze Zeit die erste Hauptstadt der modernen Demokratie 1798 war

2 Lugano, wo 1830 im Kanton Tessin die erste liberale repräsentative Demokratie errichtet wurde

3 Bern, wo seit 1848 der Parlaments- und Regierungssitz des Bundesstaates ist

4 Schaffhausen, wo 1874 die Einführung des fakultativen Referendums mit 97% die höchste Zustimmung fand.

5 Olten, wo 1918 der Landesstreik aus der liberalen eine soziale Demokratie machte

6 Neuenburg, wo in den 1960er Jahren erstmals eine Frau in einem kantonalen Parlament Einsitz nahm.

7 Genf, von wo Ruth Dreifuss, die erste Bundespräsidentin und Jüdin in der Landesregierung die inklusive Demokratie begründete

Die Teile erscheinen bei Swissinfo 10sprachig als multimediale Reportage zwischen März bis September 2022 und sollen die Schweizer Demokratie in der Welt bekannt machen.

Burger. Barock. Bourbonen. Eröffnungsrede zu meiner neuen Stadtwanderung 2022

Das ist die Eröffnungsrede zu meiner neuen Stadtwanderung. Sie heisst «Burger, der Barock und die Bourbonen.» Sie wird im April dieses Jahres ihre Premiere haben.
Mit der Führung geht um Bern zwischen 1650 und 1800. Die Rede wird vom Sandsteinen, von Baustilen, von Börsencraches, von Stadtpalästen, von vornehmen Damen und von hingerichteten Rebellen sein.


Burger, Barock und Bourbonen

Das Burgerspital
Wir sind hier im Innenhof des Burgerspitals. Die Burger sind die Führungsschicht von Stadt und Republik Bern seit 1651. Es gibt sie heute, obwohl sie durch französischen Revolutionäre und Berner Liberale politisch eingeschränkt wurden. Doch sie sind aufgrund ihres Besitzes an Häusern, Boden und Wald immer noch einflussreich.
Das Burgerspital wurde 1742 eröffnet, nahm Arme und Kranke auf und dient heute als Altersheim. Seit über 10 Jahren ist es auch ein Generationenhaus, das Jung und Alt zusammenbringt und neuerdings über eine Kita beherbergt. Und es ist der aktuelle Sitz der Burgergemeinde.
Hier lässt es sich gut leben, über Mittag friedlich chillen und auch Feste feiern. Ich habe hier meinen 60. Geburtstag mit 100 WegbegleiterInnen verbracht.

Die Bernburger
Die Stadt Bern wurde legendär 1191 durch die Herzöge von Zähringen gegründet. Sie gehörte zum damaligen Kaiserreich. 1353 wurde sie auch Teil der Eidgenossenschaft. Diese wurde 1648 im Westfälischen Frieden vom Kaiserreich ausgenommen.
Genau deshalb brauchte es die Burgergemeinde als neue Organisationsform. Das Rote Buch nennt 360 Familien, eingeteilt in verschiedenen Statusgruppen eingeteilt: in „Hochedelveste“ wie die von Erlach und von Wattenwyl, „Edelveste“ wie die May, „Veste“ wie die Frisching, „Liebe und Getreüwe“ wie die Haller. Von allen werden wir hören.
Ihre Vorherrschaft über die Stadt beendeten die Franzosen. 1803 wurden Stadt und Kanton durch die Mediationsaktegetrennt. Die alte Republik ging in den neuen Kanton über; der Regierungspräsident ist rechtlich der Nachfolger des Berner Schultheissen. Die Stadt selber erhielt neue Behörden, heute mit einem demokratisch gewählten Stadtpräsidenten an der Spitze der Stadtregierung. Aktuell ein Bernburger übrigens!

Der Barock
Der Barock umfasst die Kunstgeschichte Europas im 17. und 18. Jahrhundert. Er hat unter anderem die Architektur dieser Zeit geprägt. Besonders bekannt dafür ist das Schloss Versailles.
Man bringt den Barock häufig mit der Rekatholisierung Des Kontinents, mit dem Absolutismus der Monarchen, aber auch mit der Aufklärung in Verbindung.
Doch der Berner Barock ist anders. Er wird durch die Nüchternheit der Reformation bestimmt. Er ist weniger hart als die Herrschaft der Monarchen, eher porös wie der Berner Paternalismus. Und es findet sich hier auch kein Zentrum der Aufklärung, nur die moderate Kritik eines Albrecht von Hallers war hier zuhause.
Immerhin, auch hier kennt der Barock Variationen, wie wir sehen werden. Denn es gibt den sterilen Frühbarock, der prächtigen Hochbarock und den speziellen Regence-Stil.
Das Burgerspital hier rundherum ist schliesslich Berner Spätbarock.

Die Bourbonen
Die Bourbonen stellen heute noch die Könige in Spanien. In Frankreich regierten sie von 1589 bis 1792 ununterbrochen, und dann nochmals von 1814 bis 1830.
Henri IV. war der erste Bourbone auf dem französischen Thron. Bis heute ist er der einzige Calvinist, der in Frankreich König wurde. All seine Nachfolger waren dann katholisch.
Die Hugenotten, wie die Calvinisten auch genannt wurden, kamen auch nach Bern. Nach ihren Plänen wurden die Schanzen gebaut, ein Verteidigungswall gegen das katholische Frankreich. Gebracht wurden sie dafür nie, nur gegen aufmuckende Untertanen aus dem Bernbiet.
Unter Louis XIV. wurde die Eidgenossenschaft an Frankreich angebunden. Zwar respektierten unsere Nachbarn die Eigenheiten des Landes und die Sitten der Berner. Doch kontrollierten sie über Marktzugänge und Soldregimente die hiesige Politik. Viele Burgerfamilien wurden so reich.
Nur die Revolution haben die Berner:innen nicht mitgemacht, weshalb man 1798 in einen Krieg mit dem Revolutionären Frankreich geriet. Das sollte das Ende des alten Bern sein.

Und los!
Meine Stadtwanderung nimmt sich der rund 150 Jahre vom Ende des 30jährigen Krieges bis zur Französischen Revolution an. Lange blieb mir diese Epoche fremd. Ich zog die Zähringer, das Spätmittelalter und die Zeit der Bundesstadt vor.
Doch habe ich in den letzten Monaten überraschend den Weg zu ihr gefunden. Ich habe mich in den Sandstein verliebt. Und seine eigenen Feinheiten kennen gelernt. Daraus entstand diese Wanderung.
Es wird immer wieder um Fassaden gehen.
Ich verspreche, es wird auch um das Leben und Sterben davor und dahinter gehen.

Das ist die Stadtwanderung zu Bernburgern, ihrem speziellen Barock und die mächtigen Bourbonen. Und bei sovielen „B“s bleibt nur eins:

Brechen wir auf auf!

Tour de Suisse der Demokratiegeschichte

Heute war der vorletzte Tag, an dem mein GA gültig war. Da ich es nicht mehr erneuert habe, bin ich nochmals richtig Zug gefahren: Meine Stationen waren Zofingen, Luzern, Lugano, Arth-Goldau, Zürich und Bern.

Video hier anklicken IMG_7794

Mein eigentliches Ziel war die Piazza della Riforma in Lugano. Vor dem städtischen Rathaus habe ich das Video hier gedreht. Es handelt von der liberalen Verfassungsreform vom 7. Juli 1830. Sie etablierte erstmals in der der Schweiz aus eigenen Kräften eine repräsentative Demokratie. Und sie sollte die Erneuerungsbewegung zahlreicher Kantone auslösen, die schließlich den Durchbruch zum Bundesstaat bewirkte.
Im Herkunftskanton löste die Riforma allerdings einen 60 Jahre dauernden heftigen Konflikt zwischen klerikalen Konservativen und laizistisch gesinnten Radikalen aus. Gestürzte Regierungen und selbst Tote bei Wahlen kamen vor. Es brauchte gleich fünf Bundesinterventionen mit Vermittlern und Militär, bis eine Neuregelung der Machtverhältnisse gelang. Sie bestand 1891 darin, dass der Kanton als erster überhaupt ein Proporzwahlverfahren gleich für Parlament und Regierung einführte.

Meine Recherche vor Ort war nicht zufällig. Ich plane, diesen Frühling und Sommer eine Demokratiegeschichte zu schreiben, die aus sieben Stationen in sieben Städten bestehen wird. Sie soll zeigen, wie und wo in der Schweiz Demokratie erfunden und praktiziert wurde. So soll eine Tour de Suisse mit kleinen lokalen Stadtwanderungen entstehen.
Weitere vorgesehene Ort sind Aarau, Bern, Schaffhausen, Olten, Neuenburg und Genf. Allenfalls kommt noch Luzern dazu, Das Ganze wird vom März bis im September 2022 exklusiv bei Swissinfo erscheinen.

Das heute war das heute quasi der Probelauf für die Recherchen. Noch mit GA.
Das nächste Mal mit Halbtax. Aber Volldampf!

Stadtwanderer

Stadtwanderungen im ersten Halbjahr 2022

Freude herrscht! Bald beginnt die neue Saison des Stadtwanderers.

So sieht das Programm im ersten Halbjahr vorerst aus:

24. März 2022: Klimawandel, Läbigi Stadt
31. März 2022: Klimawandel, Feierabendtreff
20. April 2022 (provisorisch): Bern, Barock, Bourbonen. Bau- und Lebensstile im Alten Bern (Premiere, separate Ausschreibung folgt)
8. Mai 2022: Klimawandel, private Gruppe
14. Juni 2022: Medienplatz Fribourg/Freiburg, SRG Regionalgruppe
21. Juni 2022: Klimawandel, private Gruppe

Interessierte Gruppen für weitere Führungen (Demokratie, Lobbying, Jugend&Politik) melden sich bitte via DM auf meinen Stadtwanderer-Konto.

Und noch dies: Dieses Jahr kommt eine Innovation hinzu. Ich werde meine Demokratieführung in Bern zu einer gesamtschweizerischen Tour ausbauen, mit sieben wichtigen Station der Demokratiegeschichte an sieben verschiedenen Orten. Mehr dazu bis Ende Monat.

Stadtwanderer

Neue Stadtwanderung: Bern, der Barock und die Bourbonen

Ganz neue Stadtwanderung: Baustilgeschichte der Berner Altstadt – gespickt mit viel Börsennachrichten und Gesellschaftsklatsch.


Foto: Barbora Neversil

Spricht man von der Berner Altstadt, meint man entweder die (spät)gotischen Teile ums Rathaus resp. ums Münster. Oder es geht um die barocken Gebäude, beginnend mit dem heutigen Käfigturm und endend mit dem Zytgloggenturm, wie man ihn heute kennt. Dazwischen entstanden wichtige Häuser wie die Fischer-Post, das Béatrice von Wattenwyl-Haus, das Kornhaus, der Erlacherhof, die Burgerbibliothek oder das Hotel de Musique im barocken Stil.

Die Nachbarschaft Berns zu Frankreich
Der Berner Barock ist viel nüchterner als der europäische. Der Sandstein und die Reformation trugen das ihre dazu bei. Dennoch entwickelte er sich im 17. und 18. Jahrhundert prächtig. Er vereinte typische bernische und französisch inspirierte Architektur.
Das hat mit der Lage Berns und Frankreichs zu tun. Das Haus der Bourbonen stellte von 1574 bis 1792 ununterbrochen die König. Zuerst war es der einzige Calvinist auf dem Thron, dann die unerbittertsten Gegnern der Hugenotten. Dabei stiess Frankreich nach Osten vor, wurde Berns Nachbar und stieg mit einem gewaltigen Kolonialreich zu einer Weltmacht auf.
Die Beziehungen zu Bern sind in dieser Zeit sehr eng. Trotz unterschiedlichem Glauben ist man eng miteinander militärisch verbunden, staatsphilosophisch verwandt und via Geld vielfältig aufeinander anwiesen. Sei 1663 haben Frankreich und die Eidgenossenchaft eine erneuerten Staatsvertrag, der uns Zugang zu Märkten, Frankreich zu Soldheeren bringt.

Licht und Dunkel im Ancien Régime
Die ausgeschafften Hugenotten aus Südfrankreich sind die erste grosse Flüchtlingskrise in Bern mitten in der kleinen Eiszeit. Der Reichtum aus dem Soldhandel macht Teile des Patriziats so korrupt, dass der Aemterkauf durch die Vergabe durch das Los abgestellt werden muss. Der Spanische Nachfolgekrieg anfangs des 18. Jahrhunderts zwischen Frankreich und dem Kaiser bringt haufenweise Tote in bernische Familien, deren Jung an beide Seite verkauft wurden und sich gegenseitig die Köpfe einschlugen. Die Wirtschaftsblase von 1720, die in Paris (und London) platzt, führt zum abrupten Ende des blühenden Berner Privatbankenplatzes. Schliesslich lösen die Staatsschulden von König Louis XVI. die französische Revolution aus, die auch das Ende des Ancien Régimes in Bern bringt.
Trotz diesen jähen Einschnitten in der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik der Stadt und Republik Bern blüht der Neubau der heutigen Altstadt mit zahlreichen, prächtigen Privathäuser, Stadtschlössern und Repräsentationsbauten, die bis heute das Bild der Altstadt erheblich mitbestimmen.

Die neue Stadtführung
Wie das alles zusammenhängt, erzähle ich in meiner neuen Stadtführung “Bern, Barock und Bourbonen”. Besonders geeignet ist sie für Interessierte in Baugeschichte, aber auch an Gesellschaftsklatsch aus dem Alten Bern.
Momentan übe ich fleissig, im Home-Office und vor Ort. Wenn die Pandemie einmal vorbei sein soll, starte ich mit dem jüngsten Spross in meiner Stadtwanderer-Familie.
Ich hoffe, es wird spätestens im April 2022 soweit sein.

Stadtwanderer

Meine Stadtwanderungen 2022

Das erwartete Interessierte an meinen Stadtwanderungen 2022 (sobald die Pandemie besiegt ist)!

Klimageschichte Berns
Von der Entstehung Alpen bis zum Oeschger Centre for Climate Change Research (2h)

Jugend&Politik
Die fünfhundertjährige Beziehung zwischen Rebellen, Schützlingen, aufgeklärten Damen, utopischen Studenten, Nonkonformisten und Jugendparlamentarierinnen und dem Staat in Bern (2h)

Bern, Barock und die Bourbonen
Licht und Schatten in Berns 17. und 18. Jahrhundert. Architekturgeschichte mit Gesellschaftsklatsch

Geschichte der (direkten) Demokratie
Wie aus der aristokratischen Patrizierhochburg die Bundesstadt der Schweizer Demokratie wird (1h 30)

Ueli Ochsenbein, unser Verfassungsvater
Die steile Karriere im jungen Bundesstaat und das jähe Ende des ersten Berner Bundesrats (1 h 30)

Lobbying im Bundesstaat
Wie die Interessenvertretung in den letzten 40 Jahren das Berner Regierungsviertel unterwandert hat (1 h 45)

Interessierte melden sich via DM bei mir. Keine Einzelanmeldungen. Nur Gruppen zwischen 6 und 24 Personen. Konditionen nach Absprache.

Besuch in meiner Heimatgemeinde

Ich war heute in Assens, Kanton Waadt. Das ist seit 2009 meine Heimatgemeinde, hervorgegangen aus einer Fusion. Damals löste sich das Nachbardorf Malapalud auf, mein eigentlicher Heimatort.


Bild links: Kirche aus dem 13. Jahrhundert, heute mit dem Hahn, Bild rechts: Kirche aus dem 19. Jahrhundert, heute mit dem Kreuz

Malapalud
Malapalud ist ein lateinischer Name, der sich aus “mala”und “palud” zusammensetzt und ausgedeutscht ein schlechter Sumpf ist. Und die Longchamps sind die Lengsfelder – ein Flurname, der für ein abgelegenes Feld verwendet wurde.
Hintergrund der beiden Namen ist die Aktion der Berner, die sie nach 1536 einführten. Unter Schultheiss Hans-Franz Nägeli waren sie bestrebt, die jungen Untertanen vom Solddienst für das päpstliche Italien abzuhalten. Dafür offerierten sie die Möglichkeit, ein Stück Land im Gros-de-Vaud zu bekommen, wenn man es davor entwässerte.
So entstand Malapalud, dem wohl schlechtesten Sumpf der Region, der von den Leute bewirtschaftet wurde, die man ohne grosse Identität Langfelder nannte.
Ich war vor 45 Jahren erstmals in Malapalud. Die Gemeinde hatte eben dem 20jährigen zur Volljährigkeit gratuliert, ihm aber gleichzeitig mitgeteilt, zu arm zu sein, um mich bei einer allfälligen Armengenössigkeit unterstützen zu können.
Ich beschloss, den Ort zu besuchen. Mit dem Auto angekommen, begrüsste man mich skeptisch. Man sei gegen Strassen, hiess es. Beim Syndic, der gerade auf einem Miststock stand, stellte ich mich vor: “Je m’appelle Longchamp!” – “C’est rien special ici”, erhielt ich barsch zurück. Wir fanden uns doch noch!
Das kleine Bauerndorf lebte damals von der Pferdezucht und einem Zugezogenen, der das Gemeindebudget alimentierte.
Heute zählt der Weiler Malapalud 100 EinwohnerInnen. Kaum jemand heute ein Pferd, dafür stehen viele Einfamilienhäuser entlang der Strasse.
Dennoch ist man keine selbständige Gemeinde mehr. Vielmehr gehört man administrativ zum benachbarten Assens.

Assens
Die Fusionsgemeinde Assens zählt heute rund 400 EinwohnerInnen. Das Auffälligste im Dorf sind zwei Kirchen, nur 100 m von einander entfernt.
Die ältere Kirche, im gotischen Stil gebaut, ist seit 1228 bezeugt und gehörte dem Bistum Lausanne.
Die bernische Reformation setzte sich in Assens kaum durch. 1619 entschied sich die Gemeinschaft, trotz verschiedenen Glaubensbekenntnisse eine paritätische Kirchgemeinde zu sein. Katholiken und Reformierte sollten die gleiche Kirche abwechslungsweise nutzen dürfen.
Selbst die Tagsatzung musste sich damit beschäftigen. Denn es war weit herum die einzige Institution dieser Art. Deshalb kamen sonntags selbst die Katholiken aus Lausanne ins 25 Kilometer entfernte Assens. Unter ihnen war auch kein geringerer als der Genfer Jean-Jacques Rousseau, der konvertiert war und, als er in Lausanne wohnte, regelmässig nach Assens pilgerte.
Die Einvernehmlichkeit der Konfessionen verschlechterte sich allerdings im 19. Jahrhundert, als Assens ein fester Teil des reformierten Kantons Waadt wurde. Der verstaatlichte die Kirchengüter vorerst rigoros.
Die Katholiken mussten nachziehen, weshalb heute zwei Gotteshäuser in der Gemeinde, das alte für die Reformierten, und eine neue für die Katholiken.
Soweit ich das beurteilen kann, ist das genau ein Gebäude mehr als es im Dorf für das einzige Restaurant braucht!

Echallens
Nun hat der katholische Hintergrund der Gemeinde Assens seine historische Bewandtnis. Denn das nahe gelegene Echallens, seit jeher ein Verkehrsknotenpunkt mit Strassen von Ost nach West und Nord nach Süd, war im 15. Jahrhundert burgundisch. Der Graf von Macon verwaltete es als Vasall für den Herzog von Burgund.
Als dieser im Burgunderkieg 1474-1477 gegen die Eidgenossen verlor, mussten die Berner und Freiburger Echallens und Umgebung wieder aufbauen, durften es aber als gemein(sam)e Herrschaft behalten. Die umliegenden Ländereien, die meist savoyisch waren, mussten sie aber zurückgeben.
Da setzten die Berner nach 1536 die Reformation erfolgreich durch. In den ehemalig burgundischen Gebieten rund um das katholische Echallens scheiterten sie allerdings weitgehend.
Nur die Befriedung der Bauern gelang ihnen, dank ihrem Entsumpfungsprojekt im Gros-de-Vaux.

Was (mir) bleibt
So blieben meine burgundischen Vorfahren bis heute katholisch. Auch ich bin es noch, wenn auch eher ein Kulturkatholik als ein überzeugter Kirchgänger.
Wirtschaftlich arrangierten sich meine Vorfahren schon früh mit dem reformierten Bern, das sie von der Leibeigenschaft befreite und sie zu Untertanen mit eigenem Land machte.
Das verteidigen die Leute mitten im Gros-de-Vaud noch heute selbstbewusst – als patriotische WaadtländerInnen, die sich aber nicht mehr umkehren, wenn man mit dem Auto und einem fremden Nummernschild vorfährt.

Besuch der Ruine Gerenstein (in Berns Nähe)

Am 2. März 1298 gewann die Reichsstadt Bern die Schlacht am Dornbühl gegen das habsburgische Freiburg. In der Folge zerstörte Bern die Burgen des feindlichen niederen Adels in ihrer eigenen Nähe, so auch die des Freiherren von Gerenstein auf dem Gebiet von Bolligen. Ortsbesichtigung und Geschichtsrekonstruktion.

Die Oertlichkeit
Zweigt man von der Hauptstrasse zwischen Bolligen und Krauchtal ab, um die Ruine Geristein, wie sie heute heisst, zu besuchen, steht man zuerst vor einem imposanten Felsen mit einem grossen Loch. Steigt man dann zur Ruine hoch, erkennt man den Sandstein, der den Felssporn bildet. Er ist porös ist und bröckelt, wo er nicht von Erde bedeckt wird. Der letzte Teil ist steil, übe eine nur schlecht gesicherte Treppe erreichbar.
Oben angekommen sieht man noch Teile eines ritterlichen Rundturms, die immer noch seine savoyische Gestalt verrät.


Was geschah nach den Zähringern
Wie kam es dazu, dass die Burg vor 732 Jahren geschleift wurde? Um das zu verstehen, muss man tief ins 13. Jahrhundert eintauchen. In der Geschichtsschreibung spricht man auch von der Zeit der “Anarchie der Adeligen”, weil sie gerade im Mittelland so häufig in wechselnden Koalitionen gegeneinander kämpften.
Alles beginnt mit Bern und Freiburg. Beide Städte waren von den Herzögen von Zähringen gegründet worden. Nach deren Aussterben 1218 entwickelten sie sich aber unterschiedlich. Das sollte man auch in Gerenstein zu spüren bekommen.
Freiburg, 1157 auf Zähringer Gebiet gebaut, gehörte zum herzoglichen Erbe, das an die Grafen von Kyburg (bei Winterthur) ging. 1277 kam die Stadt an die Habsburger, zwischenzeitlich Könige im Reich.
Bern war auf Reichsgebiet gebaut worden, das beim Aussterben der Herzöge an den Kaiser ging. Er machte Bern zur Reichsstadt, die ihm direkt unterstand. Doch verstarb Friedrich II. 1250, sodass Berns Status unsicher wurde,
Die Kyburger hätten Bern gerne eingenommen, doch die Grafen von Savoyen, mächtig aufgestellt in der Waadt, verhinderten dies, indem sie sich schützend über die verwaiste Reichsstadt stellten.

Berns burgundische Eidgenossenschaft
Zur ihrer weiteren Sicherung entwickelte Bern weitere Beziehungen, burgundische Eidgenossenschaft genannt. Dazu gehörten Bündnisse mit der Stadt Biel und dem Reichsland Hasli.
Genau das missfiel König Rudolf von Habsburg. 1288 versuchte er die Stadt Bern einzunehmen, blieb aber erfolglos. Erst ein Jahr später gelang dies seinem Sohn, ebenfalls Rudolf genannt.
Bern kam dennoch nicht zu Habsburg, musste aber dem König eine hohe Kriegssteuer bezahlen.
Das führte zu einer grossen Krise. Schultheiss Ulrich von Bubenberg wurde 1293 abgesetzt. Dafür stützte Bern den Grafen Adolf von Nassau, der 1292 zum Nachfolger von Rudolf von Habsburg neuen König gewählt wurde. Er bestätigte der Stadt den bisherigen Status.
Doch blieben die Habsburger die Rivalen im Reich. Im Lokalen erhöhte das die Spannungen zwischen Bern und Freiburg. Mittels Fehde kämpfte man um die Vormachtstellung im Sense-Saane-Raum, der mit den Reichsburgen Gümmenen, Laupen und Grasburg von hoher Bedeutung war.


Reichsgebiete und Adelsherrschaften um 1291 auf dem Gebiet der heutigen Schweiz (Quelle: Historischer Atlas der Schweiz, 2021)

Die Schlacht am Dornbühl
Daraus entstand die Schlacht am Dornbühl. Den Namen hat sie vom dornenhaltigen Hang, auf dem das Treffen stattfand. Es reichte von den Toren im Westen der Stadt bis ins heutige Oberwangen Richtung Flamatt.
Bern wurde bei der Schlacht von den Städten Solothurn und Biel unterstützt, auch von den Grafen von (Neu)Kyburg resp. von Aarberg. Selbst das Hasli stand auf ihrer Seite.
Ihr gegenüber waren die Stadt Freiburg, die Grafschaften von Neuenburg und Greyerz, die savoyische Waadt und zahlreiche deren Gefolgsleute, die sich teils kurzfristig auf die Bern-feindliche Seite begeben hatten.
Unbekannt ist die Zahl der Beteiligten resp. Toten. Nur Ulrich von Erlach kennt man als Heerführer der siegreichen Berner.

Die weiteren Folgen
Dafür weiss man, dass Bern nach der Schlacht in die Offensive ging. Sie zerstörte sofort drei Burgen von Kleinadeligen in ihrer nahen Umgebung: die
. des Freiherrn von Belp-Montenach und des Freiherrn von Gerenstein, die beide zu Savoyen gehalten hatten, und
. die des Ritters von Wangen, der zu Freiburg gestanden war.
Bern übernahm auch die Kirchenrechte in Muri, Bolligen, Stettlen und Vechigen. Damit sicherte man sich Verbindungswege nach Burgdorf und ins Haslital. Man kann das auch als Beginn der städtischen Territorialpolitik sehen.
Schliesslich verstärkte sich Bern mit einem kleinen Städtebund, das nun nebst Biel auch Solothurn und Murten umfasste.
Beendet waren die Spannungen mit Freiburg allerdings nicht. Denn König Adolf von Nassau noch 1298 mit Albrecht von Habsburg einen Gegenkönig und verstarb kurz danach. Bis weite ins 14. Jahrhundert blieb das ursprünglich freundschaftliche Verhältnis zwischen den beiden Zähringerstädten kriegerisch.

Das Ende der Freiherren von Gerenstein
Ohne Burg fanden die Freiherren von Gerenstein ein rasches Ende. Sie sollen bereits anfangs des 14. Jahrhunderts ausgestorben gewesen sein.
Ihre Ruine wurde von Bolligen übernommen, später an weltliche und kirchliche Adelige verkauft, bis sie 1528 bei der Säkularisation durch die Reformation an Bern kam.
1975 wurde die Ruine restauriert, und seither ist sie ein beliebter Ausflugsort im Nahgebiet von Bern.
So auch für @neverbar und den @stadtwanderer_ am heutigen Bärzelistag 2022, wie man in Bern dem Berchtoldstag sagt. Er soll ja auch an den Stadtgründer Berchtold V. von Zähringen erinnern.

Berns Steine

Es ist ein schön gemachtes Doppel-Buch. Die kleinere Ausgabe ist ein Wanderführer mit zahllosen Stationen und Kurzbeschreibungen. Die grössere trägt den Untertitel «Basisband» und enthält eine Geschichte der Steine, mit denen die Stadt Bern gebaut wurde. Erschienen sind die beiden Bände 2018 im Hauptverlage. Aufmerksam wurde ich durch ein Weihnachtsgeschenk allerdings erst jetzt.

Die Gründungsstadt
In der Gründungsstadt von 1191 wurde noch viel mit Holz gebaut. Steingebäude waren selten. Dazu zählten die Zähringerburg und die Leutkirche, der Vorgängerbau des heutigen Münsters. Wohl waren auch die ersten Klöster aus Stein.
Nach dem Stadtbrand von 1405 kamen das Rathaus und ab 1421 das Münster hinzu. Und es folgten im 15. Jahrhundert die ersten Bürgerhäuser aus Stein.
Im Buch von Toni Labhart und Konrad Zehnder steht dazu: «Von zentraler Bedeutung war von Anfang an der Berner Sandstein, der ideal den Bedürfnissen einer mittelalterlichen Stadt entsprach: Es gab in unmittelbarer Stadtnähe grosse, für die Anlage von Steinbrüchen geeignete, flach gelagerte Vorkommen, die sich mit den technischen Mitteln jener Zeit leicht abbauen liessen.»

Der Bauboom im 18. und frühen 19. Jahrhundert
Doch erst das 18. Jahrhundert kam es zum eigentlichen Bau-Boom. Denn da kamen wichtige Repräsentationsbauten des patrizischen Ancien Regimes hinzu. Ausdrücklich porträtiert werden im Wanderband unter anderem das Kornhaus, die Heiliggeistkirche, das Rathaus zum Aeusseren Stand, der Erlacherhof oder das Hotel de Musique.
Mit dem 19. Jahrhundert wuchs der Verkehr und damit die Notwendigkeit des Brückenbaus. Allen voran geht es da um Nydeggkirche, von 1840 bis 1844 erstellt. Sie steht für den Uebergang. Denn wegen der Grösse des mittleren Rundbogens über der Aare hätte sie eigentlich ganz aus Granit gebaut werden müssen.
Doch der begehrte harte Stein fehlte, denn man hatte die Findlinge aus der Umgebung bereits weitgehend verarbeitet. So sind nur 10 Prozent der Brücke aus Granit; drei Viertel bestehen aus Sandstein, der letztlich nicht wetterfest ist. Deshalb musste die Brücke 1988 umfassend saniert werden.

Die Wende mit dem Bahnhof und der Eisenbahn
Im Buch «Steine Berns» dreht sich Vieles um die grosse Wende im Bauwesen, welche der erste Bahnhofbau 1860 auslöste. Mit der Eisenbahn wuchs vor allem die Fähigkeit zum Transport. Und damit setzte die Abwendung vom einheimischen Baumaterial ein. Steintransporte aus der weiteren Umgebung, ja aus dem Ausland setzten ein. So wurde der Münsterturmbau mit süddeutschem Stein fertig gebaut, und bei der Dreifaltigkeitskirche verwendete man Steine aus Italien.
Namentlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden zahlreiche Bauten für die neue Bundesstadt. Zu den bekanntesten zählen unter anderem der Bernerhof, der Bundeshaus-Komplex, die SBB Generaldirektion, das Telegrafengebäude (heute Haus der Kantone), das Historische Museum, die Dreifaltigkeitskirche, das Stadttheater und das Universitätsgebäude. In der Art des Historismus oder des Jugendstils gebaut, setzen sie sich von klassischen Sandsteinbauten vor allem an den Fassaden ab, sodass sie Wind und Wetter besser Stand hielten.

Globalisierung des Baumaterials
Wie in andern Städten auch hat verlor der Naturstein als Baumaterial im 20. und erst recht im 21. Jahrhundert stark an Bedeutung. Ersetzt wurde er nun durch Backstein, Beton, Stahl und Glas. Geblieben ist der Sandstein nur noch als dekorative Verkleidung von Fassaden moderner Gebäude. Das hat auch damit zu tun, dass die Eidgenossenschaft das Bauen mit lokalen Gesteinen weitgehend aufgab. Ausnahmen sind das DEZA-Hauptgebäude und die «Titanic 2».
Selbst in Friedhöfen verliert sich die Tradition, mit einheimischen Steinen zu gedenken. Denn die Gesteinswahl erfolgt neuerdings gefühlsmässig, wobei Marmor und kristalline Gesteine dominieren. Und nach einem Vierteljahrhundert ändert sich wieder fast alles, da die Grabsteine ersetzt werden.

Konservierung des herkömmlichen Baumaterials
Das Buch beschreibt das alles als Ambivalenz zwischen Globalisierung und Konservierung. Das zeige sich am besten in der Altstadt. Die Obere Altstadt ist einem rasanten Wandel unterworfen mit ziemlich zufällig ausgewähltem Gesteinsmaterial. Denn der weggefallene Distanzschutz beim Materialeinkauf hat die Art und Weise des Bauens diversifiziert.
Auf der anderen Seite steht die untere Altstadt, in der dank Bauvorschriften die alte Bauweise erhalten bleibt. Die Aufnahme der Stadt ins UNESCO Weltkulturerbe habe «zu sorgsamen Umgang mit dem steinernen Erbe beigetragen», schreiben die Autoren. Und damit den konservativen Grundton im Berner Stadtbild gestärkt.

Meine Empfehlung
Ich bin ganz begeistert vom neuen Buch. Es hat mir schon zahlreiche Einblicke in das Erscheinungsbild der Stadt, das ich kannte, eröffnet, weil es Bekanntes in einen höchst interessanten grösseren Rahmen stellt.
Noch vor kurzem hätte ich nicht geglaubt, dass Steine eine so gut sichtbare Geschichte erzählen.

Toni Labhart, Konrad Zehnder: Steine Berns. Exkursionsführer und Basisband. Haupt Verlag, Bern 2018.

Letzte Stadtwanderung dieses Jahr – diesmal zum Klimawandel

Morgen geht die Saison 2021 des Stadtwanderers zu Ende. Sie war reich befrachtet und arg durchbrochen. Denn Corona funkte immer wieder dazwischen. Dafür fand ich auch Zeit, neue Wanderungen zu entwickeln.


Grafik anclicken um sie zu vergrössern

Klimawandel als runner
Die wichtigste Neuerung betrifft die Führung zum Klimawandel am Beispiel der Stadt Bern. Seit diesem Frühsommer war ich an verschiedenen Orten in der Stadt unterwegs, recherchierte viel im Internet und erstellte in den schwedischen Wäldern eine langes Manuskript dazu.
Seither habe ich die Führung in Varianten ein halbes Dutzend Male durchgeführt. Und ich bin sicher, es gibt auch 2022 eine Fortsetzung (erste Anmeldungen habe ich schon).

Abteilung Internationales des BAFU dabei
Auf der letzten Führung begleitet mich die Abteilung Internationales des Bundesamtes für Umwelt. Das Spannendste daran: An der letzten Station, unmittelbar vor dem OeschgerCentre der Uni Bern, mache ich einen Ausblick auf die Erwartungen zum Klimawandel, wie sie uns UmweltphysikerInnen zuhanden der Politik präsentieren. So diente der 6. Sachbericht des Weltklimarats, der diesen Sommer erschien, als Basis für die Klimakonferenz in Glasgow vor einem Monat. Und meine Mitwandernden war teils direkt dabei!
Ich freue mich auf den Gedankenaustausch danach – selbst wenn es etwas kalt sein dürfte.

Das Programm
Davor behandeln wir auf dem Rund durch die Stadt die folgenden Themen
. Rosengarten: Epochen der Kultur- und Erdgeschichte: die kurze und die lange Zeit
. Einsteinbank über der Stadt: Raum und Zeit im Stadtbild entdecken oder was der Sandstein damit zu tun
. Untertorbrücke: Die Zivilisation entsteht: Gletscherschmelze, Wendelsee, Aare und erste Siedlungen der Kelten und Römer im Wald
. Nydeggkirche: Der Landesausbau und die grossen Rodungen: Bern als Teil der Stadtgründungswelle während der mittelalterlichen Warmphase
. Rathaus: Kalt und nass: Agrarkrisen, Pest und der Aufstieg der Stadt Bern zum mächtigen Stadtstaat
. Zwischen Kornhaus und Französischer Kirche: Hexenverfolgungen, Flüchtlingsströme und Auswanderungen angesichts der kleinen Eiszeit
. Bahnhofplatz: Kohle, Erdöl, Atomkraft – oder die Industrialisierung, die Modernisierung der Landwirtschaft und der hohe Energieverbrauch
. Grosse Schanze: Die Risikogesellschaft wird sich ihrer Stärken und Schwäche bewusst und sucht die Klimawende mit offenem Ausgang
Ich hoffe, wir erwärmen uns gut. Heisse Tee-Stationen sind eingeplant!
Claude Longchamp

12 Bücher, die mich in diesem Jahr begleitet haben

Die langen Nächte werden bereits wieder kürzer und die Tage dauern länger – es ist Zeit, Bücherbilanz zu ziehen. Anbei zwölf Bücher vorwiegend zur Schweiz, die mich 2021 je eine Weile lange begleitet haben. Mein ganz persönlicher Querschnitt durch die zahlreichen Neuerscheinungen im Jahre 2021!

Roger der Weck: Die Kraft der Demokratie. Eine Antwort auf die autoritären Reaktionäre. Erweiterte Taschenbuchausgabe. Suhrkamp, Berlin 2021.

Urs Bieri et al.: Digitalisierung der Schweizer Demokratie. Technologische Revolution trifft auf traditionelles Meinungsbildungssystem. vdf, Zürich 2021.

Weissbuch Corona. Die Schweiz nach der Pandemie. Befunde – Erkenntnisse – Perspektiven, hgg. von Frank Rühli und Andreas Thier. NZZ Libro, Zürich 2021.

Paul Schneeberger, Joris van Wezemael: Dezentralschweiz. Wie uns Corona sesshafter macht und was das für unsere Lebensräume bedeutet. Edition Hochparterre, Zürich 2021.

Dirk Schütz: Milliardäre. Zehn Superreiche – und die grosse Frage: Macht Geld glücklich?, Beobachter Edition, Zürich 2021.

Auf lange Sicht. Daten erzählen Geschichten, hgg. von Marie-José Kolly und Simon Schmid. hep Verlag, Bern 2021.

Clive H. Church, Randolph C. Head: Paradox Schweiz. Eine Aussensicht auf ihre Geschichte. Uebersetzt aus dem Englischen von Peter Jäger, Chronos Verlag, Zürich 2021

Jeder Frau ihre Stimme. 50 Jahre Frauengeschichte (1971-2021), hgg. von Denise Schmid. Hier & Jetzt Verlag, Zürich 2021.

Projekt Schweiz. Vierundvierzig Porträts aus Leidenschaft, hgg. von Stefan Howald. Unionsverlag, Zürich 2021.

Walter Hauser: Anna Göldi – geliebt, verteufelt, enthauptet. Der letzte Hexenprozess und die Entdämonisierung der Frau. Limmat Verlag, Zürich 2021.

Therese Bichsel: Anna Seilerin. Stifterin des Inselspitals. Roman Zytglogge Verlag. Basel 2020.

Christian Pfister, Heinz Wanner: Klima und Gesellschaft in Europa. Die letzten tausend Jahre. Haupt Verlag, Bern 2021.

Es bleibt mir, viel Musse beim Lesen und gesunde Festtage zu wünschen!

Stadtwanderer, aka Claude Longchamp

Was vor meiner Pensionierung ansteht?

Die letzten zwei Monate war für mich sehr ereignisreich. Der schöne Herbst hat das Stadtwandern wieder belebt. Das Ende des shutdowns brachte einen Nachholbedarf an “inhouse”-Auftritten. Die nächsten Monate werden ruhiger werden. Ich bin froh darum. Denn langsam, aber sicher nähert sich mein 65. Geburtstag, das Datum, an dem ich AHV-Bezüger werde.

Trotzdem werde ich nicht ganz stillsitzen. Das ist mein vorläufiges Programm bis dann:

22.11.2021 “Geschichte und Zukunft der Bundesratswahlen”. Referat vor der neu gegründeten Historiker:innen-Kommission der Bundeskanzlei
13.11.2021 Video-Kolumne für Nau: Radikalisierung der Covid19-Gegnerschaft?
28.11.2021 “Kommentierung der eidg. Volksabstimmungen” für BlickTV
30.11.2021 “Was die Wahlforschung über Wählende weiss”, Gastvortrag an der Berner Fachhochschule
30.11.2021 (provisorisch): Podium mit Roger de Weck zu seinem Buch “Die Kraft der Demokratie” in Bern
1.12.2021 Stadtwanderung zum Klimawandel für den Kongress des Schweiz. Nationalfonds
16.12.2021 Stadtwanderung zum Klimawandel für BAFU, Abt. Internationales
5.2.2022 “Parteienfinanzierung in der Schweiz: Stand, Probleme und Lösungen”, Referat am Parteitag der SP Schweiz
12.2.2022 “Kommentierung der eidg. Volksabstimmungen” für BlickTV
18.2.2022 Workshop zu meinem Forschungsseminar “Prognosen von Volksabstimmungen” am Institut für Politikwissenschaft der Uni Bern, gleichzeitig das Ende meiner dannzumal 33jährigen Uni-Karriere …
11.3.2022 Politforum Thun: Gespräch “Politik@Medien” mit Franz Fischlin, SRF

Im Frühling: Weitere Stadtwanderung zum Klimawandel, u.a. für Läbigi Stadt. Ich werde auf www.stadtwanderer.ch darüber berichten!

Claude Longchamp, Beinahe-Pensionär

PS: Es kommen fast sicher noch einige Auftritte hinzu. Ich kann so schlecht Nein sagen, am schlechtesten bei Stadtwanderungen …

Das doppelte Bondo due

BAFU Direktorin Kathrin Schneeberger in Bondo/Bregaglia

Am 31. August 2017 krachte der Berg. Die Nordflanke des Piz Cengalo fiel in die Tiefe. Doch blieb der Stein nicht wie meist auf dem Gletscher liegen. Vielmehr schmolz ein Teil des Eises unter dem Druck, sodass viel Stein und Wasser ins Tal gleichzeitig donnerten.
Bondo im Bergell war am meisten betroffen. Doch auch andere Ortsteile der Fusionsgemeinde Bregaglia litten. 8 Personen, die wandernd unterwegs waren, wurden ganz begraben.

Die erinnerte Katastrophe
Fast auf den Tag genau vier Jahre nach dem Ereignis, das national bemerkt wurde, fand heute der erste Spatenstich für das Projekt Bondo II statt. Der Schutz vor Naturkatastropen soll damit verbessert werden.
BAFU-Direktorin Kathrin Schneeberger (Bild) und der Bündner Regierungspräsident Mario Cavigelli waren vor Ort, um mit dem amtierenden Gemeindepräsidenten von Bregaglia den Startschuss zu geben. Denn Gemeinde, Kanton und Bund teilen sich in die Kosten von rund 43 Mio CHF – gelebter Föderalismus könnte man sagen!
Einen sicheren Zusammenhang mit dem Klimawandel kennt man nicht. Doch ist klar, dass die erhöhten Sommer-Temperaturen dem Permafrost zugesetzt und Bergstürze erleichtert haben. Ob auch die plötzliche Gletscherschmelze damit zusammenhängt, muss noch geklärt werden.

Die vergessene Katastrophe
Die grösste Katastrophe im Bondo war allerdings 1621, also just vor 400 Jahren. Damals wurde das ganze Dort eingeäschert. 428 Häuser verschwanden.
1618 waren die Bündner Wirren ausgebrochen. Die konfessionelle Spaltung war der Hintergrund. Das Bergell war bereits 1552 von Verona aus reformiert worden und gemeinsam dem neuen Glauben beigetreten.
1618 brauch auch der 30jährige Krieg mit einer europäischer Dimension aus. Auslöser war den berühmte Festersturz in Prag. Böhmen, dann Dänemark, später Schweden und am Ende auch Frankreich stellten sich gegen den Kaiser. Auch da ging es anfänglich um den richtigen Glauben.
Dem benachbarten Herzogtum Mailand, streng katholisch und unter spanischer Herrschaft, das reformierte Leben im benachbarten Bergell gar nicht. Eine spanische Truppe intervenierte 1621 und zerstörte Bondo ganz. Über die Zahl der Opfer weiß man bis heute nichts Genaues.
Nationalrätin Anna Giacometti (FDP), während des Bergsturzes von 2017 Gemeindepräsidentin, erzählte mir, sie wisse, dass es damals eine Katastrophe gegeben habe. Dokumente oder Erinnerungsorte gäbe es aber in Bondo nicht. In der Schule habe man dazu nie etwas erfahren. Auch sonst werde leider nicht darüber geredet.

Zwei Neuanfänge
Bondo II meint also nicht nur das Leben mit den verstärkten Schutzmaßnahmen. Bondo due ist auch das zweite Leben der Gemeinschaft nach der Dorf-Zerstörung von 1621.

Bild: Barbora Neveršil

Aktiver Herbst 2021: Mein Programm

Corona-bedingt ist dieses Jahr vieles in den Herbst verschoben worden. Jetzt hoffe ich, dass alles realisiert werden kann.


Bild: Aargauer Zeitung

Hier mein Programm:

September
8. September: Stadtwanderung “Demokratie” mit SP-Bundesangestellten
13. September: Input-Referat an Fachtagung “Europa” der Grünen Schweiz
14. September: Stadtwanderung “Ochsenbein, Verfassungsvater” mit BR Karin Keller-Sutter
15. September: Rede zu “Parteiisch oder parteilos?” am Fest “Politik, Kultur, Sprot”, Wald (SG)
16. September: Kursmodul “Regierungskommunikation” an der Berner FH (mit Sarah Genner)
17. September: Rede “Standortbestimmung”, Mitte St. Gallen
22. September: Stadtwanderung “Klimawandel” für Läbigi Stadt, Bern (1. Runde)
24. September: Beginn Forschungsseminar “Abstimmungsprognosen” an der Uni Bern (alle 14 Tage)
26. September: Analyse eidg. Abstimmungen für BlickTV

Oktober
18. Oktober: Stadtwanderung “Die Niederlande in Bern” für SP Stadt Bern
19. Oktober: Laudator am Swiss RE Milizpreis
23. Oktober: Referat “Stadt und Land”, Strategietag VCS
25. Oktober: Stadtwanderung “Murten” für Parlamentsdienste
27. Oktober: Stadtwanderung “Klimawandel” für “Läbigi Stadt”, Bern (2. Runde)

November
22. November: Einleitungsreferat “Bundesratswahlen: gestern, heute, morgen”, Historikerkommission der Bundeskanzlei
28. November: Analyse eidg. Abstimmungen für BlickTV

Bild Aargauer Zeitung

Stadtwanderung zum Klimawandel: Das neue Buch zum Thema “Klima und Gesellschaft”, Haupt-Verlag

Wie Klimawandel, Bevölkerungsentwicklung, Agrarproduktion und Verschwörungstheorien zusammenhängen, erhellt ein neues Buchs aus dem renommierten Berner OeschgerCentre.

Vor wenigen Tagen erschien das neue Buch «*Klima und Gesellschaft in Europa». Es ist ein eigentlicher Meilenstein in der historischen Klimatologie Europa, die mit der der Wirtschafts-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte unseres Kontinents verknüpft wird.
Verfasst haben es der Historiker Christian Pfister und der Geograph Heinz Wanner. Beide waren bekannte Professoren an der Uni Bern und sind ausgewiesene Fachleute in ihrem Gebiet. Heute forschen sie am renommierten Berner OeschgerCentre für Klimawandel.
Die Grafik gibt die relevanten Entwicklungen wieder, die das Buch nachzeichnet. Sie beziehen sich auf Temperaturen, Gletscher, Bevölkerung, Agrarproduktion, Wahrnehmungen der Witterung und Einzelaspekte.

Sechs zentrale Ergebnisse
Was lernen wir so? Das 400seitige Buch ist nicht einfach zusammenzufassen. Herausgegriffen seien hier sechs Punkte aus der Bilanz.
Erstens, das Wetter war immer wieder veränderlich. Die kältesten Jahre im letzten Jahrtausend waren 1077, 1364, 1573 und 1830. Dagegen war 1290 der wohl wärmste Winter überhaupt. Der wärmste Sommer war vermutlich 1947.
Zweitens, Sommertemperaturen und Winterniederschläge beeinfluss(t)en die Gletscherentwicklungen. Auffällige Rückzüge sind um 1260, 1420 und 1560 bekannt. Grosse Vorstösse registrierte man zwischen 1640 bis 1725. «Jahre ohne Sommer» gab es immer wieder. 1816 ist das bekannteste überhaupt. Hauptursache waren wiederkehrende Vulkanausbrüche mit Folgen für die Temperatur, die zurückging.
Drittens, einen ersten systematischen Schub des Bevölkerungswachstums registrierte man ab 1170. Er dauerte bis ans Ende des 13. Jahrhunderts. Heute geht man davon aus, dass sowohl technologischen Neuerungen wie auch Klimaschwankungen entscheidend waren. Ein zweiter Schub war zwischen 1530 und 1560, nun vor allem klimatisch und durch verbessertes Saatgut bedingt. Wendepunkte zum Schlechten in der Bevölkerungsentwicklung waren zuerst die 1340er Jahren. Erheblich waren in der Folge die Preisstürze für Getreide. Sie begünstigten die rasche Ausbreitung der Pest. 1571 brach wetterbedingt eine grosse Hungersnot aus. Auch sie war der Anfang einer langen klimatischen Abkühlung. Krieg und Seuchen im 17. Jahrhundert verringerten die Bevölkerungszahlen weiter.
Viertens, im 18. Jahrhundert beginnt sich die Bevölkerungsentwicklung vom Klima abzukoppeln. Erwähnenswert sind drei Modernisierungen der Landwirtschaft als Ursachen: die organische Modernisierung mit Düngungen; die mechanische Modernisierung mit der globalen Arbeitsteilung in der Industriewelt; und die technologische Modernisierung mit günstige Fossilenergie, neuen Pflanzensorten und dem massiven Einsatz von Pestiziden. Das verbesserte die Unabhängigkeit der Demografie vom Klima wurde durch einschneidende Weltkriege gebrochen..
Fünftens, Wetter und Klima wurden in den 1000 Jahren verschieden wahrgenommen. Animistische, religiöse und rationalen Konzepte überlagert sich. Ab dem 15. Jahrhundert mobilisierte namentlich die katholische Kirche mit Hexenprozessen eigentliche Verschwörungstheorien. Sie waren namentlich in Phasen der klimatischen Abkühlung wirksam. 40-60000 Frauen fielen ihnen zum Opfer. Erst die Aufklärung beendet diese «Schauer»märchen.
Sechstens, der Staat selber wurde ab der Mitte des 17. Jahrhunderts aktiv, um das Bevölkerungswachstum zu heben. Seuchenbekämpfungen zählen dazu, aber auch Heiratsförderungen und Armenbekämpfungen. Das verringerte die Sterblichkeit und trug zum Wachstum der Bevölkerung bei.

Was ist heute aus alledem geworden? Die Geschichtsschreibung beton seit längerem die Dreiteilung der letzten Jahrhunderts, wenn es um klimatische Einflüsse gibt: das warme Hochmittelalter, das kalte Spätmittelalter samt der Neuzeit, und die warme Gegenwart. Neu ist, dass die Autoren die kleine Eiszeit bis ins 20 Jahrhundert dauern lassen. Erst die letzten 30 Jahren haben eine beschleunigte Erwärmung der Temperaturen gebracht.
Das neue Buch folgert: Wir seien auf der einen Seite vom Diktat des Klimas befreit worden. Auf der anderen Seite würden wir zunehmend Opfer des neuen Klimas, das der Mensch bestimmt.
Schon die erste Durchsicht hat meine Ueberlegungen für die kommende Stadtwanderung zum Thema beeinflusst. Vieles sehe ich nun deutlicher. Ich werde vieles berücksichtigen.
Man kann gespannt sein!

Christian Pfister, Heinz Wanner: Klima und Gesellschaft in Europa- Die letzten 1000 Jahre. Hauptverlag, Bern 2021

Stadtwanderung zum Klimawandel 6. Station Restaurant zum “Goldenen Schlüssel”: Wetterextreme und Klimawandel

Ganz alte Häuser in der Berner Altstadt sind selten. Das Rathaus ist von 1415. Auch das Münster stammt aus dem 15. Jahrhundert; fertig gestellt jedoch erst im 19. Jahrhundert.
Das Restaurant zum «Goldenen Schlüssel» rühmt sich, die älteste Gaststube der Berner Altstadt zu sein. Man schätzt ihr Alter auf ein halbes Jahrtausend. Es hat die Französische Besatzung 1798 erlebt, den Konfessionsfrieden von Aarau 1712, den Bauernkrieg 1653 und die Reformation 1528.
Und war schon ein Restaurant, als das Jahr ohne Wasser war.


Bilder: 1. Bild “1540”, 2. Bild “1816”

Das Jahr ohne Wasser
1540 gilt meteorologisch als Ausnahmejahr. 300 zeitgenössische Chroniken aus Europa und der Schweiz berichten einheitlich von einer ausserordentlichen Dürre. KlimahistorikerInnen rechnen übereinstimmend mit 11 Monaten, während denen es kaum oder gar nicht regnete. Selbst die Klimawissenschaft spricht von Megadürre und Jahrtausendsommer.
Christian Pfister von der Uni Bern beschreibt die Ausnahmesituation so: „Die Temperatur lag fünf bis sieben Grad über den Normalwerten des 20. Jahrhunderts, verbreitet muss die Temperatur im Hochsommer über vierzig Grad geklettert sein. Unzählige Waldgebiete in Europa gingen in Flammen auf, beißender Rauch trübte das Sonnenlicht, im ganzen Sommer 1540 wurde kein einziges Gewitter registriert. Schon im Mai wurde das Wasser knapp, Brunnen und Quellen fielen trocken, die Mühlen standen still, die Leute hungerten, das Vieh wurde notgeschlachtet. In Europa starben im Jahr 1540 schätzungsweise eine halbe Million Menschen, die meisten von ihnen an Durchfallerkrankungen.»
Angefangen hatte es 1539 in Südeuropa. In Spanien betete man, Gott möge es endlich regnen lassen. Italien kannte während des ganzen Winters von 1539 zu 1540 Temperaturen wie sonst im Juli.
Ausgelöst wurde das Ganze durch ein ungewöhnlich stabilen Hochdruckgebiet, das die atlantische Luft blockierte. Europa erwärmte sich, während dem in Russland ein anhaltendes Schauerwetter mit tiefen Temperaturen herrschte.
2016 erschien eine Studie, gemäss der eine Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent besteht, dass es 1540 sogar wärmer war als 2003. Für uns ist das das der unvergessliche Jahrhundert-Sommer mit Temperaturen von mehr als 40 Grad Celsius.
Doch es gibt auch Unterschiede. Damals war das Ereignis ein Phänomen von 1 bis 3 Jahre je Region. 1542 ist in der Schweiz als kältester Sommer des bisherigen Jahrtausend bekannt.
Deshalb stören sich die Klimaforschenden heute auch nicht, dass 1540 mitten in der kleinen Eiszeit war. Es war eine krasse Anomalie, kein Klimawandel.

Das Jahr ohne Sommer
Das pure Gegenteil erlebte die halbe Welt übrigens 1816. Betroffen waren insbesondere der Nordosten Amerikas und der Südosten Europas.
Berichtet wird von schweren Unwettern mit ganzjährigem Schnellfall selbst in mittleren Lagen von 800m über Meer. Auch in der Schweiz schneite es im Juli an fast allen Tage bis in tiefe Lagen. Im ganzen Alpengebiet gab es katastrophale Ueberschwemmungen. Ernteausfälle waren verbreitet. Der Getreidepreis stieg, insbesondere in Schweiz.1817 zahlte man für Korn das Dreifache – vergleichen mit 1815.
Hungersnöte brachen vor allem in den Voralpen aus. Man soll da die «unnatürlichsten, oft ekelhaftesten Sachen gegessen haben, um den Heißhunger zu stillen, berichtet ein Chronist. Selbst Kinder habe man wie Schafe weiden sehen, um zu essen.
Zudem brachen Seuchen wie Typhus aus. Die Uebersterblichkeit stieg. In der Schweiz soll sie 20% über dem Mittel betragen haben.
Zeitgenossen bemerkten eine verbreitete Endzeitstimmungen. Man sprachen von «Achtzehnhundertunderfroren».
Die Ursache ist hier klarer. In Indonesien brach im April 1815 der Vulkan Tambora aus. Er wird als heftiger eingestuft, denn der des Vesuvs 79 nach Christus, als im Golf von Neapel die Stadt Pompeij in nur einem Tag unterging.
Rund um Tambora herum starben 1815 70000 Menschen. Ausgeworfen wurden 150 km3 Staub und Asche. Sie legten sich als Schleier um den Erdball. Der so ausgelöste Temperatursturz war bis 1819 beobachtbar.
Nicht zufällig gilt das Jahrzehnt von 1811 bis 1820 als das kälteste seit der Eiszeit überhaupt.

Einige Learnings
Was lernen wir hier?
Erstens, Extremwetter gab es in der Geschichte immer wieder.
Zweitens, Extremwetter haben erdgeschichtliche oder meteorologische Gründe.
Drittens, Extremwetter wirkten sich meist nur einige Jahre aus.
Viertens, erst das gehäufte Auftreten von Extremwetterlagen sind ein Zeichen für eine Klimawandel.
Heute sagt man, anhaltende Verschiebungen über mindestens 30 Jahren sind die Voraussetzungen für die Verwendung von Klimawandel.
Weder 1540 noch 1816 war das so. Wetterextreme verdichten sich erst seit 30 Jahren, werden wir noch kennen lernen.
Bilder: 1. Bild “1540”, 2. Bild “1816”

Stadtwanderung zum Klimawandel 5. Station: die kleine Eiszeit, die Pest und das Berner Rathaus

Wir schreiben das Jahr 1348. Die Pest erreicht die Stadt Bern von Süden her. Es war seit acht Jahrhunderten die erste Pandemie in unserem Gebiet.
Niemand weiss bis heute, wie viele Menschen damals krank wurden und starben.
Aus dem etwas grösseren Genf berichtet man, dass es bis zu 60 Tote pro Tag alleine in der Rhonestadt waren. Im Wallis besagen Schätzungen, dass an zentralen Stellen wie dem Kloster St. Maurice bis zu 30 Prozent starben.

Die globale Pandemie aus China
Die Weltgeschichte weiss heute, dass der Ursprung der grossen, spätmittelalterlichen Pest im entfernten China in den 1330er Jahren war.
Mit dem sog. Mongolensturm breitete sich die Krankheit innert einem Jahrzehnt bis ans Schwarze Meer aus. Bei der Eroberung der Stadt Kaffa setzen die Mongolen erstmals Bio-Waffen ein. Sie katapultierten von der Pest Verstorbene über die Mauern in die Stadt, um sie gefügig zu machen.
Wer konnte, der floh. Dazu gehörten auch die italienische Händler.
Doch so verschleppten sie die ausgebrochene Pest in die Hafenstädte des Mittelmeers. Von da aus drang die Seuche nach Norden, auch ins Gebiet der heutigen Schweiz.

Die erste Pest-Theorie und ihre Folgen
Man nahm damals an, dass die Fäulnis im Körper über die Nahrung oder die Luft in das Innere des Menschen gelangte. Massnahmen waren der Aderlass und verschiedene Brechmittel. Gesicht und Hände wurden zudem mit Essigwasser desinfiziert.
Die erste Pest-Theorie formulierte der italienische Arzt Gentile die Foligno. Er schrieb, krankmachende Ausdünstungen seien vom Meer und Land in die Luft gezogen, erhitzt und weiter verteilt worden. Alles habe am 20. März 1345 begonnen.
Werde der Pesthauch von Menschen eingeatmet, verdichte er sich in Herz und Lunge zu einer Giftmasse, zerstöre die Organe und werde durch Atmung auf Familienmitglieder und Nachbarn übertragen.
Vom schwarzen Tod befallene Menschen wurden vom Dr. Schnabel, Aerzten mit Masken, meist isoliert und hoch gelagert, damit nicht weitere Menschen krank wurden. Ihre verlassenen Räume wurden stark durchlüftet, massiv befallene Orte ganz verlassen. Später versuchte man, durch Schaffung von Plätzen die Luftzirkulation in den engen mittelalterlichen Städten zu verbessern.

Religiöse Proteste und jüdische Sündenböcke
Die Pest ist ein epochaler Einschnitt. Sie schwächte, wer bisher das Sagen gehabt hatte: den Kaiser und die Kirche. Die spätmittelalterliche Krise beginnt.
Namentlich entlang der Städte machten sich schon gegen das Ende der Pestwelle religiöse Bewegungen breit. Sie wurden Geissler genannt, denn sie peitschten sich vor den Toren demonstrativ aus, um ihre Reue zu zeigen, sündhaft gelebt zu haben. Denn es war Gott, der die Menschen mit der Pest bestrafe, lehrten sie. Wer sich auf einen besseren Weg aufmachen wolle, solle ihnen folgen.
Sündenböcke waren vor allem die Juden, die sich als Geldleiher in den Städten einen teils umstrittenen Namen gemacht hatten. Im besseren Fall wurden sie in die Verbannung geschickt, im schlechteren auf Scheiterhaufen verbrannt. Davon versprach man sich Reinigung.

Bern in der Pestzeit
In Bern dauerte die Pest bis Ende 1349. Ganz verschwand sie in der Eidgenossenschaft erst in den 1660er Jahren.
Im 14. Jahrhundert kannte man eine Reihe der genannten Erscheinungen auch hier. So wurden die Juden mehrmals als Schuldige angeklagt, ausgewiesen und verbrannt.
Der Kern des Inselspitals wurde kurz danach gegründet. Anna Seilerin war die Spitalstifterin, die bis heute mustergültig für die Pflege von Kranken in Bern steht.
Der Flächenstaat entsteht
Die Bevölkerungsgrösse erreichte den Stand vor der Pest erst im 15. Jahrhundert wieder. Erst dann begann die die Gründungsstadt auch flächenmässig wieder wachsen.
Schnell angewachsen waren dafür die Untertanengebiete ausserhalb der Stadt. Um 1420 hatte sie ein Umland geschaffen, das der heutigen Grösse des Kantons Bern entsprach. Zu dieser Zeit starben auch die mächtigen Grafen von Kyburg aus, einst die Nachfolger der Zähringer. Trotz Verkäufen von Städten wie Thun und Burgdorf an Bern konnten sich die Kyburger ihren totalen Niedergang nicht verhindern.
Das Rathaus und sein Platz werden gebaut
Das Gegenteil sieht man bis heute in der Stadt Bern. Zu den Anomalien der Altstadt Bern gehört der Platz rund um das Rathaus. Das aus Stein gebaute Rathaus selber grenzte sich früh von den vorwiegend aus Holz erstellten und eng ineinander verschachtelten Häusern der Gründungsstadt.
Der Platz, auf dem wir hier stehen, musste erst erstellt werden. Er war die die damalige Stadt einmalig. Er hat zunächst repräsentative Funktionen. Doch könnte das auch eine Folge des Städtebaus nach der Pest gewesen sein.

Zwei Entwicklungswege
Bern wurde 1415 von König Sigismund zur Reichsstadt erhoben. Man hatte nun einen Sitz im Reichstag, gleich wie der kirchliche und weltliche Adel. Man konnte selber über Leben und Tod der Stadtbewohner und Untertanen entscheiden, und man war frei, Krieg zu führen und zu beenden.
Genau nach der Pest beginnt aber auch der politische Plan B der Stadt: die eidgenössische Politik. 1415 eroberten die Städte Bern. Luzern und Zürich das Verbindungsstück entlang von Aare und Limmat, das den Habsburgern mit ihrer Stammburg in Brugg gehörte. Der neue Bund verfügte erstmals über ein geschlossenes Territorium im Mitteland. Geführt wurde er von einer Tagsatzung, welche die neuen Untertanengebiete verwaltete.
Der Aufstieg Berns in den ersten Jahrzehnten nach der Pest ist eindrücklich.

Alles im Schatten der kleinen Eiszeit
Doch bleibt die Frage, was das alles mit dem Klimawandel zu tun hat?
Die Pest wurde nicht durch den Klimawandel ausgelöst. Ihre Ausbreitung gerade in unserem Gebiet wurde aber durch die Klimaabkühlung begünstigt. Ab 1342 berichten die Quellen plötzlich von stark zunehmenden Regenfällen. Die Ernten gingen zurück. Die Bevölkerung hungerte. Die Pest verschlimmerte die bereits vorhandene Krise.
Die Klimaforschung weiss heute, dass es nicht nur eine vorübergehende Laune des Wetters war. Es war ein epochaler Klimawandel, denn das Klima kühlte sich erstmals seit der Völkerwanderung wieder langfristig ab. In Zyklen strebte das der bisher kältesten Zeit zwischen 1850 und 1860 zu, weshalb die Geschichte von der Kleinen Eiszeit.

Die Neuzeit meldet sich an
Das Ende der mittelterlichen Warmphase brachte auch das Ende der Stadtgründungswelle aus dem 12. Jahrhundert. Nur werden auf dem Gebiet der Schweiz fast 500 Jahre keine neuen Städte mehr entstehen. Erst die Industrialisierung wird ein warmes, ja heisses Klima bringen. Und neue Städte.