Stadtwanderung zum Klimawandel 5. Station: die kleine Eiszeit, die Pest und das Berner Rathaus

Wir schreiben das Jahr 1348. Die Pest erreicht die Stadt Bern von Süden her. Es war seit acht Jahrhunderten die erste Pandemie in unserem Gebiet.
Niemand weiss bis heute, wie viele Menschen damals krank wurden und starben.
Aus dem etwas grösseren Genf berichtet man, dass es bis zu 60 Tote pro Tag alleine in der Rhonestadt waren. Im Wallis besagen Schätzungen, dass an zentralen Stellen wie dem Kloster St. Maurice bis zu 30 Prozent starben.

Die globale Pandemie aus China
Die Weltgeschichte weiss heute, dass der Ursprung der grossen, spätmittelalterlichen Pest im entfernten China in den 1330er Jahren war.
Mit dem sog. Mongolensturm breitete sich die Krankheit innert einem Jahrzehnt bis ans Schwarze Meer aus. Bei der Eroberung der Stadt Kaffa setzen die Mongolen erstmals Bio-Waffen ein. Sie katapultierten von der Pest Verstorbene über die Mauern in die Stadt, um sie gefügig zu machen.
Wer konnte, der floh. Dazu gehörten auch die italienische Händler.
Doch so verschleppten sie die ausgebrochene Pest in die Hafenstädte des Mittelmeers. Von da aus drang die Seuche nach Norden, auch ins Gebiet der heutigen Schweiz.

Die erste Pest-Theorie und ihre Folgen
Man nahm damals an, dass die Fäulnis im Körper über die Nahrung oder die Luft in das Innere des Menschen gelangte. Massnahmen waren der Aderlass und verschiedene Brechmittel. Gesicht und Hände wurden zudem mit Essigwasser desinfiziert.
Die erste Pest-Theorie formulierte der italienische Arzt Gentile die Foligno. Er schrieb, krankmachende Ausdünstungen seien vom Meer und Land in die Luft gezogen, erhitzt und weiter verteilt worden. Alles habe am 20. März 1345 begonnen.
Werde der Pesthauch von Menschen eingeatmet, verdichte er sich in Herz und Lunge zu einer Giftmasse, zerstöre die Organe und werde durch Atmung auf Familienmitglieder und Nachbarn übertragen.
Vom schwarzen Tod befallene Menschen wurden vom Dr. Schnabel, Aerzten mit Masken, meist isoliert und hoch gelagert, damit nicht weitere Menschen krank wurden. Ihre verlassenen Räume wurden stark durchlüftet, massiv befallene Orte ganz verlassen. Später versuchte man, durch Schaffung von Plätzen die Luftzirkulation in den engen mittelalterlichen Städten zu verbessern.

Religiöse Proteste und jüdische Sündenböcke
Die Pest ist ein epochaler Einschnitt. Sie schwächte, wer bisher das Sagen gehabt hatte: den Kaiser und die Kirche. Die spätmittelalterliche Krise beginnt.
Namentlich entlang der Städte machten sich schon gegen das Ende der Pestwelle religiöse Bewegungen breit. Sie wurden Geissler genannt, denn sie peitschten sich vor den Toren demonstrativ aus, um ihre Reue zu zeigen, sündhaft gelebt zu haben. Denn es war Gott, der die Menschen mit der Pest bestrafe, lehrten sie. Wer sich auf einen besseren Weg aufmachen wolle, solle ihnen folgen.
Sündenböcke waren vor allem die Juden, die sich als Geldleiher in den Städten einen teils umstrittenen Namen gemacht hatten. Im besseren Fall wurden sie in die Verbannung geschickt, im schlechteren auf Scheiterhaufen verbrannt. Davon versprach man sich Reinigung.

Bern in der Pestzeit
In Bern dauerte die Pest bis Ende 1349. Ganz verschwand sie in der Eidgenossenschaft erst in den 1660er Jahren.
Im 14. Jahrhundert kannte man eine Reihe der genannten Erscheinungen auch hier. So wurden die Juden mehrmals als Schuldige angeklagt, ausgewiesen und verbrannt.
Der Kern des Inselspitals wurde kurz danach gegründet. Anna Seilerin war die Spitalstifterin, die bis heute mustergültig für die Pflege von Kranken in Bern steht.
Der Flächenstaat entsteht
Die Bevölkerungsgrösse erreichte den Stand vor der Pest erst im 15. Jahrhundert wieder. Erst dann begann die die Gründungsstadt auch flächenmässig wieder wachsen.
Schnell angewachsen waren dafür die Untertanengebiete ausserhalb der Stadt. Um 1420 hatte sie ein Umland geschaffen, das der heutigen Grösse des Kantons Bern entsprach. Zu dieser Zeit starben auch die mächtigen Grafen von Kyburg aus, einst die Nachfolger der Zähringer. Trotz Verkäufen von Städten wie Thun und Burgdorf an Bern konnten sich die Kyburger ihren totalen Niedergang nicht verhindern.
Das Rathaus und sein Platz werden gebaut
Das Gegenteil sieht man bis heute in der Stadt Bern. Zu den Anomalien der Altstadt Bern gehört der Platz rund um das Rathaus. Das aus Stein gebaute Rathaus selber grenzte sich früh von den vorwiegend aus Holz erstellten und eng ineinander verschachtelten Häusern der Gründungsstadt.
Der Platz, auf dem wir hier stehen, musste erst erstellt werden. Er war die die damalige Stadt einmalig. Er hat zunächst repräsentative Funktionen. Doch könnte das auch eine Folge des Städtebaus nach der Pest gewesen sein.

Zwei Entwicklungswege
Bern wurde 1415 von König Sigismund zur Reichsstadt erhoben. Man hatte nun einen Sitz im Reichstag, gleich wie der kirchliche und weltliche Adel. Man konnte selber über Leben und Tod der Stadtbewohner und Untertanen entscheiden, und man war frei, Krieg zu führen und zu beenden.
Genau nach der Pest beginnt aber auch der politische Plan B der Stadt: die eidgenössische Politik. 1415 eroberten die Städte Bern. Luzern und Zürich das Verbindungsstück entlang von Aare und Limmat, das den Habsburgern mit ihrer Stammburg in Brugg gehörte. Der neue Bund verfügte erstmals über ein geschlossenes Territorium im Mitteland. Geführt wurde er von einer Tagsatzung, welche die neuen Untertanengebiete verwaltete.
Der Aufstieg Berns in den ersten Jahrzehnten nach der Pest ist eindrücklich.

Alles im Schatten der kleinen Eiszeit
Doch bleibt die Frage, was das alles mit dem Klimawandel zu tun hat?
Die Pest wurde nicht durch den Klimawandel ausgelöst. Ihre Ausbreitung gerade in unserem Gebiet wurde aber durch die Klimaabkühlung begünstigt. Ab 1342 berichten die Quellen plötzlich von stark zunehmenden Regenfällen. Die Ernten gingen zurück. Die Bevölkerung hungerte. Die Pest verschlimmerte die bereits vorhandene Krise.
Die Klimaforschung weiss heute, dass es nicht nur eine vorübergehende Laune des Wetters war. Es war ein epochaler Klimawandel, denn das Klima kühlte sich erstmals seit der Völkerwanderung wieder langfristig ab. In Zyklen strebte das der bisher kältesten Zeit zwischen 1850 und 1860 zu, weshalb die Geschichte von der Kleinen Eiszeit.

Die Neuzeit meldet sich an
Das Ende der mittelterlichen Warmphase brachte auch das Ende der Stadtgründungswelle aus dem 12. Jahrhundert. Nur werden auf dem Gebiet der Schweiz fast 500 Jahre keine neuen Städte mehr entstehen. Erst die Industrialisierung wird ein warmes, ja heisses Klima bringen. Und neue Städte.

Meine Laudatio zum Politics Award 2021

Ich glaubte, ich hätte geträumt! Vielleicht ein sonderbarer Traum.
Ich träumte, das Bundeshaus sei das Gebäude mit den meisten verschiedenartigen Gesteinsarten in der Schweiz. Alles sei im Hauptgebäude des Bundesstaates inkludiert worden.
Das machte mich neugierig, und ich begann zu recherchieren. Und merkte, gut geträumt zu haben.
Erstaunt las ich später, dass es im Bundeshaus effektiv 26 Steinsorten gibt: Sandsteine, Kalksteine, Marmore, Granite und einiges mehr. Sie kommen aus den Alpen, dem Jura, dem Mittelland, ja aus Italien, Lothringen und Belgien.
Gemeinhin gilt das Bundeshaus aus dem Jahre 1902 als das öffentliche Gebäude des Schweiz mit der grössten Diversität an Bausteinen.
Um so überraschender ist es, das die gesellschaftliche Inklusion harzte. Der Anfang war gut. Bürgerliche Männer bestimmten, wer im Parlament war. Katholiken, Bauernschaft und Arbeiter wurde schrittweise integriert. Doch dann ging es nur im Schneckentempo weiter. Frauen wurde erst vor 50 Jahren ins Bundeshaus gelassen wurden, um zu politisieren. Auslandschweizer:innen haben bis heute keine direkte Vertretung unter der Bundeskuppel. Und die Chancen von Jungpolitiker:innen, auf einer eigenen Wahlliste gewählt zu werden, sind praktisch null. Migrant:innen ohne Einbürgerung, Jugendliche und Kinder schenkt man Gehör.
Immerhin, die politische Vielfalt bricht durch: Seit 2019 ist das Parlament so weiblich wie noch nie. Auch der Altersdurchschnitt ist gesunken. Behrinderte haben nun einen barrierefreien Zugang bis zum Rednerpult. Und das Leben im Bundeshaus wird bunter.
Mit ihrer Hilfe kann die Schweizer Politik in drei Wochen noch etwas farbiger werden.
Es ist Zeit, mit dem Politics Award auf die endlich waschsende Diversität in der Schweizer Politik aufmerksam zu machen und eine Vorkämpferin hierzu ganz besonders zu ehren.
Die Nominierten dafür sind …

Stadtwanderung zum Klimawandel: 4. Station Nydeggkirche oder die Stadt Bern – Nutzniesserin der Klimaerwärmung

Die Legende zur Gründungsstadt
Dem Vernehmen nach wurde Bern 1191 gegründet. Die Legende besagt, Herzog Berchtold von Zähringen habe den Sporn in der Aareschlaufe ausgewählt und seinen Dienstmannen gesagt, das erste Tier, das sie in den nahegelegenen Wäldern erlegen würden, solle der Stadt im Niemandsland den Namen geben.
Es war ein Bär!
Das war fast unschlagbar, denn die Berner machten daraus Bärn. Man bedenke, es wäre eine Wildsau gewesen oder ein Dachs. Dann wären wir jetzt Dachsenhausen oder Willisau.
Doch Biologen zweifeln am gängigen Narrativ Berns. Sie glauben nicht, dass es im 12. Jahrhundert hier noch Bären gab. Dafür war im Aaretal schon zu viel Wald verschwunden, und zu viele Menschen lebten in der Umgebung. So war Köniz seit dem 200 Jahren Sitz eines Klosters mit mächtigem Einfluss auf die Siedler in der Umgebung.

Der Landesausbau
Was war geschehen? – Die Geschichtswissenschaft spricht vom Landesausbau oder Binnenkolonisation, während dem neues Land urbar gemacht worden war.
Das war ein europäischer Prozess zwischen dem 7. und 15. Jahrhundert. Als Hauptphase gelten das 10. bis 14. Jahrhundert. Der Wald wurde auf 40 Prozent der Fläche zurückgedrängt, nur wenig mehr als heute, aber sicher viel weniger als währen der Zeit der Waldlandschaft. Dafür entstanden neue Sielungen, Aecker und Wiesen, um Mensch und Tier zu ernähren. Doch nicht nur die Umwelt, auch die Wirtschaft, die Gesellschaft und die Herrschaft änderten sich mit dem Landesausbau grundlegend.
Vor allem die Wirtschaftsgeschichte hat auf die agrartechnische Revolution verwiesen, mit der die Erträge stiegen. Die Gesellschaftsgeschichte spricht vom einem exemplarischen Bevölkerungswachstum. Die Herrschaftsgeschichte schliesslich zeigt, dass sich der waldbesitzende König zusehends eine Aristokratie gegenübersah, welche den Landesausbau betrieb.
Gemeint sind damit Klöster, die in unbewohnte Gebiete vordrangen, Adelshäuser, die Landesherrschaften anstrebten und schliesslich auch Städte, die für ökonomische Entwicklung sorgten.
Die neuere Geschichtsschreibung stellt das Ganze jedoch in den Kontext der nachweislichen, mittelalterlichen Klimaerwärmung. Klimahistoriker:innen sind sich heute sicher, dass es ab dem 10. Jahrhundert erstmals seit Römerzeiten wieder wärmer wurde und dies bis ins 14. Jahrhundert so blieb, wenn auch mit Unterbrüchen. Der mittlere Unterschied ist gemäß Rekonstruktionen nocht gigantisch, aber sichtbar gegenüber der kalten Zeit der Völkerwanderung. Deshalb die These: Ohne diese war,Phase wäre die Entwicklung hin zu einer offenen Landschaft mit neuen Siedlungen und Äckern nicht möglich geworden.

Die Herzöge von Zähringen
Das wichtigste Adelshaus in unserer Gegend waren die Zähringer aus der Umgebung von Breisach. Sie standen als Grafen im Dienste von Papst und Kaiser, der sie zu Herzögen machte. Nur war gerade kein Stammesherzogtum im Reich frei, sodass die Zähringer Rektoren im zerfallenen Königreich Burgund wurden. Das begann im westlichen Mittelland und reichte das Rhonetal hinunter bis ans Mittelmeer. Es galt als schwer regierbar, denn es war durchsetzt von Gottesstaaten, mit Bischöfen wie in Lyon, aber auch mächtigen Klöstern wie der Cluniazenser und Ordensleute, die alle Gott und den Papst verehrten, aber weniger den Kaiser und seine Getreuen.
Die Zähringer machten daran, die früheren Grafschaften Burgunds zu erobern. Alles begann in Herzogenbuchsee. Burgdorf wurde ihre erste Burg mit Stadt im Mittelland. Von da aus war Lausanne das unmittelbare Ziel, aber auch Sion und Genf. Denn die drei Bistümer bildeten früher das Königreich Hochburgund, die Pforte ins weitläufige Rhonetal.
Doch der ambitionierte Plan scheiterte. Denn der Bischof von Lausanne stellte sich den Zähringern entgegen, und seine Vasallen besiegten die Kolonisatoren zweimal militärisch. Hinzu kam, dass der Kaiser selber eine burgundische Prinzessin geheiratet hatte und nun der Auffassung war, das Rektorat sei obsolet geworden. Die Zähringer konzentrierten sich in der Folge darauf, Herren im Aaretal zu sein. Dazu gründeten sie Freiburg im Üechtland als neue Frontstadt und Bern als Brückenstadt zwischen Burgdorf und Freiburg.

Der Standort in der Aareschlaufe
Den Standort in der Aareschlaufe wählten Berchtold mit Bedacht. Denn der Sporn war einfach zu verteidigen. Der Sulgenbach konnte umgeleitet werden, sodass er mitten durch die Gründungsstadt floss.
Die sonnige Südseite ging an die Dienstmannen der Zähringer, die schattige Nordseite ging an die Stadtklöster und die Matte entlang der Aare wurde zu einem separaten Dorf für Gewerbler.
Heute weiss man, die Zähringer bauten ihre Burg, wo die Nydeggkirche steht und wir gerade sind. Sie war durch einen Graben vom Sporn getrennt. Auf dem hatte es mehrere Einschnitte, allenfalls frühere Aareverläufe. Der erste davon bildete das natürlich Ende der Stadt bei heutigen Zygloggenturm. Dazwischen entstanden vier Quartiere, von einer Längs- und einer Querstrasse geteilt. Ein Marktplatz gab es nicht, was zeigt, nicht das Wirtschaftliche trieb die Zähringer an, vielmehr die nüchterne Erschliessung des gewonnenen Landes.
Die Erschliessung des Landes rechts der Aare
Die Zähringer verbanden mit ihren Städten erstmals dauerhaft das Gebiet zwischen Aare und Voralpen. Damit erschlossen sie Täler wie das Emmental, verbanden aber auch die Orte quer zu diesen. So entstand nebst der Linie entlang dem Jurasüdfuss ein zweiter Weg durch das Mittelland, der fest in ihrer Hand war. Das hatte vor ihnen niemand gewagt oder gekonnt. In später Zeit galt gar Thun als Zentrum der Zähringer.
Herzog Berchtold, der Städtegründer und Strassenbauer, wurde damit nicht nur reich; er wäre auch beinahe König geworden. Die Kurfürsten hatten sich bereits für ihn entschieden, als er auf den Titel zugunsten der Staufer verzichtete, dafür aber weitere Städte am Rhein als Abgeltung bekam.
Berchtold starb am 18. Februar 1218. Mit ihm endete auch die Manneslinie der Herzogdynastie. Berchtolds Witwe Clementia bekam Burgdorf. König Friedrich II. nahm Bern unter seine Fittiche, denn die Stadt stand auf Königsland. Um den Rest stritten sich die alemannischen Kyburger und die burgundischen Savoyer. Der Kaiser verheiratete sie, doch der Ehefrieden hielt nicht lange. Der Grafenkrieg zwischen ihnen endete unentschieden.
Um den Rivalitäten ein Ende zu bereiten, machte König Adolf von Nassau Bern 1294 zur Königstadt und befreite sie damit von feudalen Abgaben. Bern interpretierte das so, dass man den Schultheissen, wörtlich den Schulheisser oder Steuereintreiber, nun selber stellte. Der König im Rheintal konnte nicht tun, selber war er nie in Bern aufgetaucht.

Selbstbewusste Pionierstadt
Zu den Besonderheiten der Brückenstadt gehörte, dass sie es so fertigbrachte, einen Landesherren, der sie dauerhaft beherrscht hätte, zu vermeiden. An seine Stelle stand ein selbstbewusstes Stadtrittertum mit Besitzungen in der Umgebung, das zum Königreich hielt, aber selber entschied, was im Aaretal zu tun und zu lassen war.
1339 eroberte Bern mit Hilfe der Innerschweizer die königliche Festung Laupen. Die burgundischen Barone, die Stadt Freiburg und der Gegenkaiser wurden dabei militärisch besiegt. Bern gab sich dabei das Wappen mit rot für das Kaiserreich, gelb für die Freiheit und dem Bären für die Stärke.
Stadtgründungswelle als Beweis der mittelalterlichen Klimaerwärmung
Die Stadt Bern ist nicht die einzige mittelalterliche Stadt, die vom Landesausbau, dem Bevölkerungswachstum und Klimawandel profitierte. Als sie gegründet, gab es auf dem Boden der heutigen Schweiz 35 Städte. Hundert Jahre später zählte man das fünffache. Insgesamt entstanden rund 200 mittelalterlich Städte während der Stadtgründungswelle zwischen 1150 und 1340 – ein Phänomen, dass die Stadtgeschichte während davon danach kannte. Weitere Adelshäuser, die Städte gründeten, um ihre Macht zu sichern, waren die Kyburger vor allem in der heutigen Ostschweiz, die Habsburger entlang der Reuss und die Savoyer in der Westschweiz.
Auch wenn nicht alle Stadtgründungen aus dem 12. bis 14. Jahrhundert überdauerten, sind die der sichtbarste Beweis für die mittelalterliche Warmphase und ihrer Kraft, Natur, Kultur und Zivilisation zu verändern.
Die Freude Berns dauerte allerdings nicht lange. 1342 kam schlechtes Wetter mit viel Regen auf, die Ernten blieben aus und die Menschen hungerten. Noch wusste sie nicht, dass in China eine Pandemie ausgebrochen war, die man nicht einmal dem Namen nach kannte, aber auch die Aarestadt in Kürze ereilen sollte.

Stadtwanderung zum Klimawandel: 3. Station über der Aare

In ihrer monumentalen „Geschichte der Landschaft der Schweiz“ – vor fünf Jahren erschienen und bereits restlos vergriffen – beschreiben 20 Umweltwissenschafter:innen unter der Leitung von Jon Mathieu, Berner Historiker an der Uni Luzern, wie sich die natürliche Umgebung der Nacheiszeit verändert hat.
Mit Blick auf unser Thema macht es ihrer Ansicht nach Sinn, die Zeitspanne aufzuteilen:
Der erste Teil dauerte etwas mehr als 10000 Jahre. Er geht vor gut geht 1000 Jahren zu Ende.
Der zweite Teil ist viel kürzer, nämlich danach, letztlich bis heute. Allenfalls kann man die Nachkriegszeit davon abgrenzen.

Waldlandschaften
Für die erste Phase schlagen die Historiker:innen den Begriff der Waldlandschaft vor. In die Tundra-Steppen-Landschft unmittelbar nach der Gletscherschmelze wandern Bäume ein: zuerst Birken, dann Föhren, schließlich verschiedene Laubbäume. Später kommen noch Buchen in der Ebene und Tannen im Gebirge dazu. Sie boten Tieren und Menschen, die in der Wildnis existieren konnten, Lebensraum.
Das war Urwald-Landschaft! Das kennen wir heute hierzuland nicht mehr. Denn für uns ist Landschaft in der Regel offen – mit Wiesen, Äckern und Siedlungen. Der Waldanteil liegt bei einem Drittel der Fläche.
In der ersten Phase gab es auch einige waldfreie Gebiete, doch waren sie die Ausnahme. Da war zuerst das Hochgebirge ohne Vegetation. Hinzu kamen Flussläufe mit ihren Auen und Sumpfzonen entlang der Seen. Schließlich gab es auch das sog. Altsiedelland. Das waren beschränkte Rodungsgebiete, die seit der Jungsteinzeit bewohnt wurden.

Die jungsteinzeitliche Warmphase
Sesshafte Bauerngesellschaften in Rodungsgebieten hatten ihren Ursprung im warmen und feuchten fruchtbaren Halbmond vom heutigen Irak bis Syrien und Palästina. Das war vor rund 10000 Jahren. Von da aus dehnten sich die jungsteinzeitliche Migration, wie man die Ausbreitung des sesshaften Bauertums nennt, über die Türkei und Griechenland aus. Kontinentaleuropa wurde wurde vor 9-7000 Jahren erfasst. Eine zweite Route verweist auf die Ufer des Mittelmeeres.
Klimahistoriker sehen einen direkten Zusammenhang mit dem Klimawandel. Im warmen Südeuropa verläuft der Prozess kontinuierlich, gegen Norden schubweise. Verursacht wurde dies mit Schwankungen der Tage, die jährlich für den Ackerbau nötig waren. Waren sie zahlreich, ging die Ausbreitung schnell voran, und sie war langsam, wenn die Tageszahl tief waren. Im kalten Nordeuropa kam die Entwicklung schließlich ganz zum Stillstand.
Die Zeit vor 5-8000 Jahren gilt als erste richtige Warmzeit der Nacheiszeit. Es war fast so warm wie heute und dies während Jahrhunderten recht konstant. Das begünstige die Ausbau der menschlichen Lebensweise. Wahrscheinlich geschah es aber nicht auf einen Schlag vielmehr geht man von einem lang anhaltenden Nebeneinander aus,

Das keltisch-römische Brenodor
Wann man auf dem Gebiet der Schweiz sesshaft wurde, weiß man nicht. Das Historische Lexikon erwähnt einfach das 6. Jahrtausend vor Christus. Das älteste Brot kommt aus Twann, es ist jünger, aber auch 5550 Jahre alt. Es handelt sich um Urdinkel, und es war ein Sauerteigbrot.
Im Aaretal um Bern ist die nachweisliche feste Besiedlung einiges jünger. Sie wird im erst im 3. Jahrhundert vor Christus greifbar, und ihre Spuren verlieren sich im 3. Jahrhundert nach Christus.
In den 1980er Jahren entdeckten ArchäologInnen ein Namenschild auf der Engehalbinsel, nur wenige Kilomerüter flussabwärts von hier. Seither heißt die Virmals namenlose Siedlung „Brenodor“.
Sie gehörte zur keltischen Kultur. Da beherrschte man schon die Eisenberarbeitung. Das erlaubt härtere Geräte für Ackerbau und Krieg.
Auch diese Technik kam breitete sich im 1. Jahrtausend in ganz Zentraleuropa aus.
Brenodor war eine keltisches Oppidum, eine feste keltische Siedlung, die vorerst offen war, dann befestigt wurde. Solche gab es auf dem Gebiet der Schweiz wohl ein Dutzend. Sie waren entweder auf Hügeln und befestigt wie auf dem Mont Vully, oder sie wurden von Flüssen umgeben. Dazu passt die Lage von Brenodor, ganz in der Flussscheife rund um die Engehalbinsel.
Heute weiß die Archäologie: Brenodor war ein politisches und religiöses Machtzentrum der helvetischen Aareregion mit einem vom profanen Gebiet abgegrenzten Heiligtum. Hier lebten Leute der Oberschicht sowie Händler und Hand- werker, also Töpfer, Drechsler, Wagenbauer, Schmiede und weitere, die ihre Erzeugnisse auch für das weitere Umland produzierten.
Mit der Zeitenwende bis ins 3. Jahrhundert nach Christus folgte nahtlose am der römische Vicus wiederum mit Häusern, einem Gräberfeld und einem Tempelbezirk. hinzu kamen ein Amphitheater und eine Sauna.
Erneut sei unsere Archäologie zitiert: Das Oppidum blieb nach der Eroberung Galliens durch Caesar um 50 v. Chr. weiterhin bewohnt und war in römischer Zeit eine Kleinstadt, ein Vicus. Diese Siedlungskontinuität kann anhand von Münzen und Gewandschliessen, wichtige Bestandteile der einheimischen Tracht, bestätigt werden.“ Neu war allerdings, dass die Römer für repräsentative Bauten Stein nutzten.

Vom Zentrum zur Peripherie
Die keltisch-römische Siedlung umfasste maximal 140 Hektaren. Das ist 30 Mal weniger als das heutige Stadtgebiet. Damit war Brenodor in keltischer Zeit das flächenmässig grösste Oppidum weitherum. Zudem lag es mitten im Herrschaftsbereich der wichtigen Helvetier. Man geht davon aus, dass es weitherum ausstrahlte. Das dürfte sich in römischer Zeit reduziert haben. Denn das Aaretal war für die Römer kein Durchgangsgebiet, eher eine Sackgasse.
In keltischer Zeit führte der wichtigste Weg durch die Schweiz über Genf, Lausanne, Yverdon nach Windisch, von wo aus mindestens drei Strassen in den Norden bekannt sind. Das gilt auch in römischer Zeit. Neu kam ein fester Übergang über den Großen St. Bernhard hinzu. Zudem wurde Aventicum eigentliche Hauptstadt der Römischen Herrschaft. Brenodor reichte da nicht mehr heran.

Die römische Warmphase
In römischer Zeit lebten wohl 120000 Menschen auf dem Gebiet der heutigen Schweiz. Alleine Aventicum soll 20000 gehabt haben. Denn es war die eigentliche Drehscheibe. Nach Süden war via Straßen direkt mit Rom verbunden, nach Norden gab es einen Wasserweg bis nach London.
Auch bei dieser Siedlungsphase gibt es einen direkten Zusammenhang mit dem Klimawandel. Man spricht heute vielfach von der römischen Wärmeperiode, mit einem Klimaoptimum um das Jahr 0. Es war damals weniger warm als während der jungsteinzeitlichen Revolution und damit auch als heute. Aber es war wärmer als lange Zeit davor und lange Zeit danach.
Es ist bekannt, nach den Römern zerfiel ihre Zivilisation. Zwischen Brenodor und der Stadt Bern gibt es trotz räumlicher Nähe keine Siedlungskontinuität. Denn es beginnt die Zeit der Völkerwanderung. Die geht allgemein gesprochen von Norden und Osten nach Süden und Westen, was ein Hinweise für eine klimatische Abkühlung ist.
In unser Gebiet kommen die Burgunder im 5. Jahrhundert von Westen her, die Alemannen im 6. Jahrhundert von Norden. Die Burgunder stammten wohl aus dem heutigen Thüringen, die Alemannen aus dem Schwarzwald. Die zerfallende römische Herrschaft erlaubte es, sich im wärmeren Süden niederzulassen.
Die Aare wurde spätestens im 9. Jahrhundert zur herrschaftlichen und kulturellen Grenze. Denn die Burgunder passten sich der römischen Lebensweise an und wählten Genf zu ihrer ersten Königstadt. Sie sprachen eine latinisierte Sprache. Die Alemannen mieden die verlassenen römischen Zentren, bevorzugten den Wald, den sie zu roden begannen, um frei von königlicher Herrschaft zu leben. Da bewahrten sie ihre germanischen Sitten und Dialekte hartnäckig.
Die alemannischen Rodungen sollten die Phase der Waldlandschaft schrittweise beenden. Ein ökologischer Einschnitt wie heute im Amazonasgebiet.
Nicht ohne Auswikrungen auf das Klima! Davon an der nächsten Station.

Stadtwanderung zum Klimawandel: 2. Station, Einstein-Bank beim Rosengarten

Die Raumzeit um Bern

Wir stehen vor Albert Einstein. Berühmt wurde der Professor für theoretische Physik durch seine Formel E=mc2. Eine der interessantesten Wortschöpfungen Einsteins war die „Raumzeit“. Denn die Zeit sei die vierte Dimension des dreidimensionalen Raums, sagte er.
Man kann es auch anschaulicher ausdrücken: Schauen wir des Nachts in den Sternenhimmel, blicken wir unweigerlich in die Vergangenheit. Denn bis das Licht bei uns ankommt, braucht es Zeit. Was wir jetzt sehen, ist schon vorbei.


Der geschärfte Blick in die Umgebung
Berichtet man im Raum vor uns auch über Vergangenes? – Vergangenes ist vergangen, könne man einwenden, aber es hat Spuren hinterlassen, würde ich entgegnen!
Schauen wir zuerst nach rechts: Ohne Häuser und Straßen bleibt die Breitenrain-Ebene, davor ist der steile Abhang. Geologisch gesprochen handelt es sich um die Endmoräne des Aaregletschers. Bei seiner letzten Ausdehnung vor rund 20000 Jahren reichte er bis hierher.
Schauen wir nach links, sehen wir die Alpen, von wo der Aaregletscher kam. Die Alpen sind geologisch älter als der Gletscher. Sie entstanden vor rund 30 Millionen Jahren.
Schauen wir nun gerade aus, sehen wir den Gurten, unseren Hausberg. Er wurde durch gleich zwei Gletscher geformt. Das ist am schwierigsten zu erkennen!
Nun der Reihe nach!

Die Entstehung der Alpen
Die Alpen entstanden, als sich die relativ kleine adriatische Platte von Afrika löste und in die viel größere eurasische stieß. Teils wurde sie richtiggehend verschluckt. Teils faltete sie die eurasische Platte, woraus in einem langen Prozess das neue Gebirge, Alpen genannt, entstand.
Die Bildung der Alpen erzeugte viel vulkanischen Auswurf und war damit klimatisch relevant. Nördlich und südlich war je ein Meer. Das nördliche reichte von der Gegend um Grenoble bis in die Gegend um Wien. Man nennt es Molassemeer, seicht wie das heutige Wattenmeer. Der reichliche Sand wurde zu Molasse, einem poröses Gestein, noch bevor das Meer austrocknete.
Auch das südliche Meer verschwand und hinterließ eine Wüste mit salzhaltigem Boden. Vor 5 Millionen Jahren brach jedoch der Atlantik bei Gibraltar durch und füllte die Ebene, sodass das heutige Mittelmeer entstand.

Gletscher formen die Landschaft
Für die Landschaft, wie wir sie heute kennen, brauchte es noch die Gletscher – eine Folge der Abkühlung in den letzten Kaltzeit, also der letzten 115000 Jahre. Dazu zählen nebst dem Aaregletscher der Walliser- oder Rottengletscher, der Reuss-, und der Rheingletscher (siehe Bild).
Der Wallisergletscher verzweigte sich im Gebiet von Vevey. Der eine Ast bedeckte weite Teile des westlichen Mittellandes. Mindestens mit dem Aaregletscher kollidierte er. Man geht davon aus, dass dies beim Gurten der Fall war. Von Südosten kam der Aaregletscher, von Südwesten der Wallisergletscher. Beide formten den Berg.
Der heutige Gurten selber war ganz unter Eis, anders als der Bantiger hinter uns. Damit wäre das Eis hier etwa 500 Hundert Meter dick gewesen. Davon sieht man nichts mehr!
Die Gletscherschmelze ist immer noch einer der besten Beweise, wie stark sich das Klima erwärmt hat.

Gletscherseen früher und heute
Mit der Gletscherschmelze entstanden Seen. Der grösste ging aus dem Wallisergletscher hervor. Seine Endmoräne war im Gebiet des heutigen Wangen an der Aare. Sie soll über 100m hoch gewesen sein und einen See bis in die heutige Waadt gestaut haben. Man nennt ihn den Solothurnersee.
Der Abfluss bohrte sich in den Damm, bis dieser vor rund 10000 brach. Der Solothurnersee verschwand. Übrig blieben der Bieler-, Neuenburger- und Murtensee, und dazwischen das Seeland als sumpfige Gegend.
Auch der Aaregletscher hinterließ einen See, Wendelsee genannt. Er begann in Meiringen und endete in Kiesen. Omen es nomen! Denn Geschiebe aus der alten Kander verkleinerte ihn nach und nach, und via Lütschinen wurde er sogar zweigeteilt. Was blieb, kennt man als Thuner- resp. Brienzersee. Schriftlich belegt ist das Bödli dazwischen seit rund 1000 Jahren.
Wer meint, das sei alles bloße Vergangenheit, täuscht sich. 2021 zeigte ein Studie der EAWAG, dass seit 1850, dem jüngsten Tiefpunkt in der Temperatur, die Wasserfläche an Seen um jährlich 40000 m2 wuchs. In den letzten 10 Jahren hat sie angesichts der neuesten Klimaerwärmung im Schnitt gar um 150000 m2 zugenommen. Zwischen 2006 und 2016 sind auch 180 neue Gletscherseen entstanden. Einzelne, wie der beim Plaine-Morte-Gletscher oberhalb Lenk, müssen gar künstlich entwässert werden, damit der Damm nicht bricht und eine Flutwelle auslöst.

Harter Granit und weicher Sandstein
Ein großes geologisches Rätsel blieben bis in die 1830er Jahre die vielen, teils massiven Felsbrocken aus Granit in der Berner Landschaft. Sie waren so anders als die poröse Molasse.
Lange glaubte man, sie seien durch Vulkane ausgespuckt und durch die Luft gewirbelt worden. Dann machte Louis Agassiz aus Motier am Murtensee eine Entdeckung. Er wies mit Hütten auf den Gletschern erstmals nach, dass sie fließen, wenn auch langsam. So erklärte er, dass die Gletscher den Granit aus den Alpen transportiert hatten und sie nach dem Schmelzen stehen ließen.
Ein berühmter unter den Findlingen steht heute noch an der Autobahnausfahrt bei Muri. Als man die Schnellstraße kürzlich auf sechs Spuren vebreiterte, musste man der 373 Tonnen Koloss aus dem Haslital um wenige Meter verschieben – ein Kraftakt für Menschen&Maschine. Mächtige Gletscher machten das seinerzeit ohne Aufsehen!
Granit und Molasse waren bis Ende des 19. Jahrhunderts zwei wichtige Baumaterialien für Bern. Nur nennt man Molasse hier Sandstein. Das Bundeshaus, 1902 eröffnet, bildete den Höhepunkt für diese Bauart. Das Fundament ist hart, aus Granit, der Bau selber eher weich, aus Sandstein eben.
Seither geht da nicht mehr viel. Sandstein wurde durch Beton und Stahl abgelöst.

Berühmte und berüchtigte Professoren
Albert Einstein machte seine bahnbrechenden Entdeckung in der Berner Altstadt, als das Bundeshaus gebaut wurde. Er sei der Mann des 20. Jahrhunderts, schrieb das Time Magazine über den berühmten Professor.
Auch Agassiz hätte eine herausragender Wissenschafter des 19. Jahrhunderts werden können. Wie Einstein wurde er für seine grundlegende Entdeckungen Professor in den USA. Allerdings interessierte er sich da kaum mehr für die noch junge Glaziologie. Vielmehr beschäftigte er sich mit der aufkommenden Rassenlehre und begründete, dass der weiße Mann die überlegene Menschenart sei.
Das gilt heute als Irrlehre. Historiker wie Hans Fässler aus St. Gallen haben Agassiz deshalb schon vor BLM vom Sockel gestoßen. Nur in den Alpen gilt der berüchtigte Professor noch etwas, denn er bleibt der Namensgeber des Agassizhorns auf Berner Boden.
Für uns höchste Zeit, hinunter an die Aare zu gehen, um das Leben der Menschen im Urwald des Mittellandes kennen zu lernen.

Vorschau Stadtwanderung zum Klimawandel

1. Station: Die Welt vom Rosengarten aus

Guten Abend, ich begrüße Sie!
Gemeinsam machen wir in den kommenden zwei Stunden eine Stadtwanderung. Unser Thema ist der Klimawandel. Dafür gehen wir einmal durch Bern, aber auch einmal durch die Geschichte.
Ich will ihnen an 8 Standorten je etwas aus der Geschichte des Klimas und der Menschen hier erzählen.

Unser erster Standort
Zur Einstimmung habe ich Sie in den Rosengarten gerufen. 1765 wurde hier ein Friedhof errichtet. 1877 wurde er zu klein und in den jetzigen Schosshalden-Friedhof in der Nähe verlegt.
Auf Initiative vorausschauender Frauen wurde der Rosengarten am Ende der Belle Époque, also kurz vor dem Ersten Weltkrieg, zu einem Stadtpark umgewandelt.
Erinnert wird hier sich an die Berner Mundart und Jeremis Gotthelf. Seit 1917 züchtet man hier zudem Rosen, über 200 Sorten aus aller Welt finden sich auf engstem Raum – daher auch der Name.
Diese spezielle Kombination machte dem Rosengarten bis heute zu einem beliebten Treff- und Aussichtspunkt. Das ist gut, um mit der Aussicht auf unser Thema zu beginnen. Und es ist symbolisch, den Grün- und Blauflächen gelten als sinnvolle Maßnahmen gegen Stadthitze.

Die Symbolik des Teichs im Rosengartens
Wir stehen hier vor dem Teich aus dem Jahre 1918 mit zwei symbolträchtigen Figuren: Neptun und Europa, die der Twanner Bildhauer Karl Hänny schuf.
Neptun ist der römische Wassergott. Er lebt in der Tiefe des Meeres. Deshalb ist er der Wassergott. Doch er ist auch zuständig für das Wetter!
Europa ist phönizisch. Die Königstocher gefiel Zeus, dem griechischen Göttervater. In einen Stier verwandelt, entführte er sie und schwamm mit über das Mittelmeer nach Kreta, wo die beiden Kinder zeigten. Den Kontinent, den sie so begründeten, nennt man Europa.
Heute weiß man, das ist Mythologie. Es sind Ursprungserzählungen, die wegen ihrer Anschaulichkeit haften bleiben. Belegbar sind sie jedoch nicht. Das hat mit Geschichte zu tun, dem vergangenen Geschehen, das durch schriftliche Quellen oder archäologische Funde empirisch belegbar sein muss.

Ein wenig (europäische) Geschichte
Entstanden sind die Mythen als Vorform der Geschichtsschreibung in der Antike. Die Geschichtswissenschaft lässt die Antike mit der Gründung Roms vor 2750 Jahren beginnen. Sie endete vor 1500 mit dem Ende der weströmischen Zivilisation.
Es folgte das Mittelalter, das 1000 Jahre dauerte. Genannt wurde es so aber erst von den Humanisten im 15. Jahrhundert. Sie wurden inspiriert von Konstaninopel, dem heutigen Istanbul. Da existierte das oströmische Reich bis 1453.
Die Humanisten kritisierten Europa, das unter dem Einfluss der katholischen Kirche rückständig geworden sei. Sie standen am Anfang der Neuzeit. Die dauert seit 1492, der Entdeckung Amerikas, oder 1518, dem Beginn der Reformation.
Die Historikerinnen grenzen von der Epoche der Neuzeit nochmals die neueste Zeit ab. Sie lassen diese mit den modernen Revolutionen in den USA oder Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts beginnen. Man kann es auch die Zeit der Industrialisierung nennen.
Was geschah in dieser Zeit mit dem Klima? Es änderte in diesen rund 2500 Jahren mehrfach. Zu Römerzeiten war es warm, während der folgenden Völkerwanderungszeit kalt, im hohen Mittelalter mit den Städtegründungen wieder warm, danach während langer Zeit erneut kalt. Man spricht sogar von einer kleinen Eiszeit. Tiefpunkt war um 1850. Seither steigt die Temperatur wieder an, seit dem 21. Jahrhundert sogar rasant.

Ein wenig Erdgeschichte
Die Erdgeschichte ist jedoch viel umfassender als das Raster aus der europäischen Geschichte. Man schätzt, der Erball sei 4,6 Milliarden Jahre alt. Zuerst war nur Wasser an der Oberfläche, dann der Urkontinent Pangäa. Der teilte sich mehrfach, im Norden in Nordamerika und Eurasien, im Süden in Südamerika, Afrika, Australien, Neuseeland und die Antarktis. Dazwischen war Tethys, ein riesiges Meer.
Von Afrika lösten sich verschiedene Platten, die Tethys langsam durchquertem und mit Eurasien zusammenstießen. Indien liess den Himalaya entstehen, Arabien den Alburs und Italien die Alpen.
Die geologische Erdneuzeit begann etwa davor, als vor 66 Millionen Jahren ein 14 km grosser Meteorit im Gebiet von Neu México einschlug. Er aktivierte Vulkane, und die Temperaturen stiegen vorübergehend. Dies besiegelte das Ende der Dinosaurier. Doch es folgte in Schüben eine gigantische Abkühlung von rund 20 Grad Celsius, welche die Vorherrschaft der Säugetiere begründete.
Die Abkühlung ließ an den Polen der Erde riesige Gletscher entstehen, ebenso in den Gebirgen vom Himalaya bis zu den Alpen. Vor 20000 Jahren war bei uns es am kältesten. Seither erwärmt sich das Klima wieder, und es schmelzen die Gletscher.
Die Erdgeschichte spricht nun vom Holozän, dem Zeitalter des Menschen, das vor 12000 einsetzte. Menschenarten gab es schon länger, aber Zivilisationen sind keine bekannt.

Die aktuelle Diskussion über die Klimaerwärmung
Auf der geologischen Zeitachse bestimmten Großereignisse wie Meteoriteneinschläge und Vulkane, aber auch globale Winde das Klima.
Seit der letzten Eiszeit galt warm als vorteilhaft für die Entwicklung der Menschheit, kalt als nachteilig.
Genau das ist heute nicht mehr gesichert!
Denn es kann nicht mehr ausgeschlossen werden, dass die aktuelle Erwärmung alles ändert. Seit dem letzten Kältemaximim um 1850 hat sich die mittlere Erdtemperatur um 1.2 Grad Celsius erhöht.
Und wir diskutieren gegenwärtig weitere Erhöhungen von 1,5 bis 5 Grad alleine für das 21. Jahrhundert. Das lässt alles, was in den letzten 10000 Jahren geschah, erblassen.
Bildhaft sprechen die Klimaforscher:innen von einem L oder einem Eishockey-Stock: Lange ging es historisch gesehen fast gerade aus mit der Temperatur, dann folgte ein heftiger Knick nach oben!
Das haben sogar die ErdgeschichtlerInnen bemerkt, denn sie grenzen neuerdings das Anthropozän von Holozän ab. Sie wollen damit anzeigen, dass der Mensch nicht mehr mir ein Teil der Erde ist, sondern diese mit seinen Aktivitäten bestimmt. Populärwissenschaftlich datiert man den Beginn des Anthropozän auf 1945, dem Jahr mit der Zündung der Atombombe in der Erdatmosphäre.

Kleine Rekapitulation
Wem das zu schnell ging, biete ich zum Schluss ein kleines Gedankenspiel an:
Wenn ein Jahr einem Millimeter entspricht, dann dauerte die Neuzeit der HistorikerInnen, also die letzten 500 Jahre, 50 Zentimeter. Bis zu den Römern zurück sind es bloß 2 Meter.
Das Holozän ist 12 Meter lang. Das Anthropozän keine 8 Zentimeter.
Der Beginn der Erdgeschichte vor 4,6 Milliarden Jahre liegt aber nahe Teheran, der Hauptstadt des Irans.
Die berühmte Meteorit wäre 66 km von hier eingeschlagen, also etwa im Interlaken.
Und die Alpen, vor 30 Millionen Jahren entstanden, hätten ihren Anfang ungefähr in Thun.
Und um die geht an der nächsten Station.

Stadtwanderung zum Klimawandel

Noch vor der baldigen Abreise in die Sommerferien habe ich mit Hochdruck an meiner neuen Stadtführung für “Läbigi Stadt Bern” zu Klimawandel und Geschichte gearbeitet. Zwischenbericht

Themen wurden identifiziert, Stationen geschichtet. Momentan verwebe ich beides: Orte müssen gefunden, Geschichte(n) müssen verdichtet und beides muss mitneinander kombiniert werden. Daraus soll der rote Faden für die Wanderung durch Raum und Zeit gesponnen werden.
Nun steht der vorläufige, noch etwas provisorische Parcours entstanden, mit je einer These, die andeutet, worum das an jedem Ort gehen soll.
Hier schon mal die Uebersicht.

1. Station: Rosengarten: Alpen und Gletscher (vor 35 Millionen Jahren)
Die Erdgeschichte gestaltet die Erdoberfläche und schafft die topographischen Voraussetzung.

2. Station: Tramdepot: Aare (vor 12000 Jahren)
Die Klimaerwärmung in der Nacheiszeit verändert die Flussläufe und schafft die Voraussetzungen für menschliche Zivilisationen

3. Station: Untertorbrücke: von Kelten, Römern, Franken, Burgundern und Deutschen (200 v. Chr. bis 1150 n. Chr.)
In der Agrargesellschaft hängen Klima, wirtschaftlich, gesellschaftlich, politische und demografische Entwicklung eng zusammen.

4. Station: Nydeggkirche: Stadtgründungen in Bern und anderswo (1150-1330)
Die mittelalterliche Klimaerwärmung bringt Städtegründungen in der Agrargesellschaft hervor.

5. Station: Stadtbach/Rathaus Die Pest und ihre Bewältigung (1347-1415)
Die Pest hat nichtklimatische Ursachen; das Klima beschleunigte aber ihre Ausbreitung in unserer Gegend. Ihre Bewältigung macht aus Bern einen Stadtstaat

6. Station: Französische Kirche/Kornhaus: Migration und Hunger (1570-1720)
Der Umgang mit Migration ist von der Ernährungslage abhängig, die wiederum witterungs- und klimaabhängig ist. Das beeinflusste die Politik gegenüber den Hugenotten entscheidend

7. Station: Bahnhofplatz/Bahnhofunterführung: Produktions- und Konsumtionsgesellschaften (1860 bis heute)
In der Industrie- und Konsumgesellschaft verbessern Transport und Ernährung die Lebensqualität erwärmen aber auch das Klima.

8. Station: OeschgerCentre/Grosse Schanze<: Wissenschaft und Politik (1971 bis heute)
In der Risikogesellschaft verändert das Klima die Wissenschaft. Und die Wissenschaft verändert die Politik.

Eines schon im Voraus: Einsteins “RaumZeit” hat mich beflügelt, in der Topografie, dem Ortsbild, den Baumaterialien, den Herrschaftsgebäuden und dem Lebensraum der Stadt die Themen und ihren Zeiten aufleben zu lassen!
Start ist voraussichtlich am 20. September 2021 für “Läbigi Stadt Bern.”

Stadtwanderungen 2021/2: Lobbying, Ochsenbein, Klimawandel und Murten

Ich mache mich in einigen Tage auf in die “Sommer”-Ferien im hohen Norden. In Holzhausen soll es deutlich wärmer sein als hier. Zwischenzeitlich ruhen meine Stadtwanderung.
Nach meiner Rückkehr sind bis jetzt sieben Führungen angesagt. Themen sind Lobbying, Ochsenbein, Klimawandel und Murten. Hier die Uebersicht.

31.8. Stadtwanderung “Lobbying”; Kurs Politische Kommunikation Fachhochschule Neuenburg
2.9. Stadtwanderung “Lobbying/Promenade Politique” Kurs Politische Kommunikation BFH
14.9. Stadtwanderung “Gründung des Bundesstaats/Ochsenbein für einen prominenten Ueberraschungsgast
20.9. Stadtwanderung “Klimawandel” für Läbigs Bern, 1. Gruppe
18.10. Stadtwanderung “Niederlande in Bern” für SP Stadt Bern/GR Kruit
25.10. Stadtwanderung “Murten” für Parlamentsdienste
27.10. Stadtwanderung “Klimawandel” für Läbigs Bern, 2. Gruppe

Im September bin ich ausgebucht, ab 27.9.2021 habe ich Kapazitäten. Interessent:innen melden sich am besten via DM auf meinem Twitter-Account-
Ich freue mich, mehr im Herbst!

Stadtwanderer

Die longue durée Murtens

Das Buch baut auf 20 Karten auf, die in hundertjährigen Schritten Geschichte vermitteln und die mit kurzen Texten umgarnt wird.

Eigentlich ist es ein dreidimensionales Buch. Die erste Dimension ist die Nordsüdachse. Sie reicht von Martigny bis Basel. Es folge die Ostwest-Achse etwa von Brienz bis Pontarlier. Der Clou steckt indes in der dritten Dimension: der Zeit vom Jahre 1 bis ins 2001.
Lässt man die Blätter über den Finger sausen, erfährt man viel über die geschichtliche Entwicklung der welschen Länder(eien), wie man aus dem übersetzten Titel ableiten kann.
Selbstredend ist das Werk auf französisch erschienen und hat den Titel “Atlas historique des pays romands”. Autor ist Christos Nüssli, ein Jurist der Uni Lausanne, der sich auf historische, digitale Kartographie spezialisiert hat. Sein Prunkstück ist der “euratlas”, den man auf Internet frei einsehen kann. Vertrieben wird das neue Buch vom Westschweizer Geschichtsmagazin #Passesimple.

Das Beispiel Murten
Besonders interessiert hat mich Morat/Murten, praktisch mitten drin im Quadrat über das berichtet wird. Studiert man dazu Karte für Karte, begreift man die grossen Linien der Geschichte des Ortes. Alles beginnt in römischer Zeit mit der Strasse vom Grossen St. Bernhard nach Basel. Sie führt über Vevey, Avenches und Solothurn, bevor es über den Jura geht.
An diese Strasse weist der Atlas seit 901 Morat auf. Zentral sind die Verkehrswege, die hier beginnen. So die Erschliessung der Landschaft rechts der Aare über Oltigen, Lyssach, Langenthal, Lenzburg bis Windisch. Von da an ging es über den Rhein nach Norden. Doch dabei blieb es nicht. Wichtigter noch war die neue Spur, welche die Zähringer nach Burgdorf, Bern, Fribourg und Moudon legten; Nebenlinien gingen nach Thun resp. Murten.
Fast schon statisch ist die Zugehörigkeit Murtens zu einer Sprachregion. Das Französische dominierte lange, doch rückte die Sprachgrenze von Osten her näher, bis sie Murten und Freiburg auf der Mittellinie zwischen den Sprach- und Kulturräumen zu liegen kam. Heute heisst es Murten/Morat.
Deutlich weniger stabil erwiesen sich in Murten die Herrschaftsverhältnisse. In burgundischer Zeit gehörte man zur Grafschaft Bargen. Nach der Einvernahme ins Kaiserreich kamen Adlige als Landesherren auf. Zuerst knapp 100 Jahre die Zähringer, dann für 200 Jahre die Savoyer. Abgelöst wurden sie von den Städten Fribourg und Bern, die 300 Jahre eine gemeinsame Herrschaft ausübten. Heute ist Murten/Morat rein freiburgisch.
Der einzige Makel des Buches besteht wohl darin, dass die konfessionellen Verhältnisse auf den Karten nicht erscheinen. Auch da hätte man in Murten von einer langen Zeit sprechen können, denn vor 1530 war man katholisch, danach reformiert und blieb es. Für einmal nicht im Zentrum steht in diesem Buch auch die berühmte Schlacht von 1476, die Murten ins Blickfeld der westeuropäischen Grossmächte katapultierte. Das macht aber nichts, da das ja weitgehend bekannt ist.

Stadtwanderung neu aufgelegt
Ich habe als 20jähriger die RS in Murten verbracht. Das bekam mir nicht so gut. Danach ging ich 20 Jahre nie mehr dahin zurück. Seit 20 Jahren nähere ich mich immer wieder an und heute werde ich vom Städtchen immer wieder angezogen, faszinieren mich seine vielen Beizen und hat mich die Geschichte stets von Neuem überrascht.
Deshalb freue ich mich ganz besonders, meine Stadtführungen durch die verschiedenen Schichten der Stadtgeschichte bald mit einem geschärften Rahmen für die fast dauerhaften Züge Murtens und seiner Landschaft machen zu können. Denn eines lernt man mit dem neuen Atlas: die longue durée der räumlichen Faktoren, welche den Ort prägten, die bisweilen seiner Zeit entrückt scheint.

PS: Interessent:innen für eine Führung in Gruppen können sich gerne bei mir per Messenger melden!

Eröffnung der Stadtwanderer-Saison: das Erwachen der Zivilgesellschaft


Heute eröffne ich die Stadtwanderer-Saison 2021. Das übergeordnete Thema meiner aktuellen Demokratie-Führung durch die Stadt Bern ist die neu erwachte Zivilgesellschaft. Meine Gedanken zur letzten Station von heute.

Der Staat wird durch die Weltanschauungen der Parteien gesteuert. Die Wirtschaft organisiert sich in generellen und spezifischen Interessen, die Einfluss nehmen.
Und die Gesellschaft? – Die klassische Antwort lautet: durch die BürgerInnen! Oder genauer durch die Zivilgesellschaft.

Woher der Begriff kommt
Den Begriff geprägte zunächst der kommunistische Theoretiker Antonio Gramsci. Er bezeichnete damit jene Teile der Gesellschaft, die sich wie Demonstrationen, Streiks aber auch Selbsthilfegruppen aktiv in der Öffentlichkeit äussern, um die Meinungsbildung und den Gang der Dinge von unten mitzugestalten.
Die Politikwissenschaft spricht heute alternativ von der aktiven Bürgergesellschaft. Gemeint ist Vergleichbares, jedoch losgelöst von marxistischen Hintergrund.
Auf die Schweiz angewendet, denkt man bei der Bürgergesellschaft zuerst an die Vereine, die im 19. Jahrhundert entstanden und namentlich der Männergesellschaft ein öffentliches Gesicht gaben. Abgelöst wurden sie im letzten Viertel des Jahrhunderts durch kollektive Akteure wie Verbände und Parteien.

Die Bedeutung heute
Ihre Vorherrschaft steht heute zu Debatte. Bei den Volksabstimmungen kann man das schon besser beachten als bei Wahlen.
In jüngster Zeit tauchte der Begriff prominent mit der Durchsetzungsinitiative 2016 auf. Die Gegnerschaft formierte sich nicht wirklich aus den Parteien heraus. Auch die Verbände hielten sich vielfach zurück. Aktiv wurden BürgerInnen, die sich gegen die SVP, ihre Themen und Kampagnen stemmten. Ihr damaliger Erfolg hat verschiedene andere Bewegungen inspiriert.
Was zeichnet die neue BürgerInnen-Gesellschaft aus?
Sie macht effektvolle Politik.
Sie macht das nicht aus kommerziellen Gründen.
Und sie haben sich überparteilich strukturiert.
Das aktuell beste Bespiel ist die Kampagne «Helvetia ruft!» getragen von Frauen, welche die Behörden, die Sportverbände und die Wirtschaftsspitzen verändern wollen.
Wie die Männer-Vereine im 19. Jahrhundert, ist die Frauenbewegung der Treiber der neu erwachten Zivilgesellschaft.
Wie stark sie zwischenzeitlich ist, zeigten die jüngsten Wahlen in der Bundesstadt. Die Frauen sind im Parlament in der Rekordzahl mehrheitlich. Freiburg und Lausanne machten das Bern jüngst nach.

Die Demokratie in der Veränderung
Ihre Wirkung zeigte am vergangenen Abstimmungswochenende vor allem bei der eID-Entscheidung.
Es war das erste erfolgreiche Crowd-Referendum der Geschichte.
Es wurde letztlich ohne Parteien lanciert.
Es stemmte sich gegen die Interessenvertretung der Wirtschaft im Parlament.
Und es hatte durchschlagenden Erfolg. 64 Prozent stimmten gegen die Behördenempfehlung. Das Nein war sogar so wuchtig, dass sich VertreterInnen aller Parteien im Parlament zusammenrauften, um sich für eine neues Bundesgesetz in gleicher Sache einzusetzen, das aus dem Nein lernen will.

Ein kleiner Ausblick
Wer weiss, vielleicht erleben wir schon bald weitere typische Referenden des digitalen Zeitalters: Am 13. Juni stehen unter anderen die Volksentscheidungen über das sog. Terrorismus-Gesetz resp. das Covid19Gesetz an. Ihre Trägerschaft haben durchaus zivilgesellschaftlichen Charakter. Die nötigen Unterschriften brachen sie trotz Corona-Restriktionen in grosser Zahl zusammen. Die Agenda der kommenden Monate werden sie zweifelsfrei mitbestimmen. Ob sie den durchschlagenden Erfolg haben wie das eID-Komitee bleibt offen. Für den beobachtenden Stadtwanderer durchaus eine Herausforderung, genau hinzusehen, wie sich die Demokratie heute ändert.

Sind wir in einer Diktatur gelandet? Pandemie und politische Mutationen

Der Vorwurf der Diktatur, erhoben von SVP-Tenören, war unüberhörbar. Ich teile die Diagnose nicht. Dich beschäftigt mich bei der Vorbereitung der neuen Stadtwanderng “Pandemie City”, wie sich unser Politsystem in den vergangene 12 Monaten verändert hat.

Was die Schweizer Konkordanzdemokratie ausmacht
Die wichtigen Kennzeichen der Schweizer Konkordanzdemokratie sind mein Ausgangspunkt. Wiederkehrend liest man dazu 10 Punkte:

1. Föderales System mit
. dezentraler Regierungsstruktur
. perfektem Zweikammersystem für die Gesetzgebung
. hohen Hürden für Verfassungsänderungen

2. Intermediäres System mit
. Mehrheitswahlrecht für den Nationalrat
. Parteiensystem aus vielen Parteien
. Willensbildung eng verbunden Sozialpartnern und weiteren Interessengruppen
. Ausgleich zwischen Parlament und Regierung, die ineinander verschränkt sind

3. Regierungssystem mit
. Mehrparteienregierung
. Fachkompetenzen in der Verwaltung
. Kontrolle durch Volksabstimmungen

Das alles zwingt zu Kooperation über Institutionen hinweg.

Was unverändert geblieben ist
Wo gab es in den letzten 12 Monaten Aenderungen, wo nicht? Letzteres ist einfacher zu beantworten.
Das Wahlrecht wurde nicht geändert, das Parteiensystem hat sich kaum geändert. Verschwunden sind zwar die die CVP und BDP. Mit der DieMitte ist dafür eine analoge Formation hinzugekommen. Und wir haben unverändert ein Vielparteiensystem mit einer erheblichen Polarisierung.

Veränderungen im intermediären Systems
Verändert hat sich aber die Interessenartikulation. Gestärkt wurde die Bedeutung der Spitzenverbände auf Regierungsentscheidung. Erweitert wurde auch der Fächer der Gruppierungen, die Einfluss nehmen. Zudem hat sich eine Covid19 TaskForce als professionelles Beratungsorgan eingebracht.
Zweifelsfrei verschoben hat sich die Bedeutung der Exekutive gegenüber der Legislative. Das hat nicht nur mit dem Kompetenzgewinn des Bundesrats durch das Epidemiengesetz zu tun. Es ist auch eine Folge der Parlamentsentscheidung im letzten Frühling, das Plenum und die Kommissionen aus dem politischen Geschehen zurückzuziehen. Zwar änderte sich dies zwischenzeitlich wieder. Corona-politisch war das Parlament auf dem Höhepunkte der Krise jedoch höchstens ein sounding board zur Regierung. Und für die Umsetzung haben die Regierungskonferenzen der Kantone den Ständerat als Vertreter der Kantone im Bund weitgehend verdrängt.

Veränderungen der föderalen Struktur
Veränderungen finden sich bei der föderalen Struktur. Unter den Bedingungen der ausserordentlichen Lage während der 1. Welle war die Regierungsstruktur eindeutig zentralistisch. Mit der besonderen Lage werden die Kantone wieder angehört, und sie bleiben im Vollzug wichtig. Vom Zustand ohne Pandemie sind wir aber weiterhin einiges entfernt. Das stellt Fragen zu den Zuständigkeiten und Kompetenzen wohl neu.

Veränderungen des Regierungssystems
Behandelt seien auch die Veränderungen des Regierungssystem. Die Volksrechte wurden vorübergehend ausgesetzt. Die Abstimmung vom 17. Mai 2020 wurde vier Monate später nachgeholt. Seither finden sie wieder wie gewohnt statt, auch wenn die Abstimmungskämpfe digitaler sind als bisher. Vorübergehend erschwert waren auch die Unterschriftensammlungen, was vor allem die Referenden mit kurzen Frist. Immerhin zeigten gleich mehrere Komitees mitten in der zweite Welle, dass es möglich bleibt, mit Rekordzahlen für Signaturen ans Ziel zu kommen.
Formal unverändert sind ist die Zusammensetzung des Bundesrats. Um Entscheidungen wird offensichtlich gerungen und das Kollegialsystem hat bestand. Es wird von den Mitgliedern des Bundesrats ausdrücklich gelobt.
Eindeutig erhöht hat sich das Tempo der nötigen Entscheidungen, was sich auf die gewohnte Kommunikation und den üblichen Interessenausgleich ausgewirkt hat. Etwas bekommt man dafür den Eindruck, dass das Bundespräsidium wichtiger geworden ist und vermehrt dem Zusammenhalt der Regierung dient.

Mangelnde Verfassungsgerichtsbarkeit für Grundrechte
Einen grossen Abwesenden bei der Gewaltenkontrolle in der Schweiz vermisst man immer deutlicher. Denn es gibt hierzulande kein Verfassungsgericht. Das wirkt sich auf die Grundrechte aus, deren Einschränkung politisch, nicht aber juristisch beurteilt wird. Letztlich ist das Bundesamt für Justiz, also ein Teil der Exekutive, dafür zuständig. Eine gewaltenteiligere Instanz wäre sicher von Vorteil.
Denn nicht zuletzt mit der Grundrechtsproblematik entstand die neue ausserparlamentarische Opposition, die sich fundamental gegen die Behördenpolitik richtet. Sie ist das Kind des gewachsenen Misstrauens in Institutionen, namentlich in den Bundesrat.

Mutationen der Politkultur stärker als der Konkordanzdemokratie

Die wesentlichen institutionellen Bedingungen, welche die Konkordanzdemokratie stützen, haben sich nicht verändert. Doch ist es in sensiblen Bereichen wie der Interessenartikulation, dem Funktionieren des Bundesstaats und im Innern des Bundesrats zu Veränderungen gekommen. Zudem dauert alles viel länger, als man angenommen hat. Und die zweite Welle hat sie Zuversicht gekappt, dass es bald einmal vorbei sei und keine weiteren Wellen drohen.
Verschoben haben sich einige Kennzeichnen der Konkordanzdemokratie. Wir haben uns der Mehrheitsdemokratie angenähert, ohne jedoch da angekommen zu sein. Breite Interessenberücksichtigung ist da nicht mehr möglich.
Radikaler als das ist aber die Veränderung der politischen Kultur. Die scharfe Polarisierung mit den bekannten Elementen der medialen Emotionalisierung, Personalisierung und Skandalisierung hat definitiv die Politbühne erobert. Das bedroht die Konsenspolitik vielmehr als die institutionellen Veränderungen.

Pandemie City- eine Stadtwanderung im Werden

Ich habe das schöne Wetter heute genutzt, mich örtlich und gedanklich mit meiner neuen Stadtwanderung zum CoronaRegime in der Schweiz zu vertiefen. Ein erster Faden durch Ereignisse, Orte und Geschichtem liegt nun vor.

Im Moment plane ich eine Stadtwanderung mit 10 Stationen:

1. Der Käfigturm: Übersicht über ein Jahr im Zeichen der Pandemie
2. Das EDI/BAG: die umstrittene Zentrale der Krisenbewältigung
3. Der Balkon zum Bundesratszimmer: Epidemiengesetz und die Macht des Bundesrats
4. Das Medienmedienzentrum: Wo jeden Tag schlechte Meldung kommentiert werden müssen
5. Die schwedische Botschaft: Der große Modellstreit beginnt
6. Der ETH-Rat, Büro Bern: Wissenschaft berät, kritisiert, wird kritisiert und beraten
7. Das EFD: Die finanzielle n Kosten der Pandemiebewältigung sind enorm unübersichtlich
8. Economiesuisse, Büro Bern: Lobbying für das große Ganze und für die kleinsten Details
9. Das Parlament: der große Abwesende erwacht – viel zu spät
10. Wo Referendumsunterschriften eingereicht werden: Die Abrechnung zum Covid19-Gesetz am 13. Juni 2021

Noch nicht eindeutig ist, wie ich die Kantone unterbringe. Allenfalls vor dem Ständerat in der Station 9 oder als 11. Station vor dem Haus der Kantone.

Ich beginne schon mal, Dokumente zu sammeln. Gerne berücksichtige ich auch Vorschläge aus der Runde!

Stadtwanderer

Mein Corona Update

Heute hat der Bundesrat als ein Teil von Vielem und Wichtigem entschieden, Zusammenkünfte im öffentlichen Bereich bis 15 Personen wieder zuzulassen. Das ermöglicht es mir, wieder Stadtwanderungen in kleinen Gruppem durchzuführen – selbstverständlich unter Einhaltung aller Sicherheitsvorschriften!

Ich denke, das Bedürfnis ist groß genug, über das in den letzten 12 Monaten erlebte (Nicht)Funktionieren des Staates leichtfüßig, aber nicht leichtfertig nachzudenken.

Die neue Wanderung soll in Anlehnung an die hier kürzlich publizierte virtuellen Lobbying-Tour, aber zugespitzter auf die Covid19-Zeit Ende März 2021 beginnen. Der vorläufige Arbeitstitel:

„Corona-Update. Politik im Zeitalter der Pandemie“.

Meine ersten 10 Stichworte dazu sind:
. Öffentlichkeit im Stress: Begegnungen, Versammlungen und Massenmedien der digitalen Art
. Ausserordentliche und besondere Lagen: was das Epidemiengesetz mit sich bringt
. Ein gestärkter Bundesrat und ein geschwächtes Parlament
. Das BAG zählt die Opfer, das EFD die Kosten
. Wissenschaftliche Politikberatung dank oder wegen der Pandemie
. Revival des Korporatismus: mächtige Verbände als Lobbyisten
. Der Bern Bär erwacht: Kantone müssen lernen aktiv zu werden
. Parteien zwischen Regierungsstütze und Fundamentalopposition
. Misstrauen, Internet und außerparlamentarische Opposition
. Was folgt aus allem für die Demokratie?

Gerne nehme ich Hinweise für interessante Begebenheiten und Orte dem Kreis der meiner geschätztem LeserInnen auf.

Los geht’s !

13. Station: Im Nirgendwo des Regierungsviertels

Nun stehen wir im Nirgendswo des Regierungsviertels. Es geht nicht mehr um Konkretes, das wir sehen, sondern um das Abstrakte, was bleiben soll. Ziehen wir Bilanz!


Die generelle These
Meine generelle These war, dass sich die Art und Weise wie in Bundesbern Politik gemacht wird fundamental ändert. Man kann von einem Prozess des Übergangs vom Milizsystem zur professionellen Politikformulierung sprechen. Viele Strukturen sind noch ganz geprägt von der Idee, dass die BürgerInnen direkt Politik machen. Das Lobbying jedoch ist ein ausgesprochen typischer Teil der Politik durch Profis.
Man sieht das an Veränderungen…
. der dauerhaften Verhandlungen zwischen Regierung und Verbänden (Wiederbelegung des Neokorporatismus in der Krise),
. der Ansprache von ParlamentarierInnen (direkter Draht zu InteressenvertreterInnen),
. der Public Relations, namentlich in Abstimmungskämpfen (datengetriebene Kommunikation), und
. ganz generell in der Öffentlichkeitsarbeit zur politischen Steuerung (Kommunikationsmanagement).

Typische Veränderungen
Die Lobby-Organisationen in Bundesbern haben sich im letzten Vierteljahrhundert stark ausdifferenziert. Sie haben ihre Arbeit generell verstärkt. Und sie sind damit zunehmend erfolgreich. Trendssetter waren Economiesuisse, Umwelt- und KonsumentInnen-Organisationen.
Neu aufgekommen sind in der helvetischen Bundespolitik vor allem Kommunikationsagenturen, die Lobbying, Campaigning und Medienarbeit kombiniert anbieten und betreiben. Wer das kann, hat einen Vorsprung. Wer nicht, droht marginalisiert zu werden.
Auch die Parteien sind daran, sich zu verändern. Ein Teil von ihnen setzt sich nicht mehr bloss für materielle Interessen ein; vielmehr lobbyiert man vermehrt für ideele Werte und Ziele. Das Aufkommen von Menschrechtsfragen ist dafür typisch.
In Bewegung geraten sind schliesslich auch Institutionen wie die Kantone. Reorganisationen des Bundesstaates und der damit verstärkte finanzielle Druck auf die mittlere Ebene wirken neu via Kantonskonferenzen koordiniert auf Bundesinstanzen ein.

Auf dem Weg zur Regelung des Lobbyings
Erkenntnisleitend für unsere Wanderung war die These der politikwissenschaftlichen Forschung, dass das Lobbying zu einer liberalen Demokratie passt, hierzulande aber vielfach unbewusst stattfinde, intransparent sei und beschränkt werden müsse, um systemverträglich zu sein. Zentrales Thema war deshalb die Regulierung. Was ist dabei herausgekommen?
Erstens, weitgehend geregelt erscheint mir heute das Lobbying via Vernehmlassungen zu Entwürfen des Bundesrats an das Parlament. Der Zugang ist gesetzlich bestimmt, und die Transparenz ist neuerdings gewährleistet. Dennoch haben sich Verwaltung und Regierung einen Handlungsspielraum bewahrt, um abgeleitet aus den Ansprüchen eine eigene Politik formulieren zu können.
Zweitens, noch nicht so weit ist man in Bezug auf Regelungen von Wahl- und Abstimmungskämpfen. Geldflüsse bleiben aber weitgehend intransparent. Geregelter ist dafür, was der Staat und seine Unternehmen dürfen und was nicht. Aktuell geht es um Organisationen wie die Kirche und Hilfswerke.
Drittens, weitgehend ungeregelt verläuft das Lobbying im Parlamentsbereich. Letztlich besteht nur die Vorgabe der beiden Badges für Parlamentsmitglieder. Der Übergang zu einem Akkreditierungssystem wie beispielsweise in der EU ist bis jetzt stets am Widerstand des Parlaments selber gescheitert.
Ich denke, da bleibt noch ein erhebliches Feld an politischer Reflexion, was wirklich gut und schlecht ist.

Die Bewertung von Transparency International in meinem Spiegel
Transparency International gab in ihrem jüngsten Bericht vier Bewertungen ab:
. Das Lobbying in der Schweiz ist vergleichsweise offen.
. Die LobbyistInnen ist mittelmässig integer.
. Das Lobbying in der Schweiz ist weitgehend intransparent.
. Daraus resultierte eine mittlere Gesamtnote im Vergleich aller OECD-Staaten. Besser schneiden beispielsweise die EU-Institutionen ab, aber auch Grossbritannien und neue Demokratien in Osteuropa lassen die Schweiz hinter sich zurück.
Am wenigsten einverstanden damit bin ich in Bezug auf Punkt drei: Die Transparenz im legislativen Lobbying in der Schweiz ist meines Erachtens höher als angegeben. Während durch Gesetze wenig reguliert wird, übernimmt hier die medial hergestellte Öffentlichkeit eine zentrale Rolle zur Garantie einer gewissen Transparenz. Richtig bleibt der Befund zum Bundesrat. Allen Indiskretionen zum Trotz bleibt da vieles im Dunkeln. Begründet wird dies, in der Konkordanzdemokratie Kompromisse schliessen zu können.

Strukturprobleme verschärft, nicht gelöst
Hat es auch seine Handlungsfähigkeit des politischen Systems verbessert? Der Rundgang zeigte, dass der Neokorporatismus im Umfeld des Bundesrats weiter funktioniert, im Parlamentsumfeld aber pluralistisch erweitert wurde. Das Lobbying stärkt das Gemeinwohl nicht, aber die Partikularinteressen. Durchwursteln wird das bisweilen apostrophiert.
Adrian Vatter bezeichnet genau das als eines der drei Strukturprobleme des Bundesrats im Herzen des Regierungssystems. Die Ansprüche sind auch wegen des Lobbyings steigend. Die Handlungsmöglichkeiten des liberal geprägten Staates bleiben jedoch beschränkt.
Mit einem Bild: Die Schweiz gleicht keinem Tanker im Meer, eher einem Boot im Wind. Das hält das Land flexibel. Bei Sturm droht es zu versagen. Aktuell sieht man das an Dossiers wie der Sozialpolitik, der Europa-Frage und des Corona-Regimes. E ist nicht auszuschliessen, dass daraus neue Protestbewegungen entstehen.
Das wurde mir 2020 bewusster denn je. Meine im letzten Februar konzipierte Stadtwanderung musste innert Jahresfrist mehrfach umarbeiten. Und jetzt auch die neue Premiere am Jahreskongress der Schweizerischen Vereinigung für Politische Wissenschaft COVIS19 zum Opfer gefallen.

Kein weiter …
Ich bin fertig!

12. Station: furrerhugi – der Schlüssel zu Bundesbern

Wir stehen hier im Loeb-Viertel. Das besteht aus einem Warenhaus und einer Kommunikationsagentur. Beide sind in Bern eigentliche Qualitäts-Marken.

Bekannt wurde “Loeb” durch François Loeb, Spross derjenigen jüdischen Unternehmerfamilie, die 1881 an der Spitalgasse ein kleines Textilgeschäft eröffnet hatte. Er war nicht nur als Berner Unternehmer legendär. Auch als freisinniger Politiker im Nationalrat war er hoch angesehen. Unvergessen ist sein Engagment für den EWR-Beitritt
Heute führt Nicole Loeb das Unternehmen in der fünften Generation. Sie ist die Partnerin von Lorenz Furrer. Der wiederum ist mit Andreas Hugi Eigentümer der Agentur “furrerhugi”. Entsprechend sind sich Kaufhaus und Agentur direkte Nachbaren.
Furrer und Hugi repräsentieren die beiden Hintergründe der Entstehung, die europäische Integration und die Informatik. Sie sind auch einen eine Brücke zwischen Bern und Zürich. Zusammengebracht haben soll sie Ruedi Noser, dem heutigen Ständerat aus Zürich in der Bundesstadt. Das prägt bis heute den «Stallgeruch».

Lobbying als Teil des Public Affairs Managements
Im Firmenporträt steht, die inhabergeführte Kommunikationsagentur vernetze Menschen mit eigenen Ideen an der Schnittstelle von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Bezogen auf das Lobbying tönt das so: «Lobbying ist in unserem Verständnis ein Teil eines umfassenden Public Affairs Managements: Es geht dabei um den gezielten Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess in direkten Kontakten zu Politikerinnen und Politikern, Vertreterinnen und Vertretern der Verwaltung und bisweilen auch Regierungsmitgliedern» (furrerhugi 2021).
Dargestellt wird die Einflussnahme der Firma anhand des hauseigenen LobbyWheel:
Phase 1: Konzeption mit Zieldefinition und Strategiewahl
Phase 2: Stand-By Lobbying mit Issue- und Stakeholder-Monitoring sowie Stakeholder Management
Phase 3: Operatives Lobbying mit konkreten Projekten zu Entscheidungen und
Phase 4: Evaluation der Zielerreichung

Poll-JournalistInnen zur Vernetzung mit den Massenmedien
Das hat man zwischenzeitlich x-fach anwenden können. Es hat das Unternehmen zum interessanten Geschäftspartner für viel Akteure gemacht. Speziell ist die Agentur auch, weil es eine ganze Abteilung mit ehemaligen JournalistInnen beschäftigt, die für den direkten Zugang zu Massenmedien eingesetzt werden.
Insgesamt arbeiten rund 50 Personen in der Agentur mit Niederlassungen in Bern, Zürich, Genf, Freiburg und Lugano. Umgesetzt werden Mandate für 10 Millionen CHF jährlich. Damit platziert man sich an zweiter Stelle der Branche, gleich hinter Farner Consulting AG.
Die öffentlich zugängliche Kundenliste von furrerhugi. ist beachtlich. Sie umfasst knapp 100 Institutionen und Akteure. Dazu zählen staatliche Stellen beispielsweise der Kantons Zürich, wichtige Verbände wie die economiesuisse, die FMH, curafutura, Unternehmen von der SRG bis Glencore, aber auch lokale Institutionen wie die Hauptstadtregion Schweiz. Betreut werden auch parlamentarische Gruppen wie jene für Philanthropie.

Trendsetter beim Netzwerk in die Wissenschaft
Gelernt hat man bei Furrerhugi. namentlich aus der Abstimmung zur Masseneinwanderung. Da erkannte die Mobilisierung der Wissenschaft als relevanten Faktoren, um Entscheidungen beeinflussen zu können. Seither hat man Netzwerke aufgebaut, die bewusst Staat, Unternehmen und Universitäten verknüpfen. Damit ist man Konkurrenten voraus.
Beim Nein zur Durchsetzungsinitiative hat sich das gelohnt. Denn hier traten WissenschafterInnen prominent gegen das SVP-Begehren auf. Heute ist das fast schon üblich geworden wie die anstehende Abstimmung über das CO2-Gesetz aufzeigt.

Starkes Engagement gegen die Konzernverantwortungsinitiative
Wie das Kommunikationshandwerk funktioniert, konnte man auch bei der Konzernverantwortungsinitiative sehen. furrerhugi. gehörte zu den führenden Agenturen, die von der economiesuisse mandatiert die Nein-Seite vertraten.
Zentrale Botschaften waren die Bürokratie beim Vollzug oder konkrete Nachteile für die Schweiz. Hinzu kam die Kritik an der Kampagne der BefürworterInnen. Vom aggressiven «negative campaigning» aus SVP-nahen Kreisen gegen das Volksbegehren distanzierte man sich allerdings öffentlich.
Organisiert haben soll furrerhugi. das prominente Engagement der grünliberalen Nationalrätin Isabelle Chevalley im Abstimmungskampf. Obwohl die damalige Vizepräsidentin damit gegen ihre eigene Partei antrat. Doch es passt, um einer neuen Leseweise von Entwicklungshilfe zum Durchbruch zu verhelfen.
Der Abstimmungsausgang war knapp, sehr knapp! Das weiss auch di Agentur. Man habe von Anfang damit gerechnet und gezielt auf das Ständemehr gesetzt, sagte Lorenz Furrer verschiedenen Tageszeitung. Es gab eine hauseigene Untersuchung aller Gemeinden mit ihrem Potenzial für und gegen die Vorlage. Entsprechend gestaltete man die lokale Medien- und Werbeplanung.
Es hat sich ausbezahlt: Dafür stimmten 51%, aber nur 8½ Kantone. Das reichte nicht für die Annahme.

Clé de Berne – Schlüssel zu Bundesbern
Das Engagement gegen die KVI hat der Agentur einiges an Kritik eingebracht. Insbesondere ein Video der Initiantinnen verbreitete heftige Anwürfe. Das machte die Leitung und die Mitarbeitenden schwer betroffen.
Neu ist das nicht. Maurice Thiriet, Chef beim online-Magazin «Watson» bezeichnete furrerhugi. schon mal als «Agentur fürs Grobe». Sich selber versteht man sich eher als Ring von «smart boys» (und «smart girls!»).
Dazu trägt auch das hausinterne Restaurant “Clé de Berne” mit Clubatmosphäre bei, wie der Treffpunkt für KundInnen und solche, die es werden möchten, heisst.
Weniger gelassen reagierte ein Teil des Nein-Komitees. Es kritisierten namentlich die Verwendung von staatlichen Zuschüssen an Hilfswerke für die Kampagne. Das EDA hat das nach der Abstimmung neu geregelt.

Und weiter …
Nicht wirklich geregelt bleiben die Finanzen in Wahl- und Abstimmungskämpfen. Das hat mit der mangelnden Transparenz in der Schweiz zu tun.
Auf zu meiner Bilanz der Stadtwanderung irgendwo im Regierungsviertel!

11. Station: Aussichten vom Dach des Dachverbands economiesuisse

Auf dem Dach dieses Hauses hat man einen schönen Ueberblick über die Stadt Bern und ihr Regierungsviertel. Schöner noch als wie ihn bei der Miniature hatte. Nur gehört er hier ganz economiesuisse, dem Dachverband der Schweizer Wirtschaft. Im Dachstock hat sie ihre Berner Dependence.

Steuern wie Steuerrad und Staatsabgaben
Der Steuermann ist im Griechischen ist der Kybernos. Von ihm leitet sich die Kybernetik als Lehre der Regelung von Maschinen ab. Das übertrug man im 20. Jahrhundert die Biologie, Psychologie und die Sozialwissenschaften. Da ist sie die Kunst des Steuerns – mit den Mitteln der Macht, des Geldes und der Kommunikation.
Es ist ein wenig wie es David Easton viele von uns lehrte. Er war einer der einflussreichsten Politikwissenschafter in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Staat sei eine Black-Box, schrieb er. Man steurt sie mit relevanten Inputs, um den gewünschten Output zu erhalten. Dazu kam der «throughput», die Funktionsweise der Black-Box.
Genau das hat economiesuisse früh begriffen. Und der Dachverband hat genau das vielen anderen Lobbyorganisationen voraus. Man schaut an der Zürcher Hegibachstrasse von aussen auf Bundesbern, kennt es aber dank dem Beobachtungsposten in diesem Haus auch von innen her bestens.

Die Organisation des Dachverbands
Economiesuisse trat früher als «Vorort» der Schweizer Wirtschaft auf. Das war der Vertreter des liberalen Korporatismus. Dann kam in den 1980er Jahren die die zeitgenössische Globalisierung. Sie verlangte von Firmen und Verbänden eine Anpassung an das veränderte Umfeld. Das Nein zum EWR wirkte wie ein Bruch. Seither heisst die neuformierte Organisation «economiesuisse».
An der Spitze stehen heute Christoph Mäder, ein Jurist mit vielfältigen Beziehungen in die Privatwirtschaft, und Monika Rühl, eine Spitzendiplomatin. Sie war persönliche Mitarbeiterin eines Bundesrats und Generalsekretärin im WBF, bevor sie Direktorin der economiesuisse wurde.
Zentrale Tätigkeitsgebiete der führenden Lobbyorganisation sind die Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie die Infrastruktur- resp. Wettbewerbspolitik. So jedenfalls will es das Organigramm.
In der Tat steht die Steuerpolitik aus zwei Gründen zuoberst: Erstens erlauben es tiefe Steuern Unternehmen und Konsumenten, mehr zu investieren resp. zu konsumieren. Und zweitens regelt die Gesamthöhe der Steuern, wie viel dem Staat an Mitteln zur Verfügung steht.
Vorzeigeobjekt des Dachverbands ist die Schuldenbremse. Deren Einführung hat man zu Beginn des 21. Jahrhunderts eng begleitet hat. Grundidee war und ist, dass der Staat nicht mehr ausgeben als einnehmen darf. Das muss nicht jedes Jahr so sein, aber innerhalb eines Konjunkturzyklus. Es hat gewirkt: Die Schweiz funktioniert in vielem nach dem Prinzip des schlanken Staates und die Schulden haben sich verringert.

Drei Stärken von economiesuisse
Meines Erachtens gibt es drei Gründe für die Erfolgsgeschichte der economiesuisse:
Die erste Stärke betrifft die Organisation selbst. Nach eigenen Angaben vertritt man 100’000 Firmen und 2 Millionen ArbeitnehmerInnen. Als Verband ist man zwar in Zürich zentralistisch organisiert, hat aber Ableger in Bern, Genf und Lugano. Zudem verfügt economiesuisse über Geschäftsstellen in allen Kantonen. Meist sind es lokale Handelskammern, Gewerbeverbände oder FDP-Sekretariate.
Die zweite Stärke besteht in der Kombination des Lobbyings mit dem Campaigning. Geht es um Fragen des Wirtschaftsstandortes Schweiz, ist die Organisation permanent aktiv. Verstärkt wird dies durch Kampagnen bei Volksabstimmungen, die aus Wirtschaftssicht interessieren.
Die dritte Stärke entstand erst in letzten 30 Jahren. Nach dem Nein zum EWR 1992 wagte man sich vermehrt in die Öffentlichkeit. Der Verband entwickelte sich zur Kommunikationsdrehscheibe im Vordergrund, wirkt aber in der der Wissenschaft und in Kampagnen weiterhin auch im Hintergrund.
Letztlich ist die Kombination aus Macht, Geld und Kommunikation für die Einflussnahme entscheidet.

Probleme des Neokorporatismus
Doch auch hochprofessionalisierte Politunternehmen wie die economiesuisse kämpfen bisweilen mit Problemen in der schwer berechenbaren direkten Demokratie. In der Europapolitik gibt es eine dauerhafte und heftige Opposition von rechts. Und in Steuerfragen wird man von links angegriffen. Das hat damit zu tun, dass die Vorstellungen der sinnvollen Globalisierung anzugehen ist, voneinander abweichen.
Neuerdings gibt es auch eine Konkurrenz zwischen der economiesuisse und dem Gewerbeverband, die tendenziell einen anderen Teil der Wirtschaft und damit divergierende Interessen vertreten. Gleiches gilt für die Schnittlinie zu swisscleantech.
Eigentlicher Einschnitt war der Fall der Swissair in den 1990ern. Unser Fluggesellschaft stürzte mit der Hyperglobalisierung ab..
In der Folge lancierte der Schaffhauser Unternehmer Thomas Minder die Abzocker-Initiative, die sich gegen die exorbitant hohen Gehälter der Schweizer Managerelite wandte. In der Volksabstimmung von 2013 ging sie glatt durch, was die economiesuisse in eine ungewohnte Verliererposition versetzte. Der zweite Einschnitt war die SVP-Initiative gegen die Masseneinwanderung. Auch sie ging zugunsten der Opposition aus.

Ungeahnte Kräfte der Hyperglobalisierung
Heute versucht man bei economiesuisse die zentralen Ziele im Auge zu behalten, aber Angriffsflächen zu beschränken. Kurzfristig setzt man sich für die CO2-Steuer ein. Darüber hinaus geht es namentlich um den Rahmenvertrag. Beides ist nicht umstritten. Bei der Energiewende sind die politischen Entscheidungen schon weitgehend gefallen; da geht es noch um die Umsetzung. Anderes bei InstA. Da zögert der Bundesrat aufgrund des Veto aus Gewerkschaften und Gewerbeverband. Alleine vorangehen und den Winkelried spielen mag man dann doch nicht.
Das hat auch die Partners Group aus Baar im Kanton Zug gemerkt. Um sie herum gruppiert sich gegenwärtig die Europa-Gegner der Post-Brexit-Aera. Ihr Slogan: «What ever it takes!». Was immer es koste, heisst das auf Gut-Deutsch. Es meint, dass sich heute eine neue Form der plutokratischen Herrschaft aus Big-Business, Geld und PR formiert. Selbst für economiesuisse eine Herausforderung!

Und weiter …
Im Kampf für eine offene Europa-Politik bleibt economiesuisse das Rückgrat. Die Rippen, die den Körper stützen sollen, sind aber vielfältig. Darunter gehören verschiedene PR-Agenturen.
Weiter!

10. Station: Digitslisiertes Lobbying und Campaigning bei den Grünen

Wir stehen vor dem Generalsekretariat der Grünen Schweiz. Es arbeitet im «Haus zum alten Zeughaus». Hier hölt man den alten militärisch-industriellen Komplex von innen her aus. Dafür stösst man in die digitale Politsphäre vor.


99 Luftballons als Anfang
Der Bundesplatz stellt das politische Machtzentrum der Schweiz dar. Er ist zu meiner Linken. Rechts von mir ist der Waisenhausplatzplatz, der Ort der Armen im Ancien Régime. Dazwischen ist der langgezogene Bärenplatz. Da fanden in den 1980er Jahren verschiedene Manifestationen der Friedensbewegung statt. Mann und Frau waren für die Abrüstung, denn sie fürchteten die atomare Eskalation zwischen den USA und der UdSSR.
Gesungen und getanzt wurde damals zu Liedern wie «99 Luftballons» der deutschen Popsängerin Nena. Mit dem Geld, das sie damit machte, gründete sie die Neue Schule Hamburg, ein Haus zur Förderung der Demokratie, und sie praktizierte als Pionierin den veganen Lebensstil.

Die Wahlsiegerin 2019
Nach der Wahlniederlage 2015 erinnerte die Präsidentin Regula Rytz ihre Partei an den Ursprung. Man müsse den Kampf wieder auf die öffentlichen Plätze bringen, um als erneuerte Bewegungspartei wieder gewinnen zu lernen, folgerte sie.
Und siehe da: Die Klimawahl machte die GPS zur großen Siegerin. Sie steigerte ihren Wählenden-Aanteil auf 13.2% und errang 28 Nationalrats- und fünf Ständeratsmandate – ein historisches Ergebnis. Bei der Wählendenstärke ist die GPS neu die Nummer vier, bei den Sitzen unverändert die Nummer fünf.
Doch der anschließende Angriff auf die Zauberformel bei den Bundesratswahlen 2019 scheiterte. Regula Rytz wurde nicht erste grüne Bundesrätin. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, kommentierte ihr Nachfolger als Parteipräsident Balthasar Glättli. Man schaut gespannt, was noch kommt.
Die «NZZ am Sonntag» analysierte das Dilemma der Grünen jüngst so: «Glättli blickt seit einiger Zeit gebannt auf den Klimastreik und die Klimabewegung, weil er weiss, dass er sie enttäuschen muss, wenn er Erfolge im Parlament erreichen will – dass er aber von ihrer Bewegung abhängig ist.».

Politische Kommunikation der nächsten Generation
Weniger beachtet, haben die Grünen im Wahljahr pickelhart an ihrer Kommunikationsfähigkeit mit eigenen Medien gearbeitet. Wo es geht, kommunizieren sie direkt mit ihren Zielgruppen in Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft. Social Media bestimmen das Geschehen der Grünen mehr als das der Konkurrenz.
Das haben die Grünen zuerst in der Stadt, dann im Kanton Zürich. Schliesslich eroberte das erfolgreiche Komm-Team die Bundesebene. Seit den Wahlen profilieren die Grünen auf diese Weise nicht nur sich, sondern auch ihre Parlamentsdelegation und ihre Jungpartei augenfällig.
Im Umfeld der Grünen entstand mit der Konzernverantwortungs-Initiative auch die Plattform „WeCollect“, heute von der Stiftung für direkte Demokratie getragen. Geführt wird sie vom Campaigner Dani Graf. Sie will die Digitalisierung nutzen, um die BürgerInnen-Gesellschaft und damit die Demokratie zu stärken.
Dafür hat WeCollect ein neues und effizientes Konzept der Unterschriftensammlung via Internet entwickelt. Es wirkt als effektives Drohmittel einer außerparlamentarischen Opposition. Vielfach verbessert treten heute zahlreiche Gruppen aus der Zivilgesellschaft ausgesprochen selbstbewusst auf.
So war es auch WeCollect, welche die früher erwähnte Lockerung der Kriegsmaterialausfuhr mit einer angedrohten Volksinitiative von unten zum Stoppen brachte. Ihr bisheriges Paradestück hat die Plattform mit Referendum gegen die sog. Versicherungsspione abgeliefert. Ich selber nannte es das erste Twitter-Referendum, weil es im sozialen Medium unter anderem von der Schriftstellerin Sibylle Berg lanciert worden war. In der Volksabstimmung scheiterte die politische-mediale Oppositionsbewegung allerdings deutlich.

Zwischen CrowdLobbying und Aareschwimmen
Zu den Spezialitäten der Stiftung gehören das Crowdfunding und das Crowdlobbying. Ersteres funktioniert fast immer gut und bringt Geld in die Kassen linksgrüner Bewegungen. Zweiteres erlebte seine eigentliche Feuertaufe beim Stimmrechtsalter 16. Es sei eine Kombination von Campaigning und Lobbying, analysierte der Zürcher Politologie-Professor Fabrizio Gilardi jüngst in der SRF-Tagesschau.
Crowdlobbying wird eingesetzt, um Kommissionsmitglieder auf digitalem Weg anzusprechen, mit geeigneten Statements zu versorgen und durch eine symbolisierte Bewegung zu beeindrucken. Im Nationalrat wirkte es jedenfalls verstärkend. Bei der staatspolitischen Kommission des Ständerats wird dies vermutet.
Die Initiantin von Stimmrecht 16, die Grüne Sibel Arslan, erzählt, wie auch ihr Netzwerk zum Einsatz kam. Die Nationalrätin ist nämlich Präsidentin der Parlamentsgruppe «Friends of Aare Sunset Swimming», kurz FASS. Das ist eine Vereinigung vornehmlich älterer Parlamentarier bürgerlicher Herkunft, die während der Session mit Frau Arslan schwimmen gehen und danach noch politisch eingeseift werden. Das soll schon mal entscheidend gewesen sein, dass gewisse Volksvertreter im entscheidenden Moment nichts statt Nein drückten.
Arslans kompetenter Handlungsbevollmächtigter ist übrigens Philippe Kramer aus der Klimastreikbewegung. Er arbeitet aus dem Hintergrund für PublicBeta, dem Demokratie-Inkubator für die Zivilgesellschaft. Gerade 20 Jahre alt, kümmert es ihn nicht, Lobbyist genannt zu werden. Eine neue Generation Öffentlichkeitsarbeiter tritt auch da auf den Plan.

Und weiter …
Auch bei economiesuisse nennt man sich offen Lobbyist oder Lobbyistin. Obwohl die etablierte Generation ein ganz anderes Lobbyingverständnis hat und andere Ziele verfolgt. Let’s go and have a look!

9. Station: Kantone als Lobbyisten

Wir stehen von dem «Haus der Kantone». Hier treffen der horizontale und der vertikale Föderalismus zusammen. Da koordinieren sich die Kantone und sie lobbyieren beim Bund.

Viele Souveräne
Seit 1803 hat jeder Kanton eine eigene Verfassung. In den 1830er Jahren kamen Parlament, Regierung und Gericht hinzu. Das alles ist älter als auf der Bundesbene. Es stärkte das anhaltende Bewusstsein der Kantone, Souveräne zu sein.
Bei Verfassungsänderungen auf Bundesebene braucht es nicht nur das Volksmehr. Es ist auch eine Mehrheit der Stände nötig.
Und im Komplex des Bundesstaates ist unser «Oberhaus». der Ständerat, absolut gleichwertig wie das «Unterhaus», der Nationalrat. Das ist weltweit einmalig, wie Politologe Arend Lijphard uns alle lehrte.
Stärken und Schwächen des Föderalismus
Schon Napoleon Bonaparte erkannte das Wesen der Schweiz. Als er 1803 mit der Mediationsverfassung die Kantone schuf, sagte er: «La nature a fait votre Etat fédératif, vouloir la vaincre n’est pas d’un homme sage.»
In der Tat : Die Vielfalt der Regionen und Identitäten, welche die Schweiz ausmachen, finden dank dem Föderalismus Eingang in die Nation. Die Kantone sind auch ein Laboratorium für Experimente.
Doch sind da auch Nachteile. Fast unlösbar sind die Schwierigkeiten, wenn Sprachregionen, verstärkt durch ihre Kantone, unterschiedliche Wege gehen wollen. Dann ist vom «Röstigraben» die Rede – der bis heute problematischsten aller Konfliktlinie im Bundesstaat.

Konferenzen der Kantone
Ein Versuch der Abhilfe ist die Konferenz der Kantonsregierungen. Sie ist ein Kind der Krise nach der EWR-Abstimmung. Mit der KdK wollten sich die Kantonsregierungen vermehrt Gehör verschaffen. Dass ihr Haus heute in Bern steht, macht klar, an wen man sich wendet: den Bund! Ursprünglich war man nämlich in Solothurn, um sich dem Einfluss der Bundesverwaltung zu entziehen.
Doch das ist lange her! Seit 2008 ist man hier, weil man koordiniert auf die Exekutive Einfluss nehmen will.
Lobbyieren wollen heute nicht nur die kantonalen RegierungspräsidentInnen. Es tun dies auch die Konferenzen verschiedener Direktionen wie Justizdirektionen, der Gesundheitsdirektionen oder der Finanzdirektionen statt.
Vereinfacht wurde das föderalistische Geflecht damit nicht: «Kantone, Kantone, Kantone!», soll man in der Bundeskanzlei immer wieder hören. Doch wer repräsentiert sie? Ist es der Ständerat, dafür eigentlich vorgesehen? Die Kantonsparlamente, die stolzen Träger der kantonalen Souveränitäten? Oder eben die Regierungskonferenzen, die in Bundesbern lobbyieren?

Testfall Corona-Notrecht
Der Fraktionschef der SP im Bundeshaus, Roger Nordmann, selbst ein ausgebildeter Politologe aus Lausanne, brachte es während der Corona-Krise auf den Punkt. Wenn die Gesundheitsdirektoren sachliche Einigkeit anstreben, finden sie sich im kleinsten gemeinsamen Nenner. Geht es ihn dagegen um finanzielle Forderungen gegenüber dem Bund, strebe man es, das maximal erreichbare Niveau an.
Während des Notrechts beklagten die Kantone, die Unterschiede zwischen den Kantonen seien zu gross, um eine einheitliche Corona-Politik durchziehen zu können. Mit dem Ende des Notrechts bekamen sie ihre Kompetenzen zurück. Sie mussten aber auch für die Kosten aufkommen. Bis einige Kantone fanden, Notrecht sei besser, weil günstiger. Das wiederum wollte der Bundesrat nicht nicht mehr machen.
Politologe Silvano Moeckli schrieb damals träf: Wir kennen den horizontalen Föderalismus. Wir kennen auch den vertikalen Föderalismus. Doch jetzt haben wir den diagonalen Föderalismus. Jeder steht dem anderen im Weg!
Glücklicherweise arbeiten heute Bundesrat Alain Berset und Lukas Engelberger, der Präsident der Gesundheitsdirektor, eng zusammen. Der Bund macht in der Corona-Politik Vorgaben. Er berücksichtigt dabei Kantone mit Pioniercharakter ganz besonders. Und er übernimmt mehr und mehr die Kosten. Und selbst die Nationalbank hilft neuerdings, will sie doch 2021 6 statt 4 Milliarden Franken Gewinn an die finanziell angeschlagenen Kantone verteilen. Aber es gibt kein Notrecht!
Gut lobbyiert, könnte man sagen!

Lobbyist für Kantone und anderes mehr
Ein eigentlicher Wendepunkt im Geflecht von Bund und Kantonen war das Steuerpaket von 2004. Trotz Steuersenkungen wurde es in der Volksabstimmung verworfen.
Schon davor wurde Alfred Rey, Vizedirektor des Eidgenössischen Finanzdepartements. Er wurde als Vermittler zwischen den Interessen gerufen. Der Ökonom, der CVP nahestehend, warnte schon im Voraus. Die Kantone könnten bei der angestrebten Verlagerung von Kompetenzen weg vom Bund nicht mithalten. Sie müssten sich in die Opposition zum Steuerpaket begeben.
Rey sollte recht behalten: rebellierende Linke und oppositionelle Kantone sind in Steuerfragen zu viel, um eine Volksabstimmung gewinnen zu können.
Nach dem Volksentscheid schrieb die NZZ lobend über den König des Föderalismus, man solle bei einer Neuauflage mehr auf den gewieften Kantonslobbyisten im Bundessold hören. Doch nur sechs Jahre später berichtete die gleiche NZZ ganz anders über die gleiche Person. Am Falkenplatz in Zürich hatte man nämlich herausgefunden, dass der Chefbeamte nicht nur Lobbyist für die Kantone war, sondern auch für Private. Zu 80% wurde er vom Bund bezahlt, zu 20% arbeitete er für Vereinigungen von Behindertenwerken. Stets unter der gleichen Telefonnummer erreichbar. Das Doppelspiel wurde bald beendet-
Heute lebt Rey vereinsamt in Bern. Er ist auf Stöcke angewiesen und nutzt fleissig die Bänke, welche die Stadt für Behinderte bereit gestellt hat.
Transparency International hält den Fall “Rey” für ein krasses Einzelbeispiell. Die Ethik der BeamtInnen im Bern sei im internationalen Vergleich hoch. Die Vorschriften für ihr Verhalten würden zudem im internationalen Vergleich Bestand halten.

Und weiter …
Wir sind etwas beschwichtigt! Und wir schauen als Nächstes auf Parteien als LobbyistInnen.

8. Station: Gediegene Clubs für das Soziale und Menschliche

Wir sind jetzt vor dem Schweizerhof. Nach dem Bellevue Palace ist das der vermutlich zweitwichtigste noble Treffpunkt für Lobbyisten in Bundesbern.


Der Club politique
An diesem Ort finden regelmässig abendliche Treffen des „Club Politique“ statt. Ins Leben gerufen wurde diese Vereinigung von Reto Nause, Mitglied der Berner Regierung und Vertreter der CVP, heute der Mitte.
Präsidiert wird der Club von Victor Schmid. Seine politische Karriere begonnen hatte der doktorierte Soziologe als persönlicher Berater von Bundesrat Flavio Cotti. Heute ist er Mitinhaber der Hirzel.Neef.Schmid.Konsulenten AG, eine der führenden Komm-Agenturen in der Bundesstadt. Die” NZZ am Sonntag” nannte ihn jüngst den Grandseigneur der Kommunikationsberatung in Bern. «Lobbyist» hört er nicht gerne, und seine Firma ist auch keine PR-Agentur!

Hochkarätige Gäste
Die Gästeliste des Club Politique ist hochkarätig. Sie umfasst seit 2013 sieben BundesrätInnen, einen Bundeskanzler, fünf StänderätInnen und 23 NationalrätInnen. Man findet darauf auch Firmenchefs und -chefinnen, VerbandspräsidentInnen, ParteisekretärInnen, DiplomatInnen, PublizistInnen und fast alle PolitologInnen aus Bern. Natürlich war auch ich schon mehrfach Referent hier. Und ich bin Mitglied.
Bezahlen muss man in diesem Club übrigens nichts. Für die Aufnahme braucht es aber eine Empfehlung. Und es ist ein Leistungsausweis als Person des öffentlichen Lebens nötig.
Als Beatrice Wertli, die frühere CVP-Generalsekretärin, das Managemnt des Club inne übernahm, stieg der Anteil Frauen im Saal spürbar an
Obwohl der Club ein offensichtliches CVP-Herz hat, kommen hier Leute aus fast allen Parteien. Denn überparteiliche Beziehungspflege bleibt die wichtigsten Voraussetzung für das Lobbying in der Bundesstadt.

Veranstaltungen als Ritual
Die Veranstaltungen im Club sind ein Ritual: Der Gast, die Gästin trägt etwas Wichtiges vor. Danach wird auf einem kleinen Podium debattiert, und zuletzt mischt sich das geladene Publikum ein. Mindestens so wichtig wie der offizielle Teil ist allerdings der obligate inoffizielle Stehlunch danach.
Gehört man zum erlauchten inneren Kreis des Clubs, kann es durchaus sein, dass man mit einem Bundesrat oder einer Bundesrätin im petit comité dinieren und eine anstehende Problematim zu erörtern.
Der hiesige Club Politique ist bei Weitem nicht der einzige seiner Art in Bern. Sie wurden in den letzten 20 Jahren bewusst gefördert. Denn viele der Lobbyzentren in der Schweiz waren in Zürich oder Genf. In Bern herrschte lange Nachholbedarf – bei hervorragenden Voraussetzungen mit der Bundespolitik und der Bundesverwaltung.

Food&Fun am beliebtesten
Beliebter noch als Abende wie im Club sind Anlässe ohne Agenda und übergeordnetes Thema. Dazu gehören auch gesellige Kochrunden, wie sie die Agentur furrerhugi. pflegt. Da bereiten zwei ParlamentarierInnen meist aus verschiedenen Fraktionen ihr Süppchen vor und servieren es ihren Gästen.
Am beliebtesten sind allerdings Schifffahrten auf dem Thunersee. Das segelt dann unter “Food&Fun” in aller Abgeschiedenheit des Berner Oberlandes und ohne jeden thematischen Zwang. Vielleicht ist sogar das die ganz hohe Kunst des Netzwerkens.

Krise des Informellen
Genau dieser informelle Bereich des Lobbyings ist unter Corona-Bedingungen in eine eigentliche Krise geraten. Das ist nicht zu unterschätzen. Fast 30 Prozent der jetzigen ParlamentarierInnen wurden erst 2019 gewählt. Sie haben bis jetzt genau eine ordentliche Session erlebt, danach nur solche, die abgebrochen, ausser Stadt oder hinter Plexiglas durchgeführt werden. Das Soziale und Menschliche an der Politik leidet darunter.
Die Meinung, ob das von Gutem oder Schlechtem sei, gehen weit auseinander. Martin Schläpfer, langjähriger Migros-Lobbyist, meint etwa, ParlamentarierInnen kämen so zu den 20% massgeblichen Informationen, die nie in amtlichen Unterlagen stehen würden. Hart ins Gericht genommen wird er von Gerhard Pfister. Der NZZ diktierte er jüngst ins Notizbuch, das sei ein dreiste Erfindung der Lobbyisten, um sich selber und ihre Events wichtig zu machen. Punkt!
Persönlich kennen gelernt habe ich den früheren CVP- und heutigen Mitte-Präsidenten übrigens hier im Club Politique, als er seine neu positionierte Partei vorstellte und mit allen anstiess.

Und weiter …
Fertig mit Internas! Als nächstes packen wir die Kantone als Lobbyisten.
Als nächstes packen wir die Kantone als Lobbyisten.

7. Station: alte und neue Formen der Regierungsberatung

Haaaaalt! – Fast wären wir achtlos an einer wichtigen Station unserer Stadtwanderung vorbeispaziert. Das wäre sogar symptomatisch gewesen. Denn wofür dieser Eingang steht, geht gerne vergessen.


Christoffelgasse 5, Beren

Was ist die ElCom eigentlich?
Es ist der Sitz der «ElCom», mit vollem Namen die «Eidgenössische Elektrizitätskommission».
Nie gehört?
Im Internet wird die ElCom als «unabhängige, staatliche Regulierungsbehörde, welche die Preise und Tarife im Elektrizitätsbereich überwacht» vorgestellt.
Staatlich! Also eine Institution.
Unabhängig? Also ein Akteur.
Mit dem Organigramm der ElCom erfährt man, dass es hier ein Fachsekretariat gibt. Dieses untersteht der ElCom. Diese wiederum ist dem Bundesrat angegliedert. Nicht aber dem Generalsekretariat des UVEK. Das ist nur beim Fachsekretariat der Fall.
Alles unklar?
Volle Absicht!

Wer repräsentiert die ElCom?
Nun der Reihe nach: Präsidiert wird die ElCom seit 2020 von Werner Luginbühl, vormals bernischer Ständerat. Seine Stellvertreterin heisst Laurianne Altwegg. Er war bekannt als Interessenvertreter der Wasserkraft, sie kommt vom Westschweizer KonsumentInnenforum.
Die Kommission ist für die Sicherheit der Stromversorgung des Landes zuständig. Das ist gemäß Risikoanalyse des Bundes eine der drei teuersten und einigermassen wahrscheinlichsten Herausforderungen des Landes. Die beiden anderen sind Erdbeben und Pandemien. Das kennen wir ja jetzt!
Die traditionellen ausserparlamentarische Kommission
Im Jargon der Schweizer Institutionen ist die ElCom eine ausserparlamentarische Kommission. Die gehören in den Vollzugsbereich. Man darf sich nicht verwechseln mit den Parlamentskommissionen und den
Expertenkommission der Verwaltung.
Mehr als 150 ausserparlamentarischer Kommissionen gibt es auf Bundesebene; im Schnitt rund 20 pro Departement. Total zählen sie über 1’600 Mitglieder, die auf jeweils vier Jahre gewählt sind.
Einige dieser Kommissionen sind ziemlich bekannt. So zum Beispiel die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus. Andere sind es weniger, wie die Eidgenössische Kommission der Schweizerischen Nationalbibliothek.
Die Präsidien solcher Kommissionen sind gut bezahlte Posten. Auffällig viele werden von zurückgetretenen PolitikerInnen wahrgenommen.
Namen? – Felix Gutzwiller, Christine Egerszegi, Marine Brunschwig-Graf, Peter Bieri, Corina Eichenberger und Verena Diener.
In einem Fall präsidiert gar ein aktives Parlamentsmitglied die ausserparlamentarische Kommission: Thomas Hurter, SVP-Nationalrat aus Schaffhausen, steht der Kommission für Weltraumfragen vor. Und bis vor kurzem war auch der verstorbene Flavio Cotti, alt Bundesrat, einer der Fachberater des Bundesrats

Der mehrfache Rollenwandel
Die Internetseite der Bundesverwaltung preist die ausserparlamentarischen Kommissionen heute als Teil der „partizipativen Demokratie“. In der Demokratietheorie wird diese gelobt, denn sie vereinfacht die Beteiligung möglichst vieler BürgerInnen in möglichst vielen Bereichen des Staates.
Man kann es auch kritischer sehen. Denn diese Kommissionsform war sinnvoll, als die Verwaltung eine reine Milizorganisation war. So sicherte man sich seit jeher Wissen aus der Gesellschaft, das Verwaltungen fehlte.
Seit den 1980er Jahren gibt es kontroverse Diskussionen über Sinn und Unsinn der ausserparlamentarischen Diskussionen. Politologen wie Raimund E. Germann verlangten schon mal deren vollständige Abschaffung. Es handle sich dabei um nichts anderes als die Günstlinge an den aristokratischen Höfe, die überlebt hätten. Mit seiner Forderung ist Germann allerdings gescheitert.
Effektiv ist die Verwaltungsberatung weitgehend verschwunden. Geblieben ist die zweite Aufgabe, die Interesseneinbindung. Das bringt die „Außerparlamentarischen“ in eine Lobby-artige Stellung. Doch engagiert man sich hier nicht für seine Organisation. Vielmehr muss man zu einer Einigung kommen.
Eine Reform der ausserparlamentarischen Kommissionen vor 15 Jahren veränderte nur wenig. Vereinheitlicht wurde nur die recht grosszügige Entlöhnung.
Neu sind einige der Kommissionen ein Scharnier der Verwaltung zur Zivilgesellschaft. So fördert beispielsweise die Eidgenössische Kommission für Frauenfragen die Geschichtsschreibung der Frauen und vermittelt anerkannte Lerneinheiten an Schulen.

Die moderne Task Force
Bei einer Kommission kam es 2020 zum Eklat. Das war die Eidgenössische Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung. Sie wurde, als die erste Corona-Welle ausbrach, als überholt auf einem Abstellgleis fernab vom Geschehen versorgt.
An ihre Stelle trat die zwischenzeitlich bekannt «COVID-19 Task Force». Unterstellt ist diese nicht dem Gesamtbundesrat, sondern dem Eidgenössischen Departement des Innern resp. dem Bundesamt für Gesundheit. Zu deren Handen erstellt sie Policy Briefings, wissenschaftlich fundierte Analysen und Empfehlungen.
Man könnte sagen, dies sei ein Beispiel der modernen Form der Exekutivberatung.
Die Arbeitsgruppe besteht aus knapp 80 WissenschafterInnen aus verschiedenen Bereichen von Medizin bis Ökonomie. Viele sind an Universitäten und Hochschulen tätig, deren Erkenntnisse sie unentgeltlich und ehrenamtlich vermitteln. An der Spitze steht ein vierköpfiges Leitungsteam, begleitet von einem Advisory Board mit fünf Personen, welche die Fachrichtungen repräsentieren. Ihre Aushängeschilder kommunizieren auch in der Öffentlichkeit. Ihr Wort hat Gewicht.

Politik und Wissenschaft – ein vielfältiges Spannungsfeld
Die Arbeit des neuartigen Gremiums ist umstritten. Das hat vor allem mit der öffentlichkeitswirksamen Vermittlung zu tun. Beraten wird nicht nur die Regierung, auch die Öffentlichkeit.
Teile des Bundesrats haben dagegen opponiert. Einige Mitglieder der TAskForce sind zurückgetreten. Andere arbeiten, wenn auch etwas diskreter weiter.
Anlass der bundesrätlichen Kritik war, dass zahlreiche Mitglieder ihre Ansichten auch via Twitter kommunizierten und regelmässig als MedienexpertInnen zur Verfügung standen. Namentlich im Vorfeld der zweiten Welle setzten sie auch öffentlichen Druck auf. Der Bundesrat habe wider besseren Wissens die Lage falsch eingeschätzt.
Politikberatung ist kein direktes Geschäft des Lobbyings. Aber es ist verwandt. Die Wissenschaftstheorie hat vorgeschlagen, solche BeraterInnen sollten weder Gurus, noch VollzugsbeamtInnen sein.
Jürgen Habermas formulierte es vor einem halben Jahrhundert treffend: Es mache Sinn, dass beide Seiten ihre eigenen Diskurse führen würden, dabei aber in engem Austausch stehen sollten. Die Politik kann so von externem Wissen profitieren, doch die Wissenschaft muss akzeptieren, dass die Verantwortung für Entscheidungen bei der Politik bleibt.

Und weiter …
So, damit ist die Exekutive des Bundes komplett durchwandert. Wir verlassen den Kern des Regierungsviertels, um festzustellen, dass in den umliegenden Strassen noch sehr viele LobbyistInnen heimisch geworden sind.