potenzial der ethnohistorie

seit herodot oszilliert geschichte zwischen geschriebener und nicht-geschriebener variante. dabei favorisiert die geschichtswissenschaft die schriftliche form, weil sie der kritik besser zugänglich ist. das hat seine guten gründe! doch nun erhebt die ethnohistorie den vorwurf, dass so wesentliches der überlieferung unerfasst bleibe und im geschichtsbewusstsein verloren gehe. und der stadtwanderer doppelt nach; sie verschliesst einem den blick auf geschichte, die noch nicht geschrieben wurde, aber in grosser zahl rund um uns herum existiert. soweit die these zu meiner auseinandersetzung mit herodot und seinen folgen, – 3. teil!

folge 1: herodot – vater der geschichtsschreibung

folge 2: räume sehen und lesen lernen

unterschätzte ethnohistorie


während meines geschichtsstudium bekam ich von der verbindung der historie mit der ethnologie nur wenig mit auf den weg. ethnologie galt uns damals bestenfalls als erneuerte völkerkunde, die durch den missbrauch im dritten reich diskreditiert war. was danach folgte, war der versuch einiger intellektuellen, die nicht mehr kolonisierte, aber weiterhin traditionelle Welt zu verstehen. sie zu studieren, erschien mir wenig lohnend.

einen ersten gegenpunkt setzten die befreiungsbewegungen in aller welt, über die die medien im gefolge des vietnam-krieges berichteten. sie waren anti-amerikanisch, anti-imperialistisch, und sie hatten die sympathien meiner generation, was sich in der lektüre von unzähligen rororo-taschenbüchern äusserte. ernsthaft studieren konnte man dieses neue teilfach der geschichte jedoch nicht, und wenn sich einer wie (der schon früh verstorbene) albert wirz daran machte, da sah man darin den versuch, einen ganz spezialisierten lehrstuhl an einer fernen uni zu erwerben.

zwischenzeitlich hat sich die ethnologie kräftig gewandelt, und sie beginnt uns weltverständnis gründlich zu verändern. sie lehrt uns, die kulturellen selbstverständnisse der religionen, der philosophien und der sozialwissenschaften zu entdecken und zu reflektieren. dabei macht sie nicht halt vor der geschichtswissenschaften. wie alle kulturwissenschaften unterliegt sie zeitlichen und räumlichen einflüssen, ist sie selber kulturell gefangen.

assmanns und müllers grosser wurf

das markanteste buch, das ich hierzu letztes jahr in den schwedischen wäldern zu lesen begonnen und jetzt endlich verstehe, heisst „Der Ursprung der Geschichte“. herausgegeben wurde der sammelband von jan assmann und klaus e. müller.


(foto: schweden-wanderer, anclickbar)

der historiker assmann war bis vor kurzem professor für aegyptologie an der universität heidelberg; er erhielt 1998 mit dem deutschen historikerpreis die begehrtes auszeichnung der profession und hat seither eine fast unübersichtliche zahl von büchern, artikeln und interviews veröffentlicht. klaus e. müller ist emeritierter professor für ethnologie an der universität frankfurt und arbeitet seither an verschiedenen kulturwissenschaftlichen instituten. auch er hat in den letzten 10 jahren zahlreiche bücher veröffentlicht.

die beiden herausgeber beschäftigen sich mit ihren mitstreiterInnen mit den archaischen kulturen, dem alten ägypten und dem frühen griechenland. dabei geht es ihnen nicht um die schon so oft erzählte ereignisgeschichte: sie beschäftigen sich auch nicht mit neuen erkenntnisse der archäologie. vielmehr beschäftigt sich das wissenschaftsteam mit dem Verhältnis von zeit und geschichte, mit den geschichtsverständnissen vor herodot.

der verschlossene blick auf die orale ueberlieferung


vor allem im einleitenden kapitel von klaus e. müller zum ursprung der geschichte wird eine faszinierende ethnologische theorie von gegenwart, vergangenheit und zukunft, dem entstehen von erinnerung, ihre aufbewahrung und ihre darstellung vorgeführt. es geht darum, wie zeitverständnisse überhaupt entstehen, wie traditionen gebildet werden, wie trennungen davon perspektiven eröffnen und zurückgelassenes historisieren. und genau damit werden die voraussetzungen der geschichte geschaffen: denn nicht nur texte, auch kulturen archivieren wissen, sind gedächtnisse, museen vergangener zeiten gleich, die so in die gegenwart reichen.

das gebotene ist nicht zuletzt eine raffinierte kritik am geschichtsselbstverständnis der profession im gefolge herodots. denn geschichte ist viel älter als die vorherrschende geschichte der geschichtsschreibung vorgibt. geschichte existierte auch ohne die philosophie der griechen und das alphabet der phöniker. geschichte ist eine viel grundlegendere kulturelle leistung des menschen.

das alleine lässt aufhorchen, – und mahnt zur vorsicht: völker ohne schrift werden gemeinhin auf tieferem kulturellen niveau angesiedelt als solche mit schrift. und völker ohne schrift gelten deshalb den meisten als geschichtslos. damit sind wir wieder nahe bei wertlos, so wie die aussereuropäische geschichte in meinem studium. und wir sind auch bei herodots selbstverständnis.

dieses denkschema geht nicht zuletzt auf herodot zurück: wie bis heute üblich, unterschied er führende hochkulturen von abhängigen pflanzerinnen- und züchterkulturen, diese wiederum hat er gegen hirtennomadische kulturen abgegrenzt, die sie schliesslich über sammlerinnen- und jägerkulturen zu stellen.

formen der oralen geschichte

um aus diesem, vor literalität geprägten kulturverständnis auszubrechen, muss man sich, so der sammelband von assmann und müller, den annahmen der griechischen geschichtsschreibung versagen:

. man muss die geschichte vor der geschichtsschreibung entdecken wollen. . man muss sich den nicht-schriftlichen formen der überlieferung öffnen.
man muss dabei der falle der alten überlieferungen entweichen, die herodot vor 2500 jahren endlich überwunden hatte.

das ist ihr modernes programm der ethnohistorie, die ueberlieferung sehr wohl kennt, wenn auch nicht in literarischer form.

auf dieser suche nach traditionellen überlieferungsformen hat die ethnologie ziemlich allgemein sechs gattungen gefunden, die nicht-schriftlich von vergangenem berichten; es sind dies:

. mythen, die von der entstehung der welt durch die götter erzählen;
. legenden und sagen, welche die grossen taten tradieren, die halbgötter und urahnen vollbracht haben,
. genealogien, die die stämme aufzeigen, die von der gegenwart zurück zu den urahnen führen,
. grabreden, die gehalten werden, wenn jemand bedeutsames verstirbt und damit der genealogie übergeben wird,
. preisgesänge, die von den taten lebender menschen berichten, wenn sie in der öffentlichkeit auftreten, und
. geschichten, die man sich im alltag vor allem über die vielseitige tun und lassen der herrschenden erzählt.

mythen, legenden, sagen und genealogien sind für das weltverständnis traditioneller gesellschaften von grundlegender und wenig hinterfragter bedeutung. grabreden, preislieder und geschichten ihrerseits tragen zur stärkung des gemeinschaftsbewusstseins bei.

das führt zur zentrale these der ethnohistorie: geschichte entsteht nicht mit ihrer verschriftlichung; sie setzt mit jeder ethnischer differenzierung ein. denn sie soll die unterschiedlichkeit der lebensformen erklären, die man in verschiedenen räumen, aber auch zu verschiedenen zeiten vorfindet. dabei neigen kulturen, die sich selber für besser halten, dazu, mit geschichte die bestehenden, ungleichen verhältnisse zu legitimieren.

die autoren gehen in der kritik an herodot noch weiter. er habe gar nichts neues erfunden. er habe nur die damaligen akzente des umfassenderen geschichtsbewusstsein verschoben. ihn faszinierten sagen, weil sie von sterblichen handelten; doch erklärten sie den gang der dinge nach dem persischen krieg nicht mehr. deshalb habe er sich der jüngeren und jüngsten vergangenheit zugewandt, die sich durch vertrauenswürdige gewährleute, durch augenzeugen und vom hörensagen bestätigen liess. denn sie galten als die verlässlichsten quellen, die einem die aktuelle veränderung erschliessen können. sie festzuhalten, war sein ziel, um athens gewachsene grösse zu zeigen und zu sichern. herodot sah seine stadt als d i e hochkultur seiner zeit; doch sie stand nicht unbestritten, nicht alleine da. sie musste sich gegen persien und sparta verteidigen, und genau deshalb habe herodot so geschichte als eindringliche warnung, als neue sage erzählt und geschrieben.

merkverfahren der ueberlieferung

selbst wenn man die kulturellen implikationen herodots geschichtsschreibung heute hinterfragen kann, eröffnen sich einem mit seinen quellen die merkverfahren der nicht-geschrieben geschichte. ss zeigt sich einem der weg, den die literale geschichte zurückgelegt hat, als sie die orale und gegenständliche tradierung überwand. zu den gängigsten verfahren der überlieferung zählten:

. merkörter: orte mit namen und wege dazwischen, die einen folgezusammenhang zwischen den lokalen geschehnissen herstellten,

. merksachen: objekte aus beuten (insbesondere waffen) oder sonstigem erinnerungswert (grabsteine und menhire, reliquien und sakralobjekte, die vererbt wurden und in geheimbünden zum sprechen gebracht werden konnten

. merkhölzer und merkschnüre, die das zählen auf einer reise oder bei tauschgeschäften erleichterten, oder an vereinbarte treffen erinnerten

. merkmotive, die durch reim, versform, sprechgesang oder als lieder vorgetragen wurden, wobei melodien und rhythmen für ganze geschichten stehen

. merkbilder wie darstellungen der urzeitwesen und porträts grosser ahnen in den versammlungshäusern.

der nutzen für die vergangenheit und die gegenwart


spannend ist dieses geschichtsbuch, weil es die kulturellen leistungen der griechischen geschichtsschreibung und der historiographie, die sich darauf bezieht, nicht leugnet. doch es historisiert sie, lässt sie selber zu geschichte werden, um eines zu verstehen: geschichte wurde nicht erfunden, vielmehr hat sie selber geschichtliche ursprünge. diese erkennt die literatur seit herodot nicht, weil sie in ihrer eigenen kulturellen tradition gefangen ist. diese zu überwinden, gelingt jedoch der ethnologie. denn sie macht klar, dass überlieferung nicht literal, sondern oral entsteht. und orale traditonen der ueberlieferungen entstehend aus symbolen, zeichen, die der mensch mit objekten, tönen, bildern und wörtern ganz bewusst setzt, um das erinnern zu erleichtern, selbst wenn man örtlich oder zeitlich vom geschehen entfernt ist.

nun zeigt die ethnologische erkundung in der gegenwärtigen welt, dass dieser übergang auch heute noch stattfindet. deshalb lassen sich in gegenwart wie in der vergangenheit die traditionellen formen der tradierung und ihre techniken der memorierung studieren. sie sind heute genauso so, wie sie es früher waren, vordergründung individuelle leistungen, in denen sich jedoch kollektives erinnern äussert. das ist die aufgabe der historikerInnen nicht erst sein herodot, sondern auch ihrer kulturell älteren vorfahren.

an diesem dedankengang der ethnohistorie fasziniert mich weniger das tor zu den ganze alten kulturen. vielmehr spricht mich an, dass sich damit auch türen für die alltagsgeschichte öffnen, die bei weitem nicht immer verschriftlicht ist. dazu meine vorläufigen anregungen.

nicht-schriftliche formen der alltagsgeschichte wieder erkennen

erstens, wer erinnert sich nicht schon daran, vor bilderfolgen mit zeitlichem sinn gestanden zu sein? Ist nicht der heutige film das adäquate medium der alltagsgeschichte?

zweitens, wer erinnert sich nicht an kinderreime, schulgedichte, weihnachtslieder und demo-skandierungen? bedient sich nicht die werbung heute massiv der merkmotive mittels slogans und musak?

drittens, wer hat nicht selber schon einen knopf ins taschentuch gemacht (also sie noch nicht aus papier waren!), oder mit dem sackmesser kerbhölzer geritzt, und weiss heute noch, was er oder sie damit memorieren wollte? ist nicht das armband der kinder die heutige form, ferienerinnerungen aufzubewahren?

viertens, wer war noch nie in einer kunstwarenhandlung, wo man exotische teppiche und skulpturen ausgestellt hat? ist nicht die schatulle, in der man erbstücke aufbewahrt, die geheime form des familienzusammenhalts?

und fünftens, wer war noch nie auf einem vita-parcours, bei dem man erinnert wird, welche vergessen gegangenen Bewegungen für einen gesunden Körper nötig sind? ja, damit bin ich bei meiner pointe: ist nicht die stadtwanderung die heute adäquate form der nicht-schriftlichen vermittlung von stadt- und landesgeschichte, von raum- und kulturgeschichte?

mehr über filme, werbung, armbänder, schatullen als kulturelle ueberlieferungstechniken, wenn ich wieder stadtwandern kann!

stadtwanderer

jan assmann im perlentaucher.de

klaus e. müller im perlentaucher.de

insel erobert, welt in sicht

so ist das heute: da erhält man in den schweden ferien eine postkarte, wird zum weekend nach arboga eingeladen und erhält dort ein taufrisches buch zur schweiz übereicht: „Guidebook to Direct Democracy. In Switzerland and beyond“, herausgegeben von Initiative&Referendum Institute Europe habe ich geschenkt erhalten und eine kleine wanderung mit dem herausgeber gemacht; – der report!


wie alles begann: eine postkarte in unserem briefkasten
(foto: stadtwanderer)

Mr. President and beyond …

bruno kaufmann ist schweizer und stammt aus dem luzernischen. 1989 war er aktivist bei der versuchten abschaffung der armee. trotz der niederlage, die er und seine getreuen damals einfingen, ist er ein dezidierter befürworter der direkten demokratie (das BK mit zwei grossen DDs schreibt) geworden. aus prinzip, wie er sagt, nicht aus vorteil. anders als ein französischer europaparlamentarier, der ihn gerade wegen einer eu-initiative angerufen hat. weil bruno die initiative positiv dokumentiert hat, sie aber quer in der politischen landschaft frankreichs steht, hat ihm der französische politiker präventiv die unterstützung gekündigt.


bruno kaufmann, president iri-euorpe

ihm, das ist das IRI, das Initiative&Referendum Institute, ein think thank für direkte demokratie, dessen europäischer präsident bruno seit 2001 ist. angefangen hat es noch ziemlich abenteuerlich: bruno hat, wie er über sich selber schreibt, an der University of Gothenburg einen master in sozialwissenschaften erworben. seither ist er berichterstatter über den europäischen norden für die „Zeit“ und den „Tagi“ gewesen; gegenwärtig arbeitet er für radio DRS in gleicher sache. nächstes jahr soll die karriere des 40jährigen den vorläufigen höhepunkt erreichen, ist bruno kaufmann doch der wegbereiter der 1. weltkonferenz für direkte demokratie, die auf seine veranlassung hin im heimischen luzern stattfinden wird.

representative democracy and beyond …

arboga, wohin bruno kaufmann uns einlud, hat mir natürlich gefallen: mittelalterlich, mit kopfsteinpflaster und historisch bedeutsam. 1435 tagte hier der erste schwedische reichstag, der vorläufer des heutigen parlamentes. volksheld eckebrecht mobilisierte damals gegen den dänisch-schwedischen könig, der die in schweden ungeliebte kalmarer-union repräsentierte, und er versammelte seine getreuen oppositionellen in der schwedischen kleinstadt. gerne wird er mit der armbrust abgebildet, – und gleicht so, wenigstens für schweizer, ein wenig willi tell. den verhassten könig konnte eckebrecht jedoch nicht stürzten; das gelang erst drei generationen später gustav wasa, der dann das moderne schwedische königreich – nationalstaatlich, lutheranisch und militärische expansiv – begründete. davon profitierte 1648 auch die schweiz, denn schweden war neben frankreich die zweite garantiemacht bei der unabhängigkeit des landes vom heiligen römischen reich deutscher nation, zu dem es damals formell noch gehörte. von da entwickelte sich schweden – ganz anders als die schweiz – zur parlamentarischen monarchie, in der die sozialdemokraten seit jahrzehnten den ton angeben. vorläufig noch, denkt sich bruno kaufmann insgeheim!


strasse von arboga, an welcher sich 1435 der erste schwedische reichtstag traf
(foto: stadtwanderer)

einige kilometer ausserhalb von arboga hat der schweizerisch-schwedische doppelbürger bruno mit seiner frau elisabeth, mit seinen töchtern wanja und nina und den beiden meerschweinchen mümla und semla ein kleines ferienhaus. da leben sie, weg vom neuheimischen falun, wie wir, seine 300 kilometer entfernten „nachbarn“, mitten im wald. aber mit internet: „studio Arboga“ nennt bruno kaufmann das, denn gelegentlich spricht er direkt aus der pampa, wenn man ihn in der schweiz hört. in die 8 kilometer entfernte stadt einkaufen gehen die grünen kaufleute nur mit dem fahrrad. ein auto haben sie nicht. und schliesslich ist der politologe ein grossen anhänger des road pricings in stockholm, über das am 17. september 2006, gleichzeitig mit den schwedischen parlamentswahlen, in einer volksabstimmung entschieden wird.

und das ist auch sein thema: den weltweiten export der einzigen schweizerischen politischen erfindung zu fördern. vielleicht wird bruno kaufmann einmal als henry dunant der direkten demokratie weltweit bekannt sein. dafür fliegt er jetzt schon mitten in den sommerferien nach japan, jettet er an einem wochenende von bern, wo er an meiner stadtwanderung teilnimmt, nach stockholm, wo er seine weltkonferenz für DD vorbereitet, und geht dann mit dem flugzeug wieder nach zürich, wo er eine ungarische oder bulgarische oder spanische oder deutsche oder französische oder polnische oder russische studiengruppe durch die schweiz führt.

the big challenge and beyond …

zusammen mit zwei anderen schweizerInnen, dem politologen rolf büchi, der in helsinki lebt und arbeitet, und mit der juristin nadja braun, die in der berner bundeskanzlei für volksrechte zuständig ist (und da natürlich auch viel arbeitet!), hat er vor zwei wochen das genannte buch als 2007er edition des „IRI Guidebooks“ herausgegeben. es stellt analysen und meinungen zur direkten demokratie vor, und es stellt essays zur direktdemokratischen schweiz schweiz resp. fakten zur noch nicht direktdemokratischen welt zusammen.


(foto: stadtwanderer)

es ist nicht für schweizerInnen gedacht, sondern für freunde der direkten demokratie in der ganzen welt. deshalb ist es von a bis z auf englisch erschienen, hat es ein prominentes vorwort, von der aussenministerin micheline calmy-rey, und wurde es von präsenz schweiz unterstützt. roger de weck, kaufmanns ehemaliger chef bei der „Zeit“ und beim „Tagi“ schreibt über das buch in leichter abwandlung von churchills spruch: „Direkte Demokratie ist die schlechteste Form der Demokratie – ausser aller anderen.“ und brian breedham vom economist lobt gleich weiter: „das ist das klarste und überzeugendste buch, das ich je über direkte demokratie gelesen habe.“

direct democracy in switzerland and beyond …

die herausgeberInnen sehen sich in einem grossen trend: direkte demokratie, in den liberalen kantonen der schweiz des 19. jahrhunderts soeben 175 jahre alt geworden, ist die adäquate antwort auf die kommende weiterentwicklung der demokratie. heute lebt die mehrheit der menschen unter mehr oder minder demokratischen verhältnissen, doch genügend freie wahlen für das parlament und verfassungsmässig garantierte menschen- und frundrechte nicht mehr. gefordert wird die demokratisierung der demokratie! die bürgerInnen-mitsprache muss bei sachfragen ausgebaut werden; abgehobene politische behörden müssen zurück verortet werden, und der bevölkerungswille muss in der politischen planung und in der willensbildung von regierung und parlament besser verankert werden.

gleich weltweit wollen die autorInnen das system der schweizerischen demokratie nicht einführen; dafür sind sie realistisch genug. das parlamentarische politische system durch volksabstimmungen auf stadt- und länderebene erweitern jedoch schon, dafür sind sie hartnäckig genug.

deshalb haben sie 12, leider nicht gezeichnete essays verfasst oder verfassen lassen. am anfang steht astrid r., die nicht in altdorf, sondern in zürich lebt. auch in der grössten schweizer stadt regiert die direkte demokratie; 2003 hat sie als stadtzürcherin an sechs wahlgängen und 30 referenden teilgenommen. sie ist modern, zu modern für zürich, und sie unterliegt deshalb in der mehrzahl der fälle bei sachabstimmungen. aber sie ist stolz, einen persönlichen beitrag zur politische verantwortung für ihr land beitragen zu können. dann geht nach den prinzipien von IRI rasant durch das politische system der schweiz:

. wie das volk dank direkter demokratie gas geben kann, wird beschrieben.
. wie die demokratische revolution mitten in europa entstand, wird berichtet.
. wie die direkte demokratie aus bürgerInnen glücklichere menschen macht, bekommt man zu lesen.

überhaupt: direkte demokratie wird am beispiel des kantons juras als zeitgemässe und friedliche form der geburt von gliedstaaten empfohlen, und als sinnvolle regierungsweise in ihnen und ihren kommunen dazu. dann kontern die herausgeberInnen knallhart den härtesten vorwurf an die schweiz im ausland: dass die bürgerInnen überfordert seien, wenn sie mehr als zwischen zwei parteien auszuwählen hätten.

doch auch damit nicht genug: abschliessend wird auch gezeigt, wie das design von institutionen die qualität von demokratie beeinflusst und wie der verbesserungsdiskurs in der schweiz geführt wird. das alles mündet ins schlusskapitel: „Utopia becomes reality“. hier werden die ansätze der direkten demokratie von norwegen bis taiwan präsentiert, um schliesslich bei den europäischen verfassungsabstimmungen zu landen. falsches design, entsprechender misserfolg!, könnte man nach der lektüre des bandes zur direkten demokratie hierzu sagen.

guidebock and beyond …

die kapitel sind kompetent, kritisch und kurz. von lehrerhaften ausführungen resp. fussnoten-exkursen sind sie gottseidank ganz befreit worden. wer das buch mehr als lexikon nutzen will, schlägt hinten nach: bei der ausführlichen literaturliste, bei den factsheets, bei den statistiken über die volksabstimmungen in der schweiz und 32 weiteren europäischen staaten. und wer in der schweiz einmal einen vortrag an einer ausländischen botschaft machen sollte, bekommt das beste glossar aller begriffe geboten, die von der direkten demokratie handeln, freihaus geliefert: in fachlich korrektem und stilistisch perfektem englisch, für das der übersetzer und korrektor paul carline von der manchester university gesorgt hat. momentan sucht man noch sponsoren für buchübersetzungen ins französische, ins deutsche und ins spanische. eine arabische version ist schon unterwegs!


traditionelle form der direkten demokratie: landsgemeinde im rahmen der versammlungsdemokratie

es wäre zu wünschen, dass aus dem guidebook ein regelmässig erscheindes jahrbuch würde. trotz den 333 eng bedruckten seiten ist vieles, was nötig ist oder in diskussion steht, nicht gesagt resp. geschrieben worden. es fehlt immer noch an aussagekräftigen bildern über die modernen formeb der direkten demokratie in der schweiz. die ersten anfänge im buch wirken noch etwas zaghaft. und es darf nicht übersehen werden, dass seit einigen jahren die mehrheit der volksabstimmungen nicht mehr in der schweiz, sondern darüber hinaus stattfindet.

„Switzerland and beyond“ ist nicht nur ein schöner untertitel für ein buch. es ist eine harte realität der politischen entwicklung heute. diese mit und aus dem schweizerischen hintergrund zu verfolgen und einen beitrag zur demokratiepraxis weltweit zu leisten, ist wohl eher eine dauerbeschäftigung als eine von bucheditorInnen im frühling 2006.


moderne form der direkten demokratie: einwohnerInnen-votum im rahmen der abstimmungsdemokratie

besonders wertvoll fand ich beim lesen „factsheet 3“, wo über die unterschiede der vor- und der modernen demokratie berichtet wird. da geht es auch den schweizerInnen ans eingemachte: propagiert wird die individualistische demokratie, die alles andere als die landsgemeinde oder gemeindeversammlung ist. sie ist kein gegenkonzept mehr zur aristokratischen regierungsweise; vielmehr ist sie die alternative zur repräsentativen demokratie. begründet wird sie ganz im naturrecht, und die prinzipien der direkten demokratie sollen nicht für die ingroups einer nation, sondern für alle menschen eines raumes gelten. partizipationsausbau rund herum, als bester schutz gegen politische korruption, die mit ämter- und stimmenjagd der parteien, wird hier empfohlen. “das alles ist auf unserem mist gewachsen”, sagt kaufmann.

ein ander mal würde ich gerne mehr und ausführlicher darüber lesen. und ich würde gerne mehr nicht-schweizerische autorInnen zur direkten demokratie schreiben lassen. dafür könnte man die eine oder andere dokumentation getrost ins internet stellen. ich glaube nicht, dass jemand die vollständige liste der eidgenössischen volksabstimmungen von 1848 bis heute auf englisch lesen wird; ich bin aber sicher, dass man über die thematischen anknüpfungspunkte und ergebnisse staunt, wenn man im www über die schweiz recherchiert.

beyond the first island …

ein paar schritte wandern wir noch gemeinsam, bruno und ich. diesmal nicht in bern, sondern an den arboga-fluss. das politisieren lassen wir. aber bruno erzählt von seinen nachbarn im wald: der eine pensioniert, lebt mit seiner frau das ganze jahr abseits, – „hejhej“, denn sie strecken gleich die köpfe raus, als wir kommen. der andere ist lutheranischer bischof, vormals arbeiterpfarrer in arboga, – und schliesslich sind wir doch noch bei den politikerInnen angelandet. die sind jedoch nicht zuhause; sie ist parlamentarierin für die sozis in stockholm; er war berater von anna lind, bevor sie ermordet wurde. er wird nun staatssekretär im aussenministerium, deshalb zügeln sie gerade. “vielleicht”, orakelt der in schweden oppositionelle kaufmann, “wird das nur ein kurzes gastspiel; gut ist es nicht, wenn eine partei so lange alleine regiert.” schön grün, ist es in ihrem garten jedenfalls schon!

nach arboga eingeladen hat uns bruno mit einer für ihn typischen postkarte. sie zeigt in einem der vielen schwedischen seen eine klitzekleine insel, – mit einem haus oben drauf, das genauso gross wie die insel ist. der erste stock ist erheblich, der aufbau darauf gering, das dach ist schon fast flach. vielleicht war das als symbol für die schweiz gemeint: flächendeckende direkte demokratie, welche den unterbau der politik stärkt und die spitzen schwächt. noch ist die insel durch wasser vom umliegenden land mit viel wald abgetrennt.

ebenso symbolisch könnte man bruno erwidern: am liebsten würdest du einen grossen brand auslösen, in den vielen wäldern schwedens und der welt. dort, wo wir unsere ferien verbringen, hat es in diesem trockenen sommer schon mal so viele waldbrände wie seit 15 Jahren nicht mehr gegeben. eben: man ist weltweit in brunos trends!


foto: iri-euorpe

und im herbst sind wahlen in schweden, verbunden mit volksabstimmungen wie dem road pricing in stockholm. eckebrechts nachfolger in den schwedischen städten mobilisieren schon, weniger laut, aber vielleicht erfolgreicher als der unglückliche held von 1435. ueber das ergebnis der wahl und der abstimmung wird der journalist kaufmann sicher mit ebenso grossem engagement in der schweiz berichten, wir er die direkte demokratie in schweden und anderswo vorstellt: „präsente Schweiz, präsente Welt“, ist das motto des weltenbummlers, lokalaktivisten, familienmanns und meerschweinchenhüters.

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